Walter Tydecks

 

Das verborgene Schöne in Hegels Wissen-
schaft der Logik

Das verborgene Schöne in Hegels Wissenschaft der Logik

 

Überarbeitete Fassung eines Vortrags am 3.12.2016 im Internationalen Arbeitskreis zu Hegels Naturphilosophie in Leipzig, Version 10.6.2018

Einleitung – eine Logik ohne eine Idee des Schönen?

Als Motto seien drei Fragmente von Heraklit vorangestellt, von dem Hegel sagte: »Es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.« (HW 18.320)

»Das auseinander Strebende vereinigt sich und aus den verschiedenen [Tönen] entsteht die schönste Harmonie.« (to antixoun sumpheron kai ek tôn diapherontôn kallistên harmonian, Fragment 8)

»Die Natur liebt es sich zu verstecken.« (phusis de kath' Hêrakleiton kruptesthai philei, Fragment 123)

»Im planlos Hingegossenen findet sich laut Heraklit die schönste Ordnung.« (Andere übersetzen: Die schönste Weltordnung ist wie ein aufs geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen.) (eikê kechumenôn kallistos, phêsin Hêrakleitos, ho kosmos, Fragment 124)

In jungen Jahren war für Hegel und seine Studienfreunde Hölderlin und Schelling die Idee der Schönheit die höchste Idee überhaupt. Er hatte im vermutlich 1797 gemeinsam verfassten, sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus aufgeschrieben:

»Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind.«

Der Einfluss von Schiller und der romantische Geist sind deutlich zu spüren, und es ist offen, welchen Weg die drei Freunde im Weiteren einschlagen werden. Wer in der Wissenschaft der Logik nach Aussagen über das Schöne sucht, wird dagegen nur noch wenig finden. Im Kapitel über die affirmative Unendlichkeit wird in einer Fußnote von der Bedeutung des Schönen für das Ideale gesprochen (HW 5.165 Fn.). Die Maßlogik nähert sich mit ihren Beispielen aus der Musik der Schönheit an (HW 5.421, 439). In der Urteilslogik wird die Frage nach den »Prädikate(n) gut, schlecht, wahr, schön, richtig usf.« gestellt (HW 6.344). Im Ganzen lässt Hegel keinen Zweifel, dass für ihn »das logische Leben« nicht »als Moment des Ideals und der Schönheit zu betrachten« ist (HW 6.472), und am Ende spricht die Ideen-Lehre nicht mehr vom Wahren, Guten und Schönen, sondern vom Leben, Wahren und Guten. Hat Hegel seine ursprünglichen Ziele aufgegeben und mit der distanzierteren Einstellung gegenüber der Romantik auch von der Schönheit Abschied genommen?

Als höchste Idee traten das Leben und die Lebendigkeit an die Stelle der Schönheit. Mit ihnen grenzt er sich von den »toten Formen« und dem »toten Inhalt«, dem »toten Gebein der Logik« ab (HW 5.41, 47, 48) und findet seinen eigenen Weg. Helmut Schneider hat gezeigt, wie Hegel im Verlaufe seiner Arbeiten zur Logik anfangs das Lebendige und Schöne miteinander verbunden sah, bis das Schöne in den Hintergrund trat und nur das Lebendige übrig blieb. Hat er die Schönheit zugunsten der Lebendigkeit geopfert? Wenn überhaupt noch die Schönheit für Hegels Logik »gerettet« werden kann, dann vielleicht in der Weise, wie Brigitte Hilmer vorschlägt, »dass Schönheit, anders als die Logik des Handelns und Erkennens, ihren Begriff letztlich nur im Ganzen des Systems, in der wechselseitigen Bedingung und Durchdringung von Geist und Natur finden kann« (Hilmer 2014, 54).

