Walter Tydecks

 

Steresis - eine Lehre des Fehlenden und Neinsagens

Die Lehre vom Fehlenden (steresis, privatio, Formmangel, Beraubung) verstehe ich als das Herzstück der aristotelischen Physik. Wenn etwas fehlt, wird in der Natur eine Lösung gesucht. Diese Erfahrung gilt für alle Lebensbereiche: Wer in seinem Alltag etwas schmerzlich vermisst, wird "draußen in der Natur" Erholung und Ausgleich suchen. Wenn in einer Situation etwas unklar ist, wird versucht, "der Natur" der Sache nachzugehen und von dort ein Verständnis zu gewinnen. Die Natur verspricht Antwort und gibt Kraft angesichts des Fehlenden. Hier ein zugrundeliegendes Prinzip der Physik zu erkennen, das ist das Neue bei Aristoteles. Zugleich folgt er an dieser entscheidenden Stelle dem älteren Naturphilosophen Heraklit: "Die Natur liebt es sich zu verstecken" (phusis kruptesthai philei, Fragment 123, siehe auch den Hinweis bei Heidegger, "Wegmarken", S. 300f). Das Fehlende ist nicht einfach Mangel oder Unkenntnis, sondern auch Schutz. Das gilt es zu wahren und vorsichtig zur Sprache bringen.

Fast könnte es scheinen, als habe Aristoteles seinerseits die Lehre vom Fehlenden gut versteckt. Sie tritt oft hinter den beiden anderen weit offensichtlicheren Prinzipien der Physik zurück, dem Stoff und der Form, wird bisweilen ganz "vergessen". Nur wenn etwas fehlt, gibt es Bewegung. Diese elementare Einsicht bewahrt Aristoteles vor jedem Zweifel, dass das Fehlende ein notwendiges Prinzip der Physik ist. Das gilt auch für die eigenen Lehren. Nie wird es eine "vollständige" Physik oder Philosophie geben, der nichts fehlt und die nicht von Nachfolgern abgelöst wird.

Das ist eine grundsätzlich andere Herangehensweise als die heute übliche Physik. Diese geht daher in der Regel mit ihrer Kritik an Aristoteles an seinem Anliegen vorbei, da sie nicht versteht, dass Aristoteles seine Physik mit Prinzipien (archai) begründet, die weder mit Axiomen noch noch mit überprüfbaren physikalischen Aussagen verwechselt werden dürfen. Das Fehlende lässt sich weder beobachten noch ist es ein Axiom, aus dem etwas abgeleitet werden kann. Vielmehr stellt es alle vermeintlichen Beobachtungs-"Tatsachen" und scheinbar selbstverständlichen Axiome infrage. Wenn etwas fehlt, fehlt in der Regel nicht nur ein sinnlich erfahrbares Ding, das nicht anwesend ist, z.B. ein fehlender Gast oder ein verlorener Gegenstand, sondern es fehlt die Vorstellung, was fehlen könnte oder die Einsicht, dass etwas fehlt. Wenn es zum Beispiel in einer Schattenwelt keine Farben gibt, kämen die Bewohner dieser Welt von sich aus nicht einmal auf die Idee, wonach sie suchen sollten, um Farbe experimentell nachzuweisen.

Wenn ein Fehlen deutlich wird und zum gegenwärtigen Zustand Nein gesagt werden kann, ist der innere Zusammenhang zu finden, der das Anwesende und das Fehlende verbinden und einen Raum öffnen kann, in den hinein die vorhandene Form verwandelt werden kann. Die Fähigkeit, Zusammenhänge dieser Art darzustellen und für sie die geeigneten Räume zu entwerfen, wird die innere Bewegtheit der Mathematik erkennen lassen, die aus Sicht des Wirklichkeitssinns und des Faktenwissens immer rein hypothetisch erscheinen muss, die mathematische Intuition.

Mit diesem Kommentar sollen vor allem 2 Thesen und 3 Folgerungen aus der Physik von Aristoteles herausgelesen werden: (1) Der Begriff der Natur ermöglicht ein Verständnis des Fehlenden, das aller Physik vorausgeht und sie begründen hilft. Das gilt auch gegenüber der heutigen Physik. Wenn ihr heutiger Zustand verneint wird, dann nicht in dem formal-logischen Sinn, dass alles falsch sei, was sie sagt, sondern ihre Aussagen sollen anders gedeutet und dadurch für eine Weiterentwicklung geöffnet werden. (2) Die Natur kann verstehen lassen, aber nicht "sagen", was fehlt. Schon gar nicht hat sie es in ein mathematisches Buch geschrieben, das offen vor uns liegt. Um das Fehlende zum Ausdruck zu bringen ist die menschliche Sprache notwendig. Nur in der Sprache des Menschen lässt sich sagen, was ist und was fehlt. Dafür sind die Kunst der richtigen Darstellung (Kategorienlehre) und der treffenden Verneinung erforderlich. Das führt zu einem anderen Verständnis von Logik und Rhetorik als bei Platon und den Sophisten, und in der Konsequenz auch zu einem anderen Verständnis der Dialektik als bei Hegel. (3) Wenn es einseitig zu einer Überbetonung des Wirklichen und der Bejahung kommt, setzen sich hinterrücks der Nihilismus (Glaube an die Macht des Leeren und des Nichts) und ein Unbehagen an der Wirklichkeit durch. (4) Von hier ausgehend wird im nächsten Kommentar ein anderes Verständnis für die (relative) Freiheit und Autonomie der Mathematik gewonnen werden. Die Frage nach dem Verhältnis von Mathematik und Mythos ist neu zu stellen. (5) Das wird helfen, die Diskussion einer Prinzipienphysik aufzugreifen und zu unterstützen, die an die Stelle einer axiomatischen Physik treten sollte.

Dieser Aristoteles-Kommentar ist eine freie Interpretation und nur eingeschränkt eine Deutung einzelner Zitate. Es gibt zwar Hinweise für diesen Gedanken bei Aristoteles, aber er hat ihn in keiner zusammenhängenden Lehre entwickelt. Ideen für diesen Kommentar sind daher nicht nur aus der Lektüre von Aristoteles entstanden, sondern im Spannungsfeld der Beschäftigung mit drei äußerst unterschiedlichen, teilweise gegensätzlichen Autoren: Martin Heidegger, Klaus Heinrich und Lothar Seidel. (a) Von Heidegger ist vor allem der 1939 entstandene Aufsatz "Vom Wesen und Begriff der physis. Aristoteles, Physik B, 1" zu nennen, in dem Heidegger ausführlich auf den Begriff der Steresis eingeht. Das war der Ausgangspunkt des hier vorgelegten Kommentars. (b) Aber Heidegger bedarf radikaler Infragestellung. Klaus Heinrich hat 1964 mit dem "Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen" eine Antwort auf die philosophischen Fragen gesucht, die sich in Deutschland nach der Erfahrung des Nationalsozialismus und den großen Verdrängungen der 1950er stellten. Das gilt nicht zuletzt für Heidegger, der auch nicht im Ansatz zu einer Selbstkritik, also zu einem Neinsagen gegenüber den eigenen Verfehlungen fähig oder willens war. Der Begriff der Verneinung verschwand in den nachfolgenden Werken wieder, insbesondere den inhaltlich anknüpfenden Nietzsche-Vorlesungen. Heinrich suchte nach Erklärungen dafür, bezieht sich allerdings kaum auf Aristoteles oder die Physik. (c) Die stehen stattdessen im Zentrum der 2005 im Eigenverlag erschienenen umfangreichen "Kritik der Physik des Aristoteles" von Lothar Seidel. Seidel wählt eine erfrischend offene und direkte Herangehensweise an Aristoteles. Nur der bisweilen schnoddrige Stil ist unangemessen und seinerseits Ausdruck der niedergedrückten und polarisierten Situation, in die die Philosophie in Deutschland im 20. Jahrhundert geraten ist. Auch wenn ich seiner Grundrichtung nicht zustimme, ist dies für mich der anregendste aktuelle Text zur Physik des Aristoteles.

Natur und Verlaufsform der Bewegung

Als erstes gilt es die schroffe Gegenüberstellung von aristotelischer und neuzeitlicher Physik aufzulösen. Beide verstehen unter Natur etwas anderes, und mit dem Begriff des Fehlens kann die neuzeitliche Physik nichts anfangen. Sie kennt nur das Leere (Vakuum), das wiederum von Aristoteles abgelehnt wird. Auf der einen Seite sucht Aristoteles nach den allgemeinsten Prinzipien (archai) der Physik, aus denen sich ihre grundlegenden Begriffe erklären lassen (Bewegung, Raum, Zeit), auf der anderen Seite sucht die moderne Physik nach einer geeigneten mathematischen Darstellung (schema) der Verlaufsformen von Bewegungen. Naturgesetze sind Differentialgleichungen und ihre Lösungen. Wenn die Physik nach qualitativen Eigenschaften von Naturgesetzen fragt, meint sie damit mathematische Eigenschaften des Raums, in dem die Differentialgleichungen dargestellt werden. Das können zum Beispiel die unterschiedlichen Typen von Singularitäten sein (Katastrophentheorie), die symplektische Form in einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit (Verallgemeinerung der Energieerhaltung), Zusammenhänge in Faserbündeln, Raumzeitschaum in Prägeometrien (J.A. Wheeler) oder die Wege ineinander übergehender Dreiergeometrien in einem Superraum (vgl. Eisenhardt).