Im Folgenden geht es daher um zwei Fragen:

(1) An welchem Punkt trennt sich für Hegel die Logik von der Schönheit: Das bewegende Prinzip der Logik ist für ihn die Negativität und nicht mehr wie in der traditionellen Logik die Idealität. Da er jedoch die Schönheit auf der Seite des Ideals sieht, verschwindet für ihn mit der Negativität die Schönheit aus der Logik.

(2) Wo übernimmt Hegel in der Logik die Inhalte, die früher mit der Schönheit erklärt oder zumindest mit ihr in Zusammenhang gebracht wurden: Das sind die Begriffe von Maß, Kraft und Mitteilung. Mit ihnen stellt sich die Frage nach der Harmonie eines Ganzen und seiner Teile und der Teile untereinander.

Beide Fragen enthalten für mich jedoch bereits bei Hegel ihre eigene Negation:

(1') An der Negativität ist ihre eigene Schönheit zu erkennen. Dafür stehen in der Geschichte der Kunst frühe Beispiele wie die Blumen des Bösen von Baudelaire und das Werk von Dostojewski sowie später die Ästhetische Theorie von Adorno.

(2') Inhaltlich stellt Hegel mit dem Gedankengang seiner Logik alle Elemente bereit, um die Genese des Schönen im Logischen zu erkennen. Er hat die überlieferten Fragen der Ästhetik in eine neue Ordnung gebracht und so der Ästhetik eine völlig neue Perspektive geöffnet. Das zu entdecken ist für mich das verborgene Schöne der Wissenschaft der Logik und zugleich ein verborgener Paradigmenwechsel der Ästhetik.

Die Qualität des Schönen

Um zu verstehen, wie Hegel in der Wissenschaft der Logik indirekt eine Antwort auf die Frage der Schönheit gegeben hat, ist zu erinnern, was er vorfand.

Im Alltag wird Schönheit als ein Qualitäts-Merkmal angesehen: Etwas ist schön beschaffen. So gelten bestimmte Farben wie das Lapislazuli-Blau oder das von Yves Klein 1960 patentierte Ultramarinblau als Zeichen von Schönheit, und im übertragenen Sinn können Gebrauchsgegenstände wie Vasen oder Kleidung und die für den reinen Kunstgenuss gedachten Kunstwerke schön sein. Kunst-Unterricht und Ratgeber sollen helfen, Schönheit und die jeweiligen Kunststile zu erkennen und den eigenen Geschmack zu bilden.

Geradezu provozierend fragt Hegel in den Vorlesungen über die Ästhetik: Ist »die schöne Kunst einer wissenschaftlichen Behandlung würdig« (HW 13.16): Ist sie nur Luxus oder nur Täuschung? Spricht sie nur die Sinne und nicht den Geist an? Oder verfügt sie über die einzigartige Freiheit, im Sinnlichen zu zeigen, was sonst dem Göttlichen vorbehalten ist (13.20f)? Für mich kann genau umgekehrt gefragt werden: Ist eine Wissenschaft einschließlich der Wissenschaft der Logik fähig, ihre Grundbegriffe auf solche Weise zu klären, dass sich mit ihnen Schönheit verstehen lässt?

In diese Richtung ging erstmals Aristoteles (Baeumler, 43). Statt wie Platon nach der Idee des Schönen zu fragen, fragt er nach der Kunst (techne) und meint damit umfassend die Kunst, etwas zu schaffen, sei dies ein technisches Werk oder ein Kunstwerk oder auch eine Aufgabe wie die Staatsführung oder der Vortrag einer überzeugenden Rede (Rhetorik). In allen Fällen will er verstehen, wie die Natur vorgeht. Er will sie nicht kopieren, sondern davon lernen. Wie sind die natürlichen Dinge beschaffen, und wie sollten entsprechend die Kunst und ihre Werke beschaffen sein? In diese Richtung gehen auch seine Ausführungen zur Kunsterziehung. Kinder sollen zeichnen lernen, damit sie ein besseres Verständnis gewinnen, wie die natürlichen Dinge gemacht sind. Sie sollen mit der Musik ein sicheres Gefühl für die Proportionen gewinnen, das ihnen als Maß für ihre eigenen späteren Arbeiten dienen kann (Baeumler, 50 mit Bezug auf Aristoteles Politik, 1338a und 1340b).

Für mich nimmt Hegel eine innerlich gespaltene Position ein. In seinem eigenen Tun folgt er dem Vorbild von Aristoteles und versteht die Logik als eine Kunst, deren Begriffe und Methoden es wissenschaftlich zu ergründen gilt. Zugleich bleibt er Platon treu, wenn er das Schöne an das Ideal bindet und außerhalb der Logik sieht.

Jedes Denken enthält für Hegel anfänglich die innere Spannung, zum einen im Denken alles so aufzunehmen, wie es mit der sinnlichen Wahrnehmung (aisthesis) gegeben ist, und zum anderen an allem dasjenige zu erkennen, was in der jeweils vorgefundenen Realität nur als Möglichkeit angelegt ist und sich in der Bewegung befindet, über den jeweiligen Zustand hinauszugehen. Die Idealität benennt das, was in der Realität noch nicht verwirklicht ist. Die Negativität ist die Fähigkeit, an der Realität ihren Mangel zu erkennen und die Bewegung anzustoßen, mit der der Mangel überwunden werden soll. Während die Idealität der Realität wie ein ferner Orientierungspunkt gegenüber steht, den es zu erreichen gilt, befindet sich die Negativität innerhalb der gegebenen Realität. Obwohl die Realität mit den gegebenen Mängeln von der Idealität getrennt ist, enthält sie mit der Negativität das Vermögen, den Mangel zu erkennen und sich von ihm fort zu bewegen.

An dieser kritischen Stelle entscheidet sich der Ort der Schönheit. Ist mit Schönheit das gemeint, worin sich die Idealität von der Realität unterscheidet und dank dessen der Wunsch entsteht bzw. gefördert wird, sie zu erreichen, oder ist die Schönheit eine Seite der Negativität und der Lebendigkeit? Die Negativität verfügt über eine eigene Lebendigkeit (Aristoteles würde von energeia sprechen), mithilfe derer nicht nur der Mangel erkannt, sondern auch der gefährdete Weg aus der gegebenen Realität heraus gelingen kann. Ist die Schönheit eine Seite dieser Lebendigkeit? Ist sie mit Aristoteles die Kunst, über die die Negativität verfügt?

Konsequent geht Hegel einen Schritt weiter. Der innere Widerspruch jeder vom Denken erkannten Qualität (ihre Realität und die an ihr enthaltene Negation dieser Realität) geht zurück auf einen inneren Widerspruch, der in der Beschaffenheit der Etwase selbst liegt. Mit Beschaffenheit meint Hegel nicht die empirische Aussage, wie etwas beschaffen ist, sondern mit einer tautologisch klingenden Formulierung ist die Beschaffenheit die Fähigkeit von Etwas, im Ausgleich mit dem Anderen (mit seiner Umgebung) seine Beschaffenheit bilden und erhalten zu können. »So oder anders beschaffen ist Etwas als in äußerem Einfluß und Verhältnissen begriffen. [...] Es ist Qualität des Etwas, dieser Äußerlichkeit preisgegeben zu sein und eine Beschaffenheit zu haben.« (HW 5.133)