Gibt es einen Weg von den aristotelischen Prinzipien der Physik zu den Differentialgleichungen der mathematischen Physik? Folgende Thesen dienen der Orientierung: (a) Stoff, Form und Fehlen sind für Aristoteles die Prinzipien der Physik. (b) Die Mathematik betrachtet die Form unabhängig vom Stoff. Wenn die Form vom Stoff getrennt wird, spricht Aristoteles vom Schema. Die entscheidende Frage wird sein, wie die Unabhängigkeit hergestellt werden kann ohne den inneren Zusammenhang von Form und Schema zu verlieren. Das Gemeinsame von Form und Schema ist die Größe. (c) Wenn nach der Natur der Bewegung gefragt wird, sind der Stoff der Bewegung, die Bewegungsformen und das, was in der jeweiligen Bewegungsform noch an der Natur der Bewegung fehlt, zu unterscheiden. (d) Wird die Bewegungsform vom Stoff der Bewegung getrennt, führt das zum Schema der Bewegung, den differentialgeometrischen Figuren der Bewegung. Der Verlauf ist die Größe der Bewegung und vermittelt zwischen Bewegungsform und Bewegungsschema (der mathematischen Figur der Bewegung, die vereinfachend "Verlaufsform" genannt wird). In der Sprache der heutigen Physik sind die Naturgesetze die Verlaufsformen der Bewegung. Die Naturkonstanten zeigen sich als die "wahre", das heißt natürliche Größe der Bewegung. (e) Wenn eine Bewegungsform nicht der Natur der Bewegung gerecht wird, kann die Bewegungsform sich in eine andere Bewegungsform verwandeln. Diese Verwandlung von einer Bewegungsform in eine andere ist eine höhere Bewegung. Deren mathematisches Schema ist der Differentialkalkül.

(a) Aristoteles bestimmt den Begriff der Natur, indem er ihn von der Technik (techne, Kunst, Kunstfertigkeit) unterscheidet.

"Unter den vorhandenen (Dingen) sind die einen von Natur aus, die anderen sind auf Grund anderer Ursachen da. ... Von diesen (den natürlichen) hat nämlich ein jedes in sich selbst einen Anfang von Veränderung und Bestand. ... Hingegen (hat) ein kunstmäßig hergestelltes Ding keinerlei innewohnenden Drang zu Veränderung." (Phys., B1, 192b)

Das scheint in einen Zirkel zu geraten: Natur ist das, was sich aus sich selbst heraus bewegt und dadurch zu seiner Natur findet. In der Natur muss schon keimhaft angelegt sein, was sie noch nicht ist, aber entsprechend ihrer Natur werden kann. Aristoteles ging von einer zyklischen (kreisförmigen) Bewegung des Werdens und Vergehens aus, in der sich die Natur entfaltet und durch die Zeugung neuer Generationen erhält. - Mit "anderen Ursachen" meint er nicht nur die technische, kunstfertige Herstellung von Werken, sondern auch Bewegungen, die durch Schicksal (Fügung), durch Zufall oder als Nebenwirkung anderer Bewegungen ausgelöst werden. Ihnen allen stellte er die physis gegenüber.

Lothar Seidel vertritt ohne herumzureden den Gegenstandpunkt der modernen Wissenschaft:

"Die Unterscheidung zwischen Kunst (techne) und Natur wollen wir so nicht nachvollziehen, weil die Bewegungsursachen der künstlichen oder auch der künstlerischen Dinge zwar vielfach zusammengesetzter sind als die Bewegungsursachen der Naturgegenstände. Letztlich finden jedoch beide Bewegungen in ein und derselben Natur statt, und beide müssen sich deren Gesetzen beugen." (Seidel, S. 56)

Er argumentiert mit den gemeinsamen Gesetzen, denen die Bewegung der Natur und der Technik folgen müssen. Die gelten im Grunde auch für alle anderen Bewegungsarten (Schicksal, Zufall, Nebenwirkung). Denn ganz gleich, ob im Herbst gemäß der natürlichen Jahreszeiten Blätter welken und vom Baum fallen, in einer technisch konstruierten Turbine Wasser auf ein Rad fällt und es dadurch zum Drehen bringt, ob erzwungen durch göttliches Schicksal der Felsen des Sisyphos immer wieder den Berg hinunterrollt, oder ob etwas zufällig vom Dach herunterfällt, immer folgt die Bewegung den gleichen Fallgesetzen und Gesetzen der schiefen Ebene. Doch Aristoteles beginnt nicht mit der Frage, wie die Phänomene, die sich zum Beispiel am Hebelarm oder im freien Fall zeigen, mathematisch beschrieben werden können, sondern er fragt, wie es zu einer Bewegung kommt.

Besonders anschaulich ist das von ihm oft gebrauchte Beispiel des Holzes. Es entspricht der Natur des Keimlings, aus dem Boden zu wachsen und zu einem Baum zu werden. Der Baum wird Früchte tragen und schließlich sterben und sich wieder in Erde verwandeln. Jede einzelne Bewegung, etwa der Sturz eines abgestorbenen Astes, folgt isoliert für sich den gleichen Abläufen, wie wenn z.B. ein Mensch den Baum fällt, um daraus Holz zu gewinnen. Aber nur beim biologischen Lebenszyklus kann von Fehlen gesprochen werden: Solange der Baum noch keine Früchte tragen kann, fehlt ihm etwas, und ebenso fehlt etwas, wenn er überreif geworden ist, solange er nicht wieder zu Erde wird und ein neuer Baum daraus entstehen kann. Wenn dagegen ein Holzstuhl morsch wird, kann der Mensch das mit seiner Arbeit zwar eine Weile aufhalten und den Stuhl reparieren, aber letztlich nur verzögern. Der Stuhl hat keine innere, natürliche Tendenz, sich zu einem neuen Stuhl zu verjüngen, sondern er wandelt sich wie ein abgestorbener Baum schließlich um in Zerfallsstoffe (Kompost), aus denen kein Stuhl entsteht, sondern Erde, in der ein neuer Baum wachsen kann.

Nicht ohne Grund wählt Aristoteles daher das Holzgewächs - hyle - als Metapher für das erste Prinzip der Physik. Die deutsche Übersetzung "Stoff" ist dagegen missverständlich. Auch Stoff ist eine Metapher und wird vielfältig gebraucht - Sauerstoff, Stickstoff, Rohstoff -, aber die wörtliche Bedeutung von Stoff bezeichnet ein technisch hergestelltes Gewebe und kein Naturgewächs. Der Stoff entspricht daher eher dem Stuhl als dem Holz. Wie ein Stuhl verfällt ein Stoff schließlich und es bedarf eines neuen natürlichen Zyklus, bis die Wolle von Schafen oder die von Seidenspinnen gewobenen Fäden zur Herstellung neuer Stoffe genutzt werden können.

Von einem höheren, analogen Gesichtspunkt kann jedoch auch die Holzbearbeitung aus einem Fehlen erklärt werden: Hierfür ist die menschliche Ökonomie im Ganzen zu betrachten, der vom Menschen organisierte Stoffwechsel mit der Natur. Es gehört zur Natur des Menschen, sich technisch seinen Unterhalt zu bauen, und wenn ihm ein Stuhl fehlt, wird er sich einen neuen herstellen.

Entsprechend kann das Prinzip des Fehlens auf alle Bereiche übertragen werden, wenn es nur gelingt, bei jeder Bewegung zu erkennen, welchem natürlichen Zyklus sie angehört. Um ihren Stoffwechsel mit der Natur organisieren zu können, gehört es zur Natur des Menschen, sich in Gemeinschaften zusammenzuschließen, sich über die Sprache zu verständigen und gemeinsam zu arbeiten. Wenn Marx unter diesem Gesichtspunkt gelesen wird, zeigt sich, wie nahe er hier Aristoteles steht.

Für Aristoteles ist das Fehlen ein Bewegungsprinzip. Wenn nichts fehlen würde, gäbe es aus seiner Sicht keine Bewegung. Für ihn ist jede Bewegung eingebettet in einen natürlichen Zyklus. Ganz anders denkt heute die Naturwissenschaft. Selbst wenn nichts fehlen würde, würde die Bewegung von allein weiter laufen, sie würde buchstäblich  leer laufen (Trägheitsprinzip).

(b) Die weiteren Punkte sollen hier nur kurz angesprochen werden, um das Verhältnis zur neuzeitlichen Physik klarer zu machen. Am Anfang stehen bei Aristoteles Stoff, Form und Fehlen als Prinzipien der Physik (Phys. B1). Wenn diese Begriffe entwickelt sind, unterscheidet Aristoteles die Wege der Mathematik und Physik. Die Mathematik verselbständigt (chorizein) die geometrische Form der natürlichen Dinge (ihren Umriß) und betrachtet sie als schema. Aristoteles unterscheidet diesen Begriff sorgfältig von morphe und eidos (Phys. B2).

(c) Die Unterscheidung der Wege der Physik und Mathematik liegt vor der Entwicklung des Bewegungs-Begriffs (Phys. III). Denn in den Bewegungsbegriff fließen (i) aus der Physik das Wechselspiel von Form und Formmangel ein, ohne das es keine Bewegung geben würde (Aristoteles schließt eine leere Bewegung ebenso aus wie einen leeren Raum), wie auch (ii) der Begriff der Größe, der erst dank der Mathematik klar geworden ist (siehe hierzu die aufschlussreiche Studie "Von Eudoxos zu Aristoteles" von Hans-Joachim Waschkies). Nur wenn es Größen gibt, die sich verändern können, ist Bewegung möglich.

Den mathematischen Begriff der Größe entwickelt Aristoteles allerdings in der Physik nicht weiter. Er hat in Phys. B2 lediglich die Grundlage der Mathematik benannt. Daher bleibt bei einer textnahen Lektüre der Physik offen, wie und woher der Begriff der Größe kommt. "Die Größe platzt hier unvermittelt herein und ist sogar die Grundlage alles anderen. ... Alles hängt von der Größe ab" (Seidel, S. 209, 235). Diese Lücke soll im nächsten Kommentar geschlossen werden, in dem nach Diskussion des Fehlens (steresis) die Begriffe Zusammenhang (synecheia), Größe (megethos) und Zwischen (metaxy) genauer analysiert werden sollen.

Wenn die Bewegung beschrieben wird, ist die Frage nach der Natur der Bewegung zu stellen, das heißt nach dem Stoff, den Formen und dem Fehlenden der Bewegung. Dem ist Aristoteles jedoch nicht mehr weiter nachgegangen. Dank der Erkenntnisse der neuzeitlichen Naturwissenschaft können heute jedoch wesentlich klarer verschiedene Bewegungsformen unterschieden werden, z.B. die mechanische, magnetische, elektrische und biologische Bewegungsform, worauf sich Hegel, Schelling und Marx beziehen. Für die Bewegungsformen gelten die gleichen Grundsätze wie für alle Formen. Sie stehen wiederum im Wechsel von Form und Formmangel. Es muss etwas Zugrundeliegenes (hypokeimenon, Subjekt) geben, das die verschiedenen Bewegungsformen annehmen kann. In einer ersten Annäherung kann gesagt werden: Das Zusammenhängende ist der Träger der Bewegung. Jede Bewegungsform stellt den Zusammenhang her. Für die Mechanik ist das die Gravitation, für die Elektrizität die Spannung. Wird nach der Bewegungsform der menschlichen Gesellschaft gefragt, sind das die Produktionsformen, das heißt die Formen, wie der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur organisiert.