Die Beschaffenheit ist für ihn die in sich widersprüchliche Eigenschaft von Etwas, äußeren Einflüssen gegenüber sowohl offen und verletzbar zu sein, wie auch des inneren Widerstandes dagegen fähig zu bleiben. »Aber zugleich als seiend unterschieden, ist das Etwas selbst die Negation, das Aufhören eines Anderen an ihm, es ist als sich negativ dagegen verhaltend und sich damit erhaltend gesetzt.« (HW 5.135) Nach dem ersten Eindruck ist etwas so beschaffen, wie es unter den gegebenen Einflüssen und Umständen von außen gefördert oder bedrängt wurde. Hegels Begriff der Beschaffenheit beschränkt sich dagegen nicht auf das Konstatieren eines fixierbaren und messbaren Ergebnisses eines Bildungsprozesses, in dem etwas das geworden ist, wie es jetzt beschaffen ist, sondern die Beschaffenheit ist die dem Bildungsprozess zugrunde liegende Eigenschaft, Einflüsse aufnehmen und ihnen zugleich widerstehen zu können. (Das unterscheidet für Hegel die von ihm gemeinte Beschaffenheit von der Beschaffenheit der Leibnizschen Monaden, die so beschaffen sind, dass sie nur im Innern alles wahrnehmen, was um sie herum vorgeht, aber in ihrer Fensterlosigkeit von außen weder verletzt noch geformt werden können. [HW 5.179f])

Zur Beschaffenheit von etwas gehört nicht nur, wie es gerade ist, sondern auch die Trauer oder Freude über den gegebenen Zustand. Daher kann z.B. gesagt werden, dass jemand melancholisch beschaffen ist. Wenn ein Künstler das zu treffen vermag, vermag er die in der bedrückenden Realität verborgene innere Schönheit zu zeigen, die sich nach ihrer eigenen Natur in ihrem Kummer und ihrer Bescheidenheit schützend zurückzieht und verbirgt und nur vom mitfühlenden Künstler mit großem Zartgefühl angesprochen werden kann. Das Verbergen ist kein Charakterzug, sondern es gehört maßgeblich zur Beschaffenheit. Die Beschaffenheit ist so beschaffen, dass sie sich zugleich öffnen und verschließen, äußern und widerstehen kann.

Die innere Bewegtheit von Realität und ihrer Negation zeigt zwar für Hegel ihre Lebendigkeit (siehe z.B. HW 5.52), lässt sich jedoch für ihn nicht in der Idee der Schönheit aussagen, sondern führt ihn in philosophische Grenzfragen der Theologie und des Absoluten. Es lässt sich für ihn nicht besser sagen als im Wort von Platon: Jedes Denken enthält an sich ein Moment des Fremden (to heteron, HW 5.126). Hegel scheint mir letztlich dem christlichen Gedanken zu folgen, wonach der Mensch in der realen Welt keine »bleibende Stadt« (ménousa pólis, Hebräer 13, 14) und das heißt für Hegel in seiner Realität und Negativität auch keine Schönheit hat. Er ist in seiner Realität zwar mit dem Sinn für Schönheit begabt, aber er bleibt gerade in seiner Neigung zur Idealität und dem Schönen der Realität fremd und kann die Schönheit nur im Ideal gestalten und sich mit ihm über die gegebene Realität erheben.

Hegel geht mit Platon so weit, dass er dem Anderen des Geistes »als eines der Momente der Totalität dem Einen entgegensetzt und dem Anderen auf diese Weise eine eigene Natur zuschreibt« (HW 5.126f), aber er schreibt ihm keine eigene Schönheit zu.

»Das Ideale hat eine weiter bestimmte Bedeutung (des Schönen und was dahin zieht) als das Ideelle; hierher gehört jene noch nicht; es wird deswegen der Ausdruck ‘ideell’ gebraucht. Bei der Realität findet dieser Unterschied im Sprachgebrauch wohl nicht statt, das Reelle und Reale wird ungefähr gleichbedeutend gesagt; die Schattierung beider Ausdrücke etwa gegeneinander hat kein Interesse.« (HW 5.165 Fn.)

Für mich ist die Ästhetik einen anderen Weg gegangen und hat umgekehrt an den gebrochenen, reellen Verhältnissen deren verborgene Schönheit zeigen wollen (als stilbildendes Beispiel kann die 1848 veröffentlichte Erzählung Der arme Spielmann von Grillparzer gelten). Das darf nicht verwechselt werden mit den warnenden oder therapeutischen Bildern von Katastrophen und Apokalypsen, die es in der Kunst schon immer gegeben hat. Mit ihnen wurden Menschen gezeigt, die am Schicksal zerbrechen, und von der Realität des Todes. Doch dies waren für sie Bilder des Schreckens, die Grauen erregen und nur in genau bestimmter Dosis den Alp übermäßiger Gefühle lindern und von ihnen reinigen helfen, »die Jammer (éleos) und Schaudern (phóbos) hervorruft und hierdurch eine Reinigung (kátharsis) von derartigen Erregungszuständen bewirkt« (Aristoteles Poetik Kap. 6, 1449b24ff). In der mit der Romantik beginnenden Kunst entsteht etwas Neues. Mit ihr wird die Gleichsetzung des Schreckens und des Bösen und Hässlichen aufgebrochen, so in aller Radikalität bei Baudelaire, dessen Blumen des Bösen in den Jahren ab 1857 nicht lange nach Hegels Tod erschienen sind. Er zeigt nicht mehr nur das Böse, von dem es sich abzuwenden und auf eine Erlösung bzw. Heilung zu hoffen gilt, sondern er sieht am Bösen die in ihm enthaltene Negativität, die über eine eigene Schönheit verfügen kann. Hegel nähert sich dieser Haltung so weit, als er einen Blick auf das Unvollkommene und die in ihr wirkende Negativität gewinnt. Aber er spricht ihr ausdrücklich die Schönheit ab. Schönheit liegt für ihn nicht im Verborgenen oder der Negativität, sondern im Idealen.

Zur Kritik von Adorno

Adorno sieht in Hegels Entscheidung über den Ort der Kunst beim Ideal und nicht bei der Negativität einen folgenreichen Grundzug von dessen Philosophie:

»Hegels Philosophie versagt vor dem Schönen: weil er die Vernunft und das Wirkliche durch den Inbegriff ihrer Vermittlungen einander gleichsetzt, hypostasiert er die Zurüstung alles Seienden durch Subjektivität als das Absolute, und das Nichtidentische taugt ihm einzig als Fessel der Subjektivität, anstatt daß er dessen Erfahrung als Telos des ästhetischen Subjekts, als dessen Emanzipation bestimmte. Fortschreitende dialektische Ästhetik wird notwendig zur Kritik auch an der Hegelschen.« (Adorno Ästhetische Theorie, 119)

Mit dem Nichtidentischen meint er in meinem Verständnis die Beschaffenheit von Etwas, das sich nicht nur nach außen öffnet, sondern allen Ausprägungen von außen entzieht und die eigene Natur bewahrt. Aber m.E. trifft er Hegel nicht richtig, sondern geht zu weit. Hegel will nicht mit der Subjektivität in das Seiende etwas von außen hineinlegen, sondern in Worte bringen, was dort bereits angelegt ist. Dennoch gebe ich Adorno in seinem Unbehagen recht, wenn Hegel der Negativität des Nicht-Identischen die Schönheit abspricht. Ich kann Adorno folgen, wenn er aus allen Kunstgattungen Beispiele nennt, die am Nicht-Identischen dessen Schönheit zeigen.

Eine Ästhetik der Freundlichkeit nach Han

Byung-Chul Han trifft das m.E. in seiner Studie Hegel und die Macht besser. Er beginnt für mich überraschend und überzeugend mit der Ästhetik. Hegel empfindet nur das als schön, an dem er eine Seele, ja einen Geist wiedererkennt, also sich selbst wiedererkennt. Er wendet sich zum Beispiel gegen die Darstellung der Nacktheit der Haut, ihrer Falten, Runzeln, Wunden, Hässlichkeit (HW 13.194) und vertritt demgegenüber das Ideal eines perfekten, glatten, europäischen Körpers. Der Porträtmaler soll schmeicheln, alles Unschöne wegretuschieren, die verborgene Seele zeigen (HW 13.206, 13.217). Alles andere ist für ihn langweilig, äußerlich, leblos, bloßes »es-ist-so«. Eine Gegenposition vertrat zum Beispiel wenige Jahre später Dostojewski, der im Roman Der Idiot seinen Anti-Helden wie gebannt vor dem lebensgroßen Gemälde Holbeins stehen lässt, das den Leichnam Jesu in ihrer Nacktheit zeigt (Hans Holbein Der Leichnam Christi im Grabe, entstanden 1521/22, Kunstmuseum Basel). Zu dieser Art von Kunst hatte Hegel offenbar keinen Zugang und daher auch ein gebrochenes Verhältnis zur Romantik. In seinem dreibändigen Werk über die Ästhetik erwähnt er seinen Studienfreund Hölderlin mit keinem Wort, und das Verhältnis zu Jean Paul, mit dem er in Heidelberg persönlich gut bekannt war, blieb schwierig.