Diese Art der Betrachtung ist der modernen Physik natürlich völlig fremd. Sie ist jedoch keimhaft angelegt, wenn Hegel von Sprüngen oder Umschlägen, Schelling von Selbstorganisation, Marx von Revolutionen und die moderne Physik von Symmetriebruch oder Emergenz sprechen. In allen diesen Fällen kann sich eine vorliegende Bewegung nicht entsprechend ihrer Natur frei entfalten und es kommt zu einer höheren Bewegung, durch die die aktuelle Bewegungsform abgeschüttelt und eine neue, noch fehlende Bewegungsform erreicht wird.

Wenn einer Bewegungsform etwas fehlt, zeigt sich das im fehlenden Zusammenhang, den die Bewegung nur noch lückenhaft oder gar nicht mehr herstellen kann. Die Dynamik der physikalischen und mathematischen Maße der Bewegung (Raum, Zeit, Zahl, Dimension) spannt sich an und schlägt schließlich um.

(d) Entsprechend der Unterscheidung von Form und Schema gibt es auch Bewegungsform und Bewegungsschema. Das Bewegungsschema ist die mathematische Verselbständigung der Bewegungsform und wird dargestellt in einen mathematischen Raum aller Bewegungen. So wie die Größen mathematisch als geometrische Figuren mit ihren jeweils spezifischen Größenverhältnissen im mathematischen Raum dargestellt werden (Kreis, Linie, Halbkreis, Dreieck etc., siehe zum besseren Verständnis den Euklid-Kommentar von Proklos), werden die Verlaufsformen der Bewegung in Faserbündeln dargestellt (die mechanischen Bewegungen im Tangentialbündel). Die geometrischen Figuren im euklidischen Raum beschreiben die Größen der Dinge unabhängig vom Stoff. Die Differentialgleichungen können in der Differentialgeometrie als Figuren im Tangential- bzw. Faserbündel verstanden werden. Auch diese Figuren haben wie die geometrischen Figuren innere Symmetrien und Größenverhältnisse (Lie-Algebren). Mit ihnen werden die Bewegungsformen und deren innerer Zusammenhang beschrieben (zum Beispiel mit der Gruppe U(1) die Elektrodynamik, mit SU(3) das Quarkmodell). Alle weiteren qualitativen Theorien der Bewegungen bauen dort auf (geometrische Methoden der Theorie der Differentialgleichungen, zum Beispiel die Überlegungen zum Phänomen der Resonanz bei V.I. Arnold).

Ist das Prinzip des Fehlens auch auf mathematische Räume anwendbar? Kann in ihnen etwas fehlen? Das macht sich dann bemerkbar, wenn die mathematischen Theorien ihre Konsistenz verlieren und entweder überkomplex, unübersichtlich und nicht mehr nachvollziehbar werden, oder ihren inneren Zusammenhalt verlieren, was sich in Axiomensystemen ohne klare innere Ordnung und unlösbaren Hypothesen zeigt, für die selbst die Ansätze möglicher Lösungswege fehlen. Dann kommt es nicht nur im physikalischen Raum zur Resonanzkatastrophe, sondern auch in der mathematischen Theorie, in der Begriffe sich unendlich ineinander spiegeln. Die Mathematik verliert ihren Anker. Das ist in der Mengenlehre mit ihrer ausufernden Axiomatik, in der Kombinatorik der Algebra mit ihren kombinatorischen Explosionen zu sehen und ebenso in der Überlagerung der Riemannschen Flächen und der Auftürmung von Räumen, Funktionsräumen, Räumen von Funktionsräumen, Funktionsräumen von Räumen von Funktionsräumen usf.

(e) Daher ist abschließend nach dem Schema der Sprünge von einer Bewegungsform in eine andere zu fragen, dem mathematischen Differentialkalkül (für Hegel die "Mathematik der Natur", ein Ausdruck, der von Aristoteles kommend umgedeutet, wenn nicht sogar aufgegeben werden muss). Während Aristoteles nur gefragt hat, wie aus der physischen Form das mathematische Schema wird, wird weiter zu fragen sein, ob es auch ein mathematisches Gegenstück des Formmangel (steresis) gibt, wie also das natürliche Wechselspiel von Form und fehlender Form in ein mathematisches Wechselspiel von Schema und fehlendem Schema übergeht. Die Mathematiker stoßen auf diese Frage, wenn sie von den "verschwindenden Größen" im Differentialkalkül oder den sich aller Berechnung entziehenden Singularitäten sprechen (Katastrophen).

Während die moderne Naturwissenschaft nur fragt, welchen Verlauf die Bewegung nimmt, welche geometrische Gestalt sie im Raum aller Bewegungen hat, oder - wenn sich das nicht bestimmen lässt - mit welcher statistischen Wahrscheinlichkeit sie eintritt, sucht Aristoteles nach Begriffen, mit denen die Spannung zwischen dem jetzigen und zukünftigen Zustand erkennbar wird. Er will sie nicht bloß als zwei theoretisch gleichberechtigte Zustände beschreiben mit einer gewissen Übergangswahrscheinlichkeit, sondern er will die innere Beziehung erkennen, die schon vor dem Beginn der Bewegung da ist und wodurch die Bewegung ausgelöst wird. Der Ausgangszustand muss einen Keim enthalten, der zur Bewegung drängt, einen Wachstumskeim (der jedoch nicht auf Biologie eingeschränkt werden darf) (entelecheia), und der zu erreichende Zustand muss sich im Vorfeld und am Beginn der Bewegung als Unruhe bemerkbar machen, dass etwas fehlt (die in der kabirischen Mythologie so genannten Feuergeister, siehe dazu Reinhold, Schelling und ihre literarische Darstellung im "Faust" von Goethe).

Nachdem Aristoteles in Kapitel B 1 physis und techne unterschieden hat, kommt er daher auf die Frage nach dem Fehlen (steresis) zurück.

"Was da natürlich aus etwas erwächst, geht, insoweit es sich natürlich weiterbildet, auf etwas anderes zu. Was nun wird natürlich gebildet? Nicht das 'aus dem', sondern das 'zu dem hin'. Die (erreichte) Form ist also das natürliche Wesen. 'Gestalt' und 'Naturbeschaffenheit' werden in doppelter Bedeutung ausgesagt: auch die fehlende Bestimmung ist in gewissem Sinne Form." (Phys., B1, 193b)

"Gestalt" und "Naturbeschaffenheit" haben eine "doppelte Bedeutung". Natur ist das, was das jetzt und hier Vorfindliche in diesem Moment ist, aber auch das, was es "seiner Natur nach" sein kann, auch wenn es diesen Zustand im Moment nicht erreicht hat. Durch die "Natur" ist ein innerer Zusammenhang gegeben, der beide Seiten, beide Bedeutungen zusammenhält, das Bestehende und das Zukünftige.

Physik als die Lehre von der Natur enthält daher beides: Die Natur so zu beschreiben, wie sie gerade ist, und was sie sein kann. Der älteste bekannte Text, in dem das Wort physis vorkommt, ist Zeile 304 im 10. Gesang der Odyssee, als Hermes Odysseus "die Natur" eines Zauberkrauts, des Moly, zeigt. Hermes erklärt, welche verborgenen Wirkungen in dieser unscheinbaren Wurzel enthalten sind. "Natur von etwas" bedeutet das innere Wesen von etwas, das, wie und wohin es sich entwickeln kann. Und es bedeutet das, was nicht gleich zu sehen ist, was zu erkennen einer göttlichen Eingebung bedarf. Das Wort physis hängt sprachlich zusammen mit "wachsen", "hervorsprießen", "Pflanze", "werden".

"'So-sein, wie es eigentlich ist, indem es immer so wird'. Das ist die Physis, von der Heraklit wußte, dass sie sich verborgen zu halten liebt. Sie zu erkennen und den gewöhnlichen Sterblichen zu zeigen bedarf es eines besonders Wissenden, eines Wissenden, in dem der Grieche einen göttlichen Menschen, ja einen Gott zu verehren sich nicht scheut." (Kerényi, Die Göttin Natur, in: Apollon und Niobe, S. 326)

Jasagen und Neinsagen

Während sich die neuzeitliche Physik Aristoteles gegenüber weit überlegen fühlt, hat Hegel ihn hoch verehrt. Er schließt in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie die Darstellung der aristotelischen Physik mit den euphorischen Worten: "Der Schatz des Aristoteles ist seit Jahrhunderten so gut wie unbekannt." Sein Gesamturteil fällt nicht anders aus: "Aristoteles ist der würdigste unter den Alten, studiert zu werden" (Hegel, Werke 18, S. 197, 246) Um so überraschender, dass Hegel nicht auf das von Aristoteles ausgeführte Wechselspiel von Form und Formmangel, von Jasagen und Neinsagen eingeht. Hätte er nicht hier eine frühe Gestalt seiner Dialektik sehen können? Offenbar spürte er, dass der aristotelische Begriff der steresis sich weit von seinem eigenen Gedanken der Negation unterschied, doch ging er dieser Frage nicht nach und erwähnt nicht einmal diesen Begriff bei Aristoteles.

Aristoteles war sich völlig klar, dass alle seine in der Physik entwickelten Prinzipien und Begriffe keineswegs mit dem Sachverhalt in der Natur verwechselt werden dürfen, den sie beschreiben. Wenn es kein Fehlen geben würde, käme es zu keiner Bewegung, aber den Begriff "Fehlen" (steresis) gibt es nur im Denken und nicht in der Natur. Das scheint banal zu sein, doch wird sich zeigen, dass Aristoteles und Hegel sehr verschiedene Konsequenzen daraus gezogen haben.

steresis hat bei Aristoteles die beiden unterschiedlichen Bedeutungen von Fehlen und Verneinung. Mit Fehlen ist ein objektiver Tatbestand gemeint, die Verneinung ist dagegen ein sprachliches Verhalten. Dank Heidegger ist das wieder klarer geworden. Die Römer übersetzten steresis mit privatio, Heidegger versteht es in deutscher Übersetzung als "Neinsagen" (Heidegger, Wegmarken, S. 295). Es geht um den Unterschied, ob in der Natur etwas fehlt und dadurch eine Bewegung ausgelöst wird, oder ob mit dem Denken ein Fehlen erkannt wird. Mit Fehlen ist hier nicht gemeint, dass zum Beispiel etwas Schwarzes nicht weiß ist (ihm also das Weiße fehlt). Das ist nur eine formale Negation. Sondern mit Fehlen ist gemeint, dass etwas falsch, unreif oder überfällig ist. Aussagen dieser Art enthalten grundsätzlich mehr als ein Urteil der Prädikatenlogik ("S ist P" oder "S ist nicht nicht-P"). Sie enthalten einen Protest und in der Konsequenz einen Aufruf, den Mangel zu überwinden.

In der Metaphysik trifft Aristoteles eine klare Unterscheidung:

"Und zwar sind alle mit dem Begriff verbundenen Vermögen immer zugleich auch Vermögen für das Gegenteil, die aber ohne Begriff je eines nur für Eines; wie etwa das Warme nur Vermögen des Wärmens ist, doch die Heilkunst zugleich Vermögen der Krankheit und Gesundheit. Die Ursache davon aber liegt darin, dass die Wissenschaft Begriff ist; doch derselbe Begriff erklärt die Sache und ihre Privation (steresis)" (Met. IX 2, 1046b) (siehe dazu auch Heideggers Vorlesung von 1931, GA 33)

Wenn ein Arzt einen Kranken behandelt, kann er erkennen, was ihm fehlt. Er kann den aktuellen Zustand beschreiben (Diagnose), die Krankheitsgeschichte verstehen, den möglichen Verlauf der Krankheit voraussagen (Prognose) und eine Therapie vorschlagen. Der Patient kann sich frei entscheiden, ob und wie er den ärztlichen Ratschlag annimmt. Alles bewegt sich im Rahmen des Patientengesprächs. Wenn dagegen ein Organ befallen ist, wird es von sich aus ohne jede sprachliche Reflexion entsprechend den eigenen Selbstheilungskräften danach streben, zu seiner Natur zurückzufinden und das Fehlende wieder zu erlangen. - Aristoteles wählt als Beispiel für ein Vermögen ohne Begriff die Wärme. Wer sich an ein Feuer setzt, läßt sich von ihm wärmen. Dafür ist kein Gespräch wie mit dem Arzt notwendig, sondern die Wärme wird entsprechend der Natur des Feuers übertragen. (Seit dem 19. Jahrhundert ist mit der Entstehung der Thermodynamik erkannt, dass dies Beispiel weit komplexer und schwieriger ist als Aristoteles dachte. Auf den Begriff der Entropie und warum Aristoteles Fragen dieser Art nicht sah wird noch zurückzukommen sein.)

Auf den ersten Blick trifft das genau die Idee der Dialektik von Hegel: Der wissenschaftliche Begriff geht nicht von außen an die Sache heran, sondern begibt sich in ihre innere Bewegtheit hinein zwischen dem, was sie jetzt ist, und dem, woraus sie geworden ist und was sie noch werden kann. Der Begriff beschreibt nicht "tote", fixierte Sachen, wie Hegel gern sagt, sondern er ist dann erfolgreich und zutreffend, wenn er die Dinge in ihrer inneren Krise trifft, aus der heraus sie sich weiter entwickeln. Die Bewegung des Begriffs stimmt mit der inneren Bewegung der Sache überein. Der Begriff erkennt die Dinge, wenn er versteht, wie sie sich aus sich selbst heraus entwickeln, und diese Bewegung mitgeht. Es gibt daher auch keine toten Begriffe, sondern die Begriffe sind ihrerseits bewegt und schlagen in andere Begriffe um so wie die Sachen, die sie beschreiben.

Hegel ergreift daher in seiner Geschichts-Vorlesung Partei für Aristoteles gegenüber Platon.

"Hier unterscheidet sich Aristoteles von Platon und polemisiert aus diesem Grunde gegen Zahl, die Idee und das Allgemeine, weil, wenn dies unbewegt, seiend an und für sich, 'nicht als Tätigkeit, Wirksamkeit bestimmt wird, keine Bewegung ist'" (Hegel, Werke 18, S. 160).

Aber er geht über die Unterscheidung hinweg, die Aristoteles zwischen den Vermögen mit Vernunft und den Vermögen ohne Vernunft trifft. Die Natur verfügt über Vermögen ohne Vernunft. Eine Pflanze vermag aus dem Dunkeln zum Licht zu wachsen. Ein überreifer Baum vermag zu verfaulen und sich in Nährstoffe zurück zu verwandeln. Bewegung in der Natur erklärt sich jeweils aus dem Fehlen, aber die Natur sagt nicht Nein zu dem Zustand, in dem etwas fehlt, sie überschaut nicht die beiden Alternativen, was da ist und was fehlt, sondern sie verändert sich entsprechend ihrer Natur.

Ganz anders die Vernunft. Sie überschaut beides, und sie kann daher Nein sagen zum aktuellen Zustand. Das ist die Bedeutung von steresis, die Heidegger meint. Die Privation, Beraubung ist nicht einfach das Gegenteil, wie Hegel nahelegt, also z.B. die Abstoßung gegenüber der Anziehung, der negative Pol gegenüber dem positiven Pol.

Mit dem Begriff der Negation der Negation nähert sich Hegel noch einen Schritt weiter dem aristotelischen Verständnis der steresis. Wenn etwas in eine innere Entgegensetzung festgefahren und verstockt ist, ist keine Entscheidung für einen der beiden Gegensätze möglich, sondern es muss etwas Neues entstehen, das sowohl beiden einander entgegengesetzten Seiten wie auch der Situation ihres unbeweglichen Gegenüberstehens fehlt und zugleich den jeweils richtigen Aspekt beider konträren Seiten bewahrt (aufhebt). Aber auch hier vermeidet Hegel, von Fehlen oder Neinsagen zu sprechen.

Während Aristoteles einen klaren Unterschied sieht, wie die Natur und wie die Vernunft auf das Fehlen reagieren, will Hegel genau umgekehrt sagen, dass beide im Grunde der gleichen Vernunft folgen, die jedoch erst das Denken auszusprechen vermag. Daher kann Hegel von einer Dialektik sprechen, die sowohl in der Natur wie in der Vernunft liegt. Er geht davon aus, dass sich der Geist in der Natur entäußert und dann durch und mit der Erkenntnis der dialektischen Bewegung in der Natur wieder zu sich selbst findet. Aristoteles lässt dagegen das dialektische Gegenüber von Rede und Gegenrede, von Bejahung und Verneinung nur für die sprachliche (wissenschaftliche, begriffliche) Vernunft gelten und nicht für die Natur.

Hier geht es keineswegs um philosophische Spitzfindigkeiten, die im Ergebnis ohnehin bei beiden auf dasselbe hinauslaufen. Wenn Aristoteles den Unterschied zwischen dem sprachbegabten Vermögen der Vernunft und dem unsprachlichen Vermögen der Natur betont, wird es ihm erst dadurch möglich, das Besondere der Sprachbegabung zu erkennen. Die Sprache folgt eigenen Regeln, die ihr sowohl zur Erkenntnis dienen, sie aber auch in Verwirrung stürzen können. Daraus ergibt sich die große Bedeutung der Rhetorik für Aristoteles, die für Hegel überhaupt keine Rolle zu spielen scheint. Hegel verlässt sich darauf, dass der Gedanke, wenn er treu der inneren Bewegung der Sache folgt, nicht irren und sich nicht vom Weg abbringen lassen kann.

Da Hegel die Negation und die Negation der Negation vom Fehlen und Neinsagen loslöst, treibt ihn das in der Konsequenz in das Gegenteil dessen, was er ursprünglich gewollt hat, zur absoluten Bejahung. Das von ihm geschaffene System dient Schritt für Schritt dem Nachweis, dass die von ihm vorgefundene Wissenschaft und Gesellschaft im Grunde in allem recht haben, wenn es nur gelingt, ihre Begriffe richtig zu verstehen und zu ordnen, bis der eine schlüssig aus dem anderen hervorgeht. Im äußersten Ideal erreicht Hegel die Position des Nous, des absoluten Geistes. Hatten Platon und die Neuplatoniker noch gezögert, der menschlichen Vernunft das Vermögen zuzusprechen, nicht nur die Bilder, sondern sogar die Grundlinien des Geistes zu überschauen, hebt Hegel diese Grenze auf. Er geht mit dem Christentum davon aus, dass Gott dem Menschen die Fähigkeit verliehen hat, als sein Ebenbild die Position des absoluten Geistes einzunehmen. Zuende gedacht ist damit auch das Böse aus der Welt geschafft, für das es im Nous keinen Platz gibt. Neinsagen ist nicht mehr notwendig. (Hegel hätte von seinem Studienfreund Hölderlin lernen können, wie damit unbemerkt das Böse in die absolute Bejahung eindringt. Es tötet den früheren "romantischen" Impuls des Philosophen und macht sich nach außen gegen alle Kritik immun, bis jedes Gespräch erlischt und - sofern die Macht dafür gegeben ist - alle anderen Meinungen zum Verstummen gebracht werden.)

Diese Kritik lässt sich nicht wörtlich mit Zitaten belegen, weil Hegel nicht über das Fehlen und die Verneinung geschrieben hat. Es muss hier als These stehen bleiben und kann helfen im Gegenzug die Position von Aristoteles besser zu verstehen.