Hegel kritisiert daher auch die orientalische Poesie. Hier fühlt sich der aus Korea stammende Han nahezu persönlich getroffen, und er beginnt seinen Gegenentwurf zu entwickeln.

»Das Haiku ist keine 'Lyrik', keine 'Poesie'. Die Abwesenheit jener subjektiven Innerlichkeit bedeutet jedoch keinen Mangel. Vielmehr läßt sie die Dinge erst in ihrem So-sein hervorleuchten. Die fehlende Innerlichkeit gibt ihm eine Freundlichkeit. Ein Zen-Gedicht glückte allein im Moment des freundlichen Blicks, der unversehens in den Dingen verweilt, ja in den Dingen sieht, nämlich in jenem besonderen Augenblick, in dem sich das Subjekt entleert, sich lichtet, sich mit dem Licht der Dinge, mit deren So-Sein füllt.« (Han, 31)

Weitere Beispiele sind für ihn Dada, das selbst dem unscheinbarsten Staubkorn die gleiche Aufmerksamkeit schenkt wie dem spektakulärsten Stern, John Cage, Paul Cezanne und in der neueren Literatur Peter Handke. Sie stehen nach Han für eine Kunst, die an der Realität des Menschen die dort verborgene Schönheit zeigt und mit der Schönheit die Hoffnung, deren Last tragen und sich aus ihr befreien zu können. In der Schönheit ist gestaltet, was für Hegel nur der Negativität des Lebendigen zukommt: »Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten.« (HW 6.76) Was Hegel an einem entscheidenden Wendepunkt der Logik im Kapitel über den Widerspruch als die höchste Kunst der Logik versteht, ist für Adorno und Han in einer Vielzahl von Kunstwerken gestaltet und in seiner verborgenen Schönheit gezeigt.

Das Maß des Schönen

An der Maßlogik und dem Begriff der Kraft soll gezeigt werden, wie Hegel Fragen aus der klassischen Ästhetik aufnimmt und in seine Logik integriert. Er übernimmt sie nicht nur als Bruchstücke, sondern bringt sie über die Logik in eine innere Ordnung.

Obwohl Hegel in der Maßlogik zwar von der Musik, aber nirgends von der Schönheit spricht (5.421, 5.439), kommt er hier einem anderem Verständnis des Schönen näher. Mit dem realen Maß ist ein harmonisches Verhältnis zwischen einer Ordnung und den von ihr geordneten Elementen gemeint. Hegel erkennt dies an einem zeitgenössischen Beispiel: In der Chemie wird zum einen beobachtet, welche Neigung verschiedene chemische Elemente zueinander haben und in chemische Reaktionen treten (Wahlverwandtschaften), und zum anderen unterschiedliche Systembedingungen, durch die die Wahlverwandtschaften beeinflusst und möglicherweise sogar umgekehrt werden. Hegel erkannte, dass die Systembedingungen eine gewisse Stabilität und Dauer aufweisen, und erst bei kontinuierlicher Änderung bestimmter Systemparameter umschlagen. Daraus ergibt sich für ihn eine Folge von unterschiedlichen Systemzuständen (Knotenlinie).