Für Aristoteles sind Bejahen und Verneinen gleich wichtig. Wer nicht weiß, was geschieht, und das benennen kann, kann auch dessen Mangel nicht erkennen. Und umgekehrt lässt sich alles Bestehende nur verstehen, wenn es von seiner Natur her gesehen wird, also auch von dem her, was ihm aktuell fehlt. Von der Vernunft wird in gewisser Weise der aktuelle Zustand "bejaht". "Bejaht" nicht im Sinne von "zugestimmt" oder "begrüßt", sondern im Sinne von: "Ja, so ist es". Zugleich wird er "verneint": "Nein, etwas fehlt".

Diese doppelte Haltung gilt selbstbezüglich auch der Vernunft gegenüber. Das Bejahen und Verneinen gehört zu ihrer Natur. Wenn ihr das fehlt, befindet sie sich in einem verkümmerten Zustand. Das gilt auch für Hegel. Ich bin überzeugt, dass alles das, was er geleistet hat, erst dann wahrhaft verstanden wird, wenn zugleich das Fehlen des Neinsagens deutlich erkannt und kritisiert wird. Insofern stand paradoxerweise Heidegger Hegel in vielem näher als zahlreiche "Hegelianer", die daher unfähig blieben, zu Heidegger eine kritische Distanz zu entwickeln und ihn entweder pauschal als Vordenker des Nationalsozialismus ablehnten oder ihm in einer späteren Wende ihres Denkens kritiklos verfielen.

Bejahen und Verneinen können nur dann zur Bewegung führen, wenn sie beide ihre Aussage auf den Punkt bringen. Beides müssen klare Aussagen sein, die zum Handeln befähigen. Und hier kann es wie Schuppen von den Augen fallen, wenn verstanden wird: Bejahen in diesem Sinne ist alles das, was in den Bereich der kategoreia fällt: Die Kategorien sind genau die Gesichtspunkte, unter denen etwas, wie es ist, treffend dargestellt werden kann. Tyische Kategorien: Was ist etwas (Substanz), welche Eigenschaft hat es (Qualität), wie groß ist es (Quantität), wo ist es (Ort). steresis auf der anderen Seite ist nun nicht mehr das bloße Fehlen, die Abwesenheit, sondern wiederum ein klares Neinsagen, das auf den Punkt bringt, was fehlt und worum es geht. Heidegger wies darauf hin: Die Begriffe kategoreia und steresis wurden ursprünglich in Gerichtsverhandlungen gebraucht. kategoreia bedeutet, wenn "einem auf den Kopf zu" gesagt wird, welche Rolle er spielt, was von ihm gedacht wird (Heidegger, Wegmarken, S. 252). Umgekehrt ist Neinsagen vor Gericht der Protest, der das Verschweigen aufdecken soll, wenn vor Gericht keine kategorata zur Sprache kommen. Aristoteles hat sowohl die Kategorienlehre begründet wie auch mit ihrer Hilfe die Physik als Wissenschaft.

Allerdings besteht die Gefahr eines Missverständnisses, da Neinsagen auch formal-logisch als die Umkehrung von logischen Figuren verstanden werden kann. Das hat Aristoteles im Einzelnen in seiner Ersten Analytik ausgeführt. Für jede logische Figur gibt es ein Gegenteil, das inhaltlich identisch ist. Beide Bedeutungen der Verneinung kreuzen sich in einem umständlich formulierten und schwierigen Zitat aus dem V. Buch der Physik, das Seidel zurecht hervorgehoben hat:

"Da aber jede Veränderung aus einem Etwas in ein Etwas vor sich geht, ... so kann das sich Verändernde in vierfacher Weise sich verändern: entweder nämlich aus einem zu Grunde liegenden in ein zu Grunde liegendes, oder aus einem zu Grunde liegenden in ein nicht zu Grunde liegendes, oder nicht aus einem zu Grunde liegenden in ein zu Grunde liegendes, oder nicht aus einem zu Grunde liegenden in ein nicht zu Grunde liegendes; ich meine aber unter dem zu Grunde liegenden (hypokeimenon) das affirmativ ausgedrückte (kataphasis, Bejahung)." (Phys. V 1, 225a, Gohlke). Zekl übersetzt den entscheidenden letzten Satz: "Mit 'zugrundeliegend' meine ich, was durch einen Aussagesatz zum Verständnis gebracht wird." Vgl. Met. XI 11, 1067b

Das ist eine Schlüsselstelle der aristotelischen Philosophie, an der sich Physik und Logik treffen. Auszugehen ist vom letzten Satz: Das Zugrundeliegende kann nur durch Bejahung ausgesagt werden. Darauf beziehen sich die Kategorien. Die erste Kategorie besagt, was etwas ist (Substanz, ousia, an anderen Stellen nennt Aristoteles auch das "es", das tode ti, oder das "etwas", ti esti, als erste Kategorie, siehe dazu die aufschlussreiche Interpretation durch Apelt). Im einfachsten Fall wird ein Eigenname eingesetzt: Das ist Sokrates, das ist ein Haus. Mit den weiteren, den "akzidentellen" Kategorien wird beschrieben, welche Eigenschaften "es" hat (zum Beispiel wie groß es ist, welche Farbe es hat, etc.). Aristoteles will an dieser Stelle unterscheiden, ob sich das Zugrundeliegende in ein anderes Zugrundeliegende verwandelt, oder ob das Zugrundeliegende erhalten bleibt und lediglich bestehende Eigenschaften verändert werden.

Wenn Aristoteles' Unterscheidung von sprachbegabtem Vermögen und nicht-sprachbegabtem Vermögen und die daraus folgende Mehrfachbedeutung von Begriffen wie steresis nicht geteilt wird, dann erscheinen seine Aussagen über den Sprachcharakter (hier das Jasagen und Neinsagen) als Aussagen über die objektive Natur. Seidel hält daher Aristoteles vor:

"Wie!? Wir werden nicht aus Stoff und Form, sondern aus Ja und Nein? Will uns Aristoteles auf den Arm nehmen? ... Die Digitalisierung der Welt, noch dazu eine bloss ideelle Digitalisierung oder die Quantifizierung der Qualität stehen noch nicht auf dem Fahrplan. Weder Hegel noch Zuse haben das Wort, sondern die Welt, wie sie ist und sich bewegt. Und die Welt sagt, ich bewege mich stetig und analog, nicht diskret und digital. Seht zu, wie ihr damit klarkommt! Auf diese Ja-Nein-Bewegung lassen wir uns nicht ein." (Seidel, S. 266f)

Aristoteles hat unterschieden zwischen dem Sprechen über die Natur und den Eigenschaften der Natur. Mal beschreibt er unterschiedliche Weisen und Eigenschaften des Sprechens über Natur, so das Jasagen und Verneinen. Und mal beschreibt er die jeweils dargestellten Eigenschaften der Natur. Seidels Kritik geht daher an Aristoteles vorbei, aber sie kann helfen zu verstehen, worin sich Aristoteles von der späteren Art zu denken unterscheidet.

Die neuzeitliche Naturwissenschaft vollzieht sich ausschließlich im Bereich der kategoreia. Hier ist sie bereit, Aristoteles anzuerkennen und fühlt sich ganz in seiner Tradition, wenn sie die Kategorien näher fasst, möglicherweise auch ergänzt. Und aus ihrer Sicht ist es nur die höchste Konsequenz, wenn schließlich Kant die Kategorien als die Weisen aller Vernunft versteht. Naturwissenschaft setzt sich damit mit Vernunft gleich. Vernünftig ist nur, was positiv nachweisbar ist.

Neinsagen gibt es nicht mehr, sondern alles muss sich den Naturgesetzen beugen. In letzter Konsequenz wird das Denken überflüssig. Wenn die Technik so weit entwickelt ist, dass sie alle Naturgesetze verstanden hat, läuft alles von selbst. "Sachzwänge" treten an die Stelle von Alternativen, die es zu entwerfen und zu bewerten gilt.

Neinsagen ist aber keineswegs die bloß spiegelbildliche Umkehrung des Jasagens. Neinsagen folgt nicht den Kategorien, sondern entwirft in einem offenen Raum unterschiedliche Möglichkeiten, was fehlt und wie es anders sein könnte. Neinsagen kann sich auch verrennen in bodenlose Kritik oder selbstzerstörerische Hysterie oder Depression. Umgekehrt muss Jasagen keineswegs nur als Affirmation, als blinde Zustimmung und Unfähigkeit zum eigenen Denken verstanden werden, sondern kann die wissenschaftliche Leistung sein, das Bestehende richtig zu erkennen. Das ist eine notwendige Voraussetzung für das gelingende Neinsagen.

Mit dem Begriff "Categorizing" wird von der Trauma-Forschung die Fähigkeit genannt, den Strom von Eindrücken im Gedächtnis und für das Bewußtsein zu verarbeiten. Unter traumatischen Bedingungen geht diese Fähigkeit verloren und das Subjekt wird handlungs-, erinnerungs- und kritikunfähig.

Fehlen des Neinsagens (Klaus Heinrich)

Ohne jede Überleitung ist Aristoteles von Fragen der Physik zur Sprache gewechselt. Das kann daran liegen, dass die "Physik" nachträglich von Redaktoren aus verschiedenen Texten und Bruchstücken zusammengestellt wurde und daher Übergänge fehlen. Aber auch an anderer Stelle hat Aristoteles diese Überleitung nicht ausgeführt.

Die Übersetzung und Deutung von steresis als Neinsagen hat erst Heidegger geliefert. Er hat jedoch diese bereits 1939 entstandene Schrift zunächst an fast versteckter Stelle in Italien veröffentlicht ("Il Pensiero", Vol. III, Nr. 2 und Nr. 3 und zwei Jahre später als Sonderdruck, "Testi Filosofici", 1958 und 1960). In Deutschland erschien sie 1967 in der Sammelschrift "Wegmarken". Klaus Heinrich kannte sie daher wahrscheinlich nicht, als er seinen "Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen" schrieb, der 1964 veröffentlicht wurde. Obwohl er damit auch Heidegger meint und ihn stark kritisiert, bezieht er sich nicht auf den Begriff steresis und kaum auf Aristoteles. Stattdessen kritisiert er das von Parmenides propagierte uneingeschränkte Jasagen. Nur der bisweilen gebrauchte Begriff Substanz könnte auch auf Aristoteles deuten. Heinrich geht stattdessen auf die theologische Diskussion zurück, insbesondere auf Schriften von Paul Tillich. Im folgenden sollen seine Gedanken von Aristoteles her diskutiert werden.

Aristoteles denkt sicher zunächst an Beispiele aus der Natur, bei denen auf ein Fehlen ohne ein ausgesprochenes Neinsagen reagiert wird: Wenn der Pflanze Sonne genommen wird, wächst sie dem Licht entgegen ohne vorher zum Schatten Nein zu sagen. Anders stellt es sich für den Menschen dar. Wenn ihm in einer Gemeinschaft etwas fehlt, zum Beispiel gegenseitiges Vertrauen oder ein klarer Siegeswillen, kann er sich nicht einfach das Fehlende holen oder ihm zuwenden, sondern er muss versuchen, durch Neinsagen die Gemeinschaft auf das Fehlen aufmerksam zu machen und zu einer Änderung zu bewegen. Nur das eigene Verhalten zu ändern und auf das gute Beispiel zu vertrauen wird nicht ausreichen. Wenn alle Versuche misslingen, muss er entweder das Fehlen akzeptieren oder die Gemeinschaft verlassen und damit das Fehlen der Gemeinschaft in Kauf nehmen.

Das Neinsagen gehört zur Natur des Menschen. Aristoteles versteht den Menschen als gesellschaftliches Lebewesen (zoon politikon). Er zählt die Familie und den Staat (allerdings auch die Sklaverei und die untergeordnete Stellung der Frau) zur Natur des Menschen. Wenn hier etwas fehlt und sich der Mensch nicht gemäß seiner Natur entwickeln kann, hält Aristoteles ein Neinsagen zweifellos für angemessen. Seine Schriften über die Ethik und die Politik enthalten zahlreiche Kritik an Entwicklungen unter den Menschen, die er für falsch hält. (Ebenso war ihm ganz selbstverständlich, auch auf dem Gebiet der Philosophie und der Wissenschaft nein zu sagen, wenn die von anderen vorgetragene Erkenntnis unvollständig oder verfälschend ist, also etwas fehlt.)

Klaus Heinrich geht jedoch einen Schritt weiter. Er sagt nicht nur Nein zum fehlenden Neinsagen, sondern er will es verstehen. Welches sind die Schwierigkeiten, die es konkret zu überwinden gilt? Und schlimmer noch: Ein fehlendes Neinsagen wendet sich schließlich selbstzerstörerisch gegen sich selbst und macht sich immun gegen jeden Versuch von anderen, das Schweigen zu brechen.

Das Neinsagen kann schwierig sein, wenn nicht etwas Bestimmtes fehlt, das klar benannt werden kann, sondern sich die gesamte Gemeinschaft in einem falschen Zustand befindet. Dann fehlt etwas im Ganzen, das kaum anzusprechen ist. Zwar ist dann auch im Einzelnen alles falsch, aber jede Kritik an etwas Einzelnem trifft und überzeugt nicht. Heinrich wählt die Metapher des Schaums. Schaum ist gestaltlos. Kritik geht meistens gegen Verdinglichung, gegen Götzen, gegen starre Zwänge, also gegen übermächtige Gestalt, und sieht dann nicht die andere Gefahr, die Angst vor der Gestaltlosigkeit.

Das kann zur Sündenbock-Haltung führen: Wenn etwas im Ganzen zerrüttet ist, empfinden zwar alle, dass "etwas" fehlt. Statt jedoch den Zustand der Zerrüttung und seine Ursachen zu kritisieren, wird die Schuld bei einem Einzelnen gesucht, dem vorgeworfen wird, dass ihm etwas fehlt und er daher ausgestoßen werden muss.

Heinrich spricht von der ausgehöhlten Substanz, der fehlenden Identität. Die Substanz ist für Aristoteles die erste Kategorie. Wenn sie fehlt, kann es kein positives Jasagen geben, das sich nur auf eine gefestigte Substanz beziehen kann. Wenn ein Zustand so beschaffen ist, dass es schwierig ist, Nein zu sagen, ist das ein Zeichen, dass es genauso schwierig ist, Ja zu sagen. Wenn niemand Nein sagen kann oder darf, wird auch niemand mit voller Überzeugung Ja sagen können. Stattdessen kommt es zu erstarrten und gebetsmühlenartig wiederholten Bekenntnissen und zugleich zu einer großen inneren Unruhe.

Weder Jasagen noch Neinsagen gelingen. Heinrich spricht von Sprachlosigkeit oder Sprachverlust. Sprachverlust kann jedoch völlig verschieden kritisiert werden. Heidegger wandte sich gegen das überall herrschende Geschwätz, das er als Ausdruck einer liberalen Öffentlichkeit, eines oberflächlichen "Man" verstand, das sich weigerte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ohne Heidegger direkt zu kritisieren sieht Heinrich jedoch eine andere Ursache. Das von Heidegger kritisierte Geschwätz ist für ihn nur ein Symptom: Die Sprache hat die Fähigkeit verloren, etwas zu übersetzen und ihm dadurch die Treue zu halten. Sprachlosigkeit ist nicht einfach Geschwätz, sondern viel direkter kritisiert: Sie entsteht aus Verrat.

Während Heidegger nur unbestimmt über das Geschwätz herzieht, - und damit in gewisser Weise selbst dem Geschwätz verfällt, denn wo wird nicht auf geschwätzige Art über das Geschwätz der jeweils anderen gelästert -, bringt Heinrich es auf den Punkt: Sprachlosigkeit verweigert die Treue, da sie sich weigert, den anderen zu verstehen, bzw. wenn jemand sieht, wie ein anderer nicht verstanden wird, ihn durch eine geeignete Übersetzung den anderen verständlich zu machen.

An dieser entscheidenden Stelle geht Heinrich deutlich über Aristoteles hinaus. Er geht mit seinem Nein gegen das fehlende Neinsagen bis zum Äußersten, was als Kritik möglich ist: Wer die Sprache aufgibt, verrät Gott. Denn Gott hat dem Menschen die Sprache verliehen mit dem Auftrag, sie zu gebrauchen. Wer einen anderen verrät oder sich weigert, die Worte eines anderen geeignet zu übersetzen, der verrät Gott.

Warum belässt es Heinrich nicht dabei zu sagen: Wer sich des Verrats schuldig macht, wird nicht seiner eigenen Natur gerecht und verkümmert?

Weil etwas Schlimmeres geschieht als Verkümmerung: Der Verrat führt auf den Weg der Selbstzerstörung. Jeder Verrat hat seine Ursache darin, dass jemand durch den Verrat Anschluss an eine Gemeinschaft gewinnen oder erhalten will. Mit dem Verrat wird Teilhabe an einer Gemeinschaft gesucht, die von ihren Mitgliedern den Verrat als Teilnahmebedingung fordert.

Eine solche Gemeinschaft ist dem Untergang geweiht. Wer sich ihr dennoch durch Verrat anschließen will, sucht so verzweifelt nach Gemeinschaft und Anschluss, dass er sogar diese Bedingung akzeptiert. Die allgemeine Zerstörung wirkt wie ein Sog. Am Anfang steht das Nicht-Haben. Ich will aber Haben. Das Haben-Wollen weitet sich aus zur Sucht. Es wird maßlos. Es findet keine Grenze. Die Sucht geht von Enttäuschung zu Enttäuschung, auch wenn sie reiches Leben vorspiegelt. Sie sehnt sich nach dem Gehabt-Sein, nach der Hingabe, sie will in den Sog gerissen und vom ihm aufgenommen werden. Sucht täuscht Leben vor und enttäuscht, erst der Sog treibt direkt und offen in den Tod. "Als Freud starb, war niemand in Europa, der nicht erfaßt war vom Sog." (Heinrich, Schwierigkeit nein zu sagen, S. 138)

Es wäre ganz falsch verstanden, hieraus nun den Verrätern ihren Verrat als Schuld vorzuwerfen. Niemand verrät, der nicht selbst einmal verraten wurde oder mindestens eine Situation erlebt hat, in der sich niemand gefunden hat, seine Sätze und Worte so zu übersetzen, dass sie von den anderen verstanden wurden und nicht überhört werden konnten.

Die von Heinrich beschriebene Selbstzerstörung war im antiken Griechenland durchaus bekannt und wurde dort in den Tragödien gestaltet. Ödipus und später seine Tochter Antigone verstricken sich und geraten auf einen Weg der Selbstzerstörung, aus dem sie keinen Ausweg finden. Anders als die spätere christliche Deutung sieht Aristoteles hier jedoch keine religiöse Tragödie von Verrat. Im Gegenteil warnt er vor religiösen Gefühlen, die für ihn die Situation nur noch aussichtsloser machen. Er hat daher die Tragödie ausschließlich als eine Art Medizin akzeptiert, die den Menschen in angemessener Dosierung von der Überwältigung durch religiöse Gefühle heilen sollte. Aristoteles glaubte an keinen Erlöser, sondern an die heilende Wirkung der Natur, die der Mensch jedoch verstehen lernen muss. Er hoffte, dass Tragödien dem Menschen die Augen öffnen und seine sprachbegabte Vernunft wiedergewinnen lassen.

"Beyond the Zero"

Die Schwierigkeiten nein zu sagen entstehen für Heinrich aus der Angst vor der drohenden Gestaltlosigkeit, dem Identitäts-Verlust, Sprach-Verlust oder Sinn-Verlust. Woher kommt die Angst vor der Gestaltlosigkeit, und warum wird nicht umgekehrt die Gestaltlosigkeit als ein notwendiges Durchgangsstadium begrüßt, wenn eine vorhandene Gestalt aufgelöst und im Übergang des Werdens zu etwas Neuem ein Moment der Offenheit und Freiheit durchlaufen wird? Das "Beyond the Zero" ("Jenseits der Null", so der erste Untertitel in Thomas Pynchons "Enden der Parabel", diesem großen Roman über die Ängste des 20. Jahrhunderts und konkret die "Stunde Null" in Deutschland 1945) wird sich als das innere Wesen des Zusammenhangs, der Stetigkeit, des Kontinuum erweisen, das sich systematisch der Vernunft entzieht und daher sowohl als das Haltgebende gesucht wie als die unfassbare Quelle des "radikal Bösen" gefürchtet wird.

Das Gestaltlose ist für Aristoteles der Stoff, das erste der drei Prinzipien der Physik. Die Angst vor der Gestaltlosigkeit kommt aus dem - nicht eingestandenen - Bewußtsein, was dem Stoff durch seine Unterordnung unter die Form angetan wurde.

Simulierter Zerfall des Higgs Boson

Simulierter Zerfall des Higgs Boson ("Gottesteilchen")

Das Higgs Boson ist ein theoretisch postuliertes Teilchen und soll sich unterhalb der Ebene befinden, auf der träge Masse konstituiert wird. Es konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Um so mehr regt es die Phantasie an, Proto-Materie nachweisen zu können, die sich im Vorstadium der Schöpfung befindet. Quelle

Der Stoff (hyle, wörtlich das Holz, Holzgewächs) ist für Aristoteles der erste Grundbegriff der Physik, das ist der Stoff, das Elementare, bevor es irgendeine Form (morphe) angenommen hat. Das Gestaltlose hat viel Gemeinsamkeit mit der chora, dem weiblichen Prinzip in Platons "Timaios", dem geschützten Platz, an dem alles wird, während die väterlich gedachten paradeigma (Paradigmen, Grundlinien) ungefähr den Formen entsprechen. So wie für Platon die paradeigma nur der reinen Vernunft zugänglich sind und sich dem Verstand entziehen, kann auch die chora nur intuitiv, durch Träumereien, oder in einem wenig schmeichelhaften Ausdruck durch eine Art von "Afterdenken" ("Bastardschluss", Tim. 52a-b) erfasst werden.

"Auf ähnliche Weise charakterisiert Aristoteles die Hyle als solche: Sie galt als das Gestaltlose (amorphon, Phys. I 7, 191a8-12), das gänzlich Unbestimmte (aoristos, Phys. IV 2, 209b9, Met. Z 11, 1037a27) und infolgedessen als das an sich Unerkennbare (agnostos kat anten, Phys. III 6, 207a25f, Met. Z 10, 1063a8f), das weder wahrnehmbar (De. gen. et corr., II 5, 232a35) noch begrifflich erfassbar ist, allenfalls der Analogie nach (kat analogian, Phys. I 7, 191a8)." (Fonfara, S. 85)

Für Aristoteles muss es einen Träger geben, aus dem alle Gegensätze, alle Unterscheidungen hervorgehen können. Dieser Träger ist für sich selbst nicht erkennbar. Sowie er erkennbar wird, hat er bereits eine Form angenommen. Der Stoff ist daher der Nacht oder dem Dunkel verwandt, aus dem das Licht und der Tag hervorgehen, dem Chaos bei Hesiod und dem Tohuwabohu der alttestamentarischen Schöpfungsgeschichte.

Was für die Naturphilosophen bestimmte Stoffe wie das Wasser, die Luft oder das Feuer waren, für Empedokles die Elemente, für Demokrit die Atome oder für Parmenides das Eine, das ist für Aristoteles dies alles auf ihr gemeinsames Prinzip zurückführend der Stoff. Bei Aristoteles besteht aber kein Zweifel mehr, dass dieser Stoff nicht etwas Handgreifliches, sinnlich Erfahrbares, Rohstoff oder Element des Denkens ist, sondern eben das Unerkennbare, so wie später das Leere oder Gott beschrieben wurden.

"Auf eine Art also heißt die Natur diesergestalt der erste, allem demjenigen zum Grunde liegende Stoff, was in sich einen Ursprung von Bewegung und Veränderung trägt." (Phys. B1 193a)

In diesem Sinn kann gesagt werden: Die Natur des Menschen sind die Stoffe, aus denen er besteht, Fleisch und Knochen, oder das Holz ist die Natur des Baums. Dennoch versteht jeder, dass das zu kurz gegriffen ist. Fleisch und Knochen sind erst dann ein Mensch, wenn sie eine besondere Gestalt annehmen, die sich von Tieren oder von rohem Fleisch unterscheidet. Daher kann erst dann von Natur gesprochen werden, wenn der Stoff die jeweilige naturgemäße Form angenommen hat und ihm entweder nichts mehr fehlt oder er sich entsprechend seiner Natur auf einem solchen Zustand hinbewegt. Das bezeichnet Aristoteles mit einem neu geprägten Ausdruck als energeia. Heidegger versucht ihn möglichst wörtlich als "Im-Werke-Stehen" (en-ergo-einai) zu übersetzen. Auch die klassische Übersetzung "Wirklichkeit" ist durchaus treffend: Wenn umgangssprachlich gesagt wird, was etwas "in Wirklichkeit" ist, bedeutet das, was es entsprechend seiner Natur werden kann. Wenn es dafür nicht in der erforderlichen Umgebung ist, sondern verfälscht oder täuschend, bedeutet es, was aus ihm entsprechend seiner Natur durch technische Eingriffe gemacht werden kann.

Während sich der Stoff der Erkenntnis entzieht, da er in letzter Konsequenz gedacht dasjenige bezeichnet, das Formen annimmt, aber für sich keine Form hat, ist die Form den Sinnen und dem Verstand zugänglich. Erst wenn der Stoff sich in einer Form zeigt, eine Gestalt annimmt, kann auch erkannt werden, ob der jeweiligen Form noch etwas fehlt. Aristoteles hat daraus gefolgert, dass die Form in höherem Maß Natur hat.

"Und diese (Form) ist in höherem Maße Naturbeschaffenheit als der Stoff; ein jedes wird doch dann erst eigentlich als es selbst angesprochen, wenn es in seiner zweckhaft erreichten Form da ist, mehr als wenn es bloß der Möglichkeit nach ist." (Phys. B 1, 193b)

Mit dem Hinweis auf Form und Formmangel, auf energeia als Zustand bis zum erfolgreichen Abschluss einer Entwicklung, die die innere Natur völlig entfaltet, kann diese harte Aussage ein wenig relativiert werden. Es kann auch gesagt werden, dass im Ganzen das Verständnis, was Natur ist, über die Betrachtung des Stoffes hinausgeht. Es kann - mit Heidegger - darauf hingewiesen werden, dass Aristoteles die Form daher als "in höherem Maße Naturbeschaffenheit" nennt, weil erst jetzt etwas "als es selbst angesprochen" wird, also erst die Form und der Formmangel das Ansprechen, die Sprache, das Verstehen von etwas durch ein sprachbegabtes Vermögen möglich machen. Und doch führt das nicht daran vorbei, dass Aristoteles hier klar einen Vorrang gesetzt und den Stoff gegenüber der Form abgewertet hat mit fatalen Auswirkungen auf die weitere Geschichte der Philosophie und Naturwissenschaft.

Denn wegen dieser Rangsetzung hat in weiterer Konsequenz das Jasagen Übergewicht bekommen. Mit den Kategorien wird die jeweils vorliegende Form bestimmt ("Formanalyse"). Eine Wissenschaft, die schließlich nur Jasagen kennt, nur in den von Aristoteles eingeführten Kategorien denkt, hat den Stoff verdrängt. Trotz aller berechtigten Einschränkungen ist dies bereits bei Aristoteles zu sehen. Das verrät den Stoff.

"In Wirklichkeit" begründen daher nicht die drei gleichberechtigten Prinzipien Stoff, Form und Formmangel die aristotelische Physik, sondern seine Entscheidung für den Vorrang des Wirklichen. Diese Entscheidung ist zugleich immun gegen Selbstkritik. Wenn die Wirklichkeit Vorrang hat, so auch die seither "wirkliche", d.h. seither praktizierte Wissenschaft. Niemand kann sagen, dass der Stoff fehlt, aber es fehlt seine Gleichberechtigung. Der Stoff erscheint als das Chaotische, von sich aus Verschlossene, das mit den Mitteln der Wissenschaft "zur Vernunft gebracht" werden muss. Der Verrat am Stoff wurde verdrängt, und diese Verdrängung erzeugt die Angst, dass aus der Formlosigkeit des Stoffes Chaos, Anarchie oder Böses entstehen könnte. Die Schwierigkeit Nein zu sagen rührt aus dieser Angst, dass mit dem Nein gegen die vorhandene Form jede Form aufgelöst und reines Chaos ("Schaum", der absolute "Wärmetod") entstehen könnte. Daher war es nur konsequent, wenn Heinrich im weiteren fragte, auf welche Weise der Stoff spricht, wenn ihm die Sprache abgesprochen wird.

Statt wie Heidegger die "Sprache sprechen" zu lassen, will Heinrich den "Stoff als Stoff" zur Geltung bringen. Denn nur scheinbar erschwert das Gestaltlose das Neinsagen. Der Stoff ist gestaltlos. Er kann nicht direkt sprechen, und er entzieht sich der Sprache. Aber er kann indirekt durch Symptome sprechen, wie es als erstes die Psychoanalyse gelehrt hat (Heinrich, Ödipus, S. 256f). Nicht eine Sprache spricht, sondern ein Subjekt, jetzt wieder in seiner ursprünglichen Bedeutung als das "Zugrundeliegende" (hypokeimenon), letztlich als Stoff verstanden. Im Gegensatz zu Kant sieht Heinrich daher die "bedürftige und begehrende Natur" als Subjekt (ebd., S. 258). Der Stoff ist fähig, eine "Struktur von Widerstand" zu zeigen (ebd., S. 259). Nur vom Stoff her, den Möglichkeiten, dem Potential, der Tendenz kann erkannt werden, ob einer gegebenen Form noch etwas fehlt, ob es eine Beraubung am Stoff und der Fülle seiner Möglichkeiten ist, wenn dieser Zustand künstlich aufrecht erhalten wird. Langfristig wird jede Form erlöschen, die gegen einen Formmangel und wider ihre Natur fixiert werden soll. Das spürt und weiß jeder, und so entsteht aus Angst davor die unbestimmte Angst vor dem Schaum, der sich auflösenden Form.

Allerdings denkt Heinrich nicht an den Stoff der physis, die hyle, sondern an historische Stoffe, den Stoff der Familiengeschichten und der Traumata in der eigenen Lebensgeschichte, die Stoffe der Mythologie und Poesie, die in menschenähnlichen Göttern erscheinen können. Diese Stoffe werden vielfach verdrängt und leben im kollektiven und im individuellen Unbewußten weiter. Sie können oft nicht angesprochen werden, werden gemeinsam "vergessen" oder zu kollektiven Tabus, äußern sich in unverstandenen Ängsten oder neuen Krankheitsbildern (z.B. der Depression). Mit einem Wort: Wenn über sie nicht gesprochen werden darf, äußern sie sich in Symptomen, die sich in Krankheitsbildern der Wahrnehmungs-, Sprach- und Denkfähigkeit des Menschen zeigen.

Vorbild für diese Art zu denken ist Freuds Schrift "Der Mann Moses". Freud geht der Frage nach, wie das hebräische Volk dazu kommen konnte, sich als das von Gott auserwählte Volk und damit allen anderen überlegen zu verstehen. Das musste im Gegenzug Antisemitismus hervorrufen. Er vertritt die These, dass nicht Gott sich ein Volk auserwählt hat, sondern der vom ägyptischen Monotheismus geprägte Moses hat sich für die Verwirklichung seiner Religion ein Volk auserwählt. Das rührt nicht weniger als Spinoza oder Marx an den Kern des jüdischen Selbstverständnisses. Solche Art zu denken und zur eigenen Tradition und Umgebung mutig Nein zu sagen verstehe ich als das Anliegen von Klaus Heinrich. Jedes Volk muss nach den "Lebenslügen" der eigenen Geschichte fragen. Wenn das nicht gelingt, werden sich die Symptome auf tragische Weise zeigen. Für Deutschland ist nicht nur die Geschichte des Nationalsozialismus aufzuarbeiten, sondern weiter zurück die Ostzüge des Kreuzrittertums, die Scham über die Rohheit der eigenen früheren Götter der Germanen, die tiefsitzende Trauer, wie früh sich die historischen Quellen über die Vorgeschichte verlieren. Sicher gibt es weitere Themen.

Solange solche Überlegungen nicht zurückgehen bis zu den Grundprinzipien der Physik, bleiben sie allerdings etwas in der Luft hängen. Aristoteles spürt, dass hier sein Gedankengang nicht ganz schlüssig ist. Er schließt diesen Abschnitt etwas überraschend:

"Die Form aber und die Natur bedeutet zweierlei. Denn auch die Verneinung ist gewissermaßen Formbestimmung. Ob aber die Verneinung auch ein Glied des Gegensatzes ist in Bezug auf den einfachen Begriff des Werdens, oder nicht ist, soll später untersucht werden." (Phys. B1, 193b)

Mit der Verneinung wird indirekt der Stoff wieder aufgewertet, denn letztlich kann nur mit den im Stoff verborgenen Potentialen gegen die Unvollständigkeit der jeweiligen Wirklichkeit argumentiert werden. Doch es besteht für mich kein Zweifel, dass in allem Weiteren schon bei Aristoteles die Kategorien eine weit größere Rolle spielen als das Neinsagen.

Demgegenüber soll in den nächsten Kommentaren untersucht werden, wie sich aus den drei gleichberechtigten Prinzipien Stoff, Form und Formmangel in einem ersten Schritt die Begriffe Zusammenhang, Größe und Zwischen entwickeln lassen, und dann mit ihrer Hilfe ihre mathematischen Verselbständigungen Dimension (Ausgedehntheit), Figur (Schema, Gestalt) und Ununterscheidbarkeit (Austauschbarkeit). Zu welchen Ergebnissen das führen kann, soll eine Neudeutung der Begriffe Ort (topos) und Zeit (chronos) erbringen. Nachdem der Neuplatonismus mithilfe aristotelischer Ideen diese Begriffe in Platons Tradition weiter ausgeführt hat, soll hier genau umgekehrt aus der neuplatonischen Philosophie - in deren Tradition ich auch Hegel sehe - gelernt werden, die von Aristoteles begonnene Philosophie in anderer Richtung fortzuführen. Wenn es gelingt, bei der Bestimmung von Ort und Zeit gleichberechtigt das Prinzip des Fehlens zu berücksichtigen, dann werden die Erfahrungen von Orientierungsverlust in Raum und Zeit nicht als nachträgliche Abweichungen, als Paranoia oder Widersinn erscheinen, sondern als extreme Wahrnehmung von Eigenschaften, die ursprünglich zum Wesen von Raum und Zeit gehören. Die vom drohenden Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit ausgehende Angst erklärt sich daraus, dass erst Raum, Zeit und die in ihnen wahrgenommenen Dinge auf beschränkte Weise verabsolutiert werden und dann im Gegenzug völlig zu entgleiten drohen. Das führt weit in die psychiatrische Diskussion der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein und ermöglicht vielleicht einen neuen Zugang, den bisher nur Jaspers gewagt hat.

Das Unbehagen an der Wirklichkeit

Realitäts-Hunger (Nichts verpassen!), Sucht nach virtuellen Welten, Unwirklichkeits-Gefühl (Dissoziation, Schizophrenie): Es lebt sich nicht gut, wenn der Vorrang der Wirklichkeit allenthalben zu spüren ist. Das Unbehagen äußert sich in vielen Formen: an der Kultur, an der Moderne, nicht mit den Forderungen der Zeit mithalten zu können. Wer das aushalten und sich dem von Heinrich beschriebenen Sog der Auflösung entziehen will, muss von der Natur lernen, wie sie im Verborgenen wächst.

Ist die Mathematik eine Rückzugsmöglichkeit von der Wirklichkeit oder ist sie im Gegenteil das Ideal einer perfekten Wirklichkeit, die kein Fehlen kennt, Unsterblichkeit erreicht hat und der es an nichts mangelt, weil sie sich erfolgreich von jedem sperrigen Stoff selbständig gemacht hat? Viele sagen: Die Mathematik entzieht sich der Unterscheidung von Natur und Technik. Es gibt keinen Lebenszyklus mathematischer Objekte. Sie lebt nicht. Auch wenn Mathematik "gemacht" wird, wird heute meistens verwischt, dass die mathematischen Figuren das Ergebnis einer Kunst sind, die die Handschrift des jeweiligen "Ingenieurs" oder "Handwerkers" trägt. Statt die mathematischen Originalwerke zu lesen wird jeweils die komplette Mathematik auf dem aktuell erreichten Stand umgeschrieben und gelehrt.

So über die Mathematik zu denken ist die Vollendung einer wirklichkeits-dominierten Welt. Die Mathematik wird als "Beweis" genommen, wie eine Entledigung des Stoffes erfolgen und Früchte tragen kann. Aristoteles versteht die Mathematik als Verselbständigung (chorizein) der Formen vom Stoff zum Schema. Heidegger trifft in seiner Übersetzung das Doppeldeutige: "Das Eigentümliche ist, daß das Mathematische nicht an einem Platz ist." (Heidegger, GA 19, S. 101, freie Übersetzung von Aristoteles Met. 14,5; 1092a17 bzw. Phys. 4,1; 208b) Die Gegenstände der Mathematik sind nicht an einem Platz, aber auch das Mathematische, also die Mathematik hat keinen Ort.

Das Fehlen des Ortes und daher immer nur am falschen Ort: Besser als mit vielen Worten lässt sich das mit einem Bild von Jawlensky sagen, auch wenn die Wirkung des Originals in dieser Darstellung leider nur sehr bedingt zu sehen ist.

Jawlensky Der Buckel

Alexej von Jawlensky (1864 - 1941): Der Buckel

entstanden im Sommer 1911 bei einem Aufenthalt in Prerow an der Ostsee.
Siehe Eintrag in Wikipedia. Urheber: Von Alexej von Jawlensky (1865 - 1941) - Internetseite mit Abbildungen von Jawlensky-Gemälden, Gemeinfrei, Link

Heidegger fand in den "Beiträgen zur Philosophie" für ein solches Gefühl den Begriff Verhaltenheit. Da ist in einem Wort zusammengezogen, wenn einerseits der Halt im Leben verloren gegangen ist, und zwar nicht durch ein einzelnes Ereignis, sondern den Spielraum im Ganzen, wie ihn das Leben bietet, und zugleich in dieser Lage ein Innehalten gelingt, das sich der eigenen Stärke sicher bleibt und vorsichtig und zurückhaltend neu zu orientieren vermag.

2006 - 2011

Literaturhinweise

Otto Apelt: Die Kategorienlehre des Aristoteles
in: ders.: Beiträge zur Geschichte der griechischen Philosophie, Leipzig 1891; Open Library

Aristoteles: Physik, in: Schriften Bd. 6, Hamburg 1995

Peter Eisenhardt: Der Webstuhl der Zeit, Reinbek 2006

Dirk Fonfara: Die Ousia-Lehren des Aristoteles, Berlin, New York 2003

Heinz Happ: Hyle, Studien zum aristotelischen Materie-Begriff, Berlin, New York 1971

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, 2 Bd, Frankfurt am Main 1969

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Band 1, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979 ( Link )

Martin Heidegger: Platon: Sophistes (1924/25) (GA 19), Frankfurt am Main 1992
hier: Interpretation von Aristoteles, Physik B 2, S. 100-121

Martin Heidegger: Aristoteles, Metaphysik Θ 1-3 (1931) (GA 33), Frankfurt am Main 2006

Martin Heidegger: Vom Wesen und Begriff der physis. Aristoteles, Physik B, 1 (1939),
in: ders.: Wegmarken (GA 9), Frankfurt am Main 1996

Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. 2, Stuttgart 1998
hieraus: "Die obersten Werte als Kategorien" in Abschnitt V (1940) und Abschnitte VII - X (1941-46)

Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen, Frankfurt am Main 1982

Klaus Heinrich: Arbeiten mit Ödipus, Basel, Frankfurt am Main 1993

Karl Kerényi: Die Göttin Natur
in: ders.: Apollon und Niobe, Werke Bd. 4, München, Wien 1980

Proklos: Euklid-Kommentar, englische Übersetzung von Thomas Taylor, Dorset 2006 [1788]

Lothar Seidel: Kritik der Physik des Aristoteles, Frankfurt am Main 2005

Hans-Joachim Waschkies: Von Eudoxos zu Aristoteles, Amsterdam 1977

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