Das gilt nicht nur in der Chemie, sondern auch in der Musik. Bestimmte Töne haben eine Neigung zueinander (klingen schön miteinander, »drängen nach einer Auflösung«), doch diese Zuneigung kann in unterschiedlichen Tonsystemen ganz verschieden ausfallen. Was in einem System schön klingt, wird in einem anderen als Misston empfunden.

Das Maß des Schönen ist das Maß, wie sich die Wahlverwandtschaft der Elemente untereinander (und damit ihre Ordnung) zum System verhalten. Oft gelten solche Stellen als besonders schön, die in einem bestimmten System über dieses hinausweisen, ohne es in einem völligen Missklang zu verletzen. Beispiele sind eine Stelle in der Kunst der Fuge, an der Bach dem Interpreten die Freiheit der Improvisation gibt, enharmonische Verwechslungen bei Schubert oder bewusst gestaltete Bitonalität bei Ravel, die ein klassisches Stück wie einen Blues klingen lässt.

Die Kraft des Schönen

Welche Voraussetzungen müssen im Denken gegeben sein, damit es überhaupt von Sachen sprechen kann, die über Kategorien wie Qualität, Größe oder Maß zugänglich sind? Das ist für Hegel die Frage nach dem Wesen, und auf den ersten Blick ist es eine Überraschung, dass er erst hier den Begriff der Kraft einführt. Kraft ist für ihn weder eine Qualität, noch eine Größe oder ein Maß, sondern geht ihnen als Wesensbestimmung voraus.

Sein Begriff der Kraft kann auf die dynamis von Aristoteles zurückbezogen werden in dessen umfassender Bedeutung als Macht und Vermögen. Die Kraft geht der Negativität voraus und zeigt sich in deren Fähigkeit, alternative Möglichkeiten zu erkennen und in der Macht, den Weg dorthin zu bahnen.

Zwar mag es gegenüber den von Aristoteles überlieferten Bestimmungen der dynamis sehr abstrakt klingen, wie Hegel die Kraft definiert: »Die Kraft ist die negative Einheit, in welche sich der Widerspruch des Ganzen und der Teile aufgelöst hat, die Wahrheit jenes ersten Verhältnisses.« (HW 6.172) In welcher Weise auch immer das Denken von Qualität, Größe oder Maß spricht, in allen Fällen geht es um bestimmte Verhältnisse eines Ganzen zu seinen Teilen. Für Hegel ergibt sich die Kraft nicht als Ergebnis der Untersuchungen von Qualität, Größe oder Maß, sondern geht ihnen voraus. Das Denken kommt nur in Gang, wenn es voraussetzt, dass zwischen den Teilen und dem Ganzen eine Kraft besteht. Das Denken kann an jedem gegebenen Sachverhalt erkennen, dass er keineswegs bloß ein geschlossenes Ganzes ist, sondern ein Teil unter anderen Teilen innerhalb eines übergreifenden Ganzen. Das Gegebene relativiert sich, wenn es als Teil eines übergreifenden Ganzen gesehen wird, und zugleich die Kräfte erkennbar werden, die zwischen den Teilen und zum Ganzen wirken. Das ermöglicht die Negativität, die am Gegebenen dessen Grenzen erkennt und über es hinaus zu gehen vermag.

Ohne es auszusprechen befindet sich Hegel an dieser Stelle mitten in der Ästhetik. In der verwirrenden Vielfalt von Erscheinungen Ordnungen zu finden, die zwischen Teilen und Ganzen unterscheiden, das ist seit Beginn der Neuzeit die große Leistung der Kunst. Dem Künstler gelingt, was in der Logik auf den Begriff gebracht wird. 400 Jahre vor Hegel kam es mit dem Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti (1404-1472) zur Wende vom religiös inspirierten bzw. genialen Künstler zum wissenschaftlich und methodisch arbeitenden Künstler neuen Typs (Baeumler, 69). Alberti hat aus seinen umfangreichen Arbeiten in nahezu allen Gebieten der Wissenschaft und der Kunst den Schluss gezogen:

»Die Schönheit ist eine Art Übereinstimmung (consensus) und Einklang (conspiratio) der zugehörigen Teile in Bezug auf eine bestimmte Anzahl (numerus), Beziehung (finitio) und Anordnung (collocatio), so wie es die Harmonie (concinnitas), das vollkommene und ursprüngliche Naturgesetz, verlangt.« (Alberti, nach Wikipedia)

Mir ist nicht bekannt, ob Hegel die Schriften Albertis kannte, der erst seit Jacob Burckhardt (1818-1897) als einer der großen Vorläufer der modernen Ästhetik gewürdigt wird. Doch scheint mir inhaltlich Hegels Verständnis des Ganzen und der Teile auf ihn zurückzugehen. Was Alberti als Schönheit verstand, ist für Hegel der logische Begriff der Kraft, die zwischen den Teilen und dem Ganzen besteht.

Die Mitteilung des Schönen

Das Geschmacksurteil ›wie schön!‹ geht weit über die Qualität oder das Maß des Schönen hinaus und ist die spontane Äußerung eines Wohlbefindens. Es schreibt nicht einfach einem Gegenüber (sei dies eine Landschaft, ein Gemälde, ein Musikstück, eine geliebte oder attraktive Person) oder einer Handlung das Prädikat ‘schön’ zu (worüber sich bekanntlich streiten lässt), sondern bringt eine gelingende Mitteilung zum Ausdruck. Etwas wird als schön empfunden. Das Schöne ist angekommen. Das Schöne wird als eine Mitteilung verstanden.

Diese Wendung ergibt sich für Hegel organisch aus der Sache der Logik selbst, wenn im Bereich der formalen Logik nach ihren eigenen Urteilsformen und Figuren der Schlüsse gefragt wird. Wenn sie formal mit Symbolen wie ‘A’, ‘non-A’, ‘Einige’ oder ‘Alle’ operiert, haben diese alle Spuren des Schönen verloren (niemand wird ein Symbol wie ‘A’ als schön ansehen), und es kann im ersten Moment höchstens nach der Eleganz der logischen Konstruktion gefragt werden. Werden aber die traditionell überlieferten Urteils- und Schlussformen näher untersucht, zeigt sich für Hegel, wie mit zunehmender Komplexität immer deutlicher die Mitteilungen hervortreten, wenn sich im Urteil ›S ist p‹ das Satzsubjekt S über die Copula ›ist‹ dem Prädikat P mitteilt bzw. im Schluss die Prämissen über den terminus medius der Konklusion. Dass es sich um Mitteilungen handelt, wird jedoch erst erkennbar, wenn von einzelnen Sätzen bzw. Schlüssen übergegangen wird zum Prozess des Urteilens und Schließens: Das Urteil ›wie schön!‹ schreibt nicht einem Satzsubjekt das Prädikat ‘schön’ zu, sondern bringt den Prozess einer gelingenden Mitteilung einer Sache an den Empfänger (Hörer, Leser, usf.) zum Ausdruck.

Um diesen Gedanken verständlich zu machen, wählt Hegel ein Beispiel aus der Mechanik. Wenn ein Partikel an ein anderes stößt, teilt es ihm einen Impuls mit. Der übertragene Impuls hat keine eigene Masse und ist im System der mechanischen Objekte dimensionslos (und damit materiell gesehen Nichts). Aber der Impuls ändert den Zustand beider Partikel.

Hegel geht es bei der Mitteilung nicht nur um Physik oder Mechanik. »Die Gesetze, Sitten, vernünftige Vorstellungen überhaupt sind im Geistigen solche Mitteilbare, welche die Individuen auf eine bewußtlose Weise durchdringen und sich in ihnen geltend machen.« (HW 6.416) Für mich ist an dieser Stelle naheliegend, auch die Schönheit als einen Impuls zu verstehen, der jemanden in einen schönen Zustand versetzt, sei es ein belebender bacchantischer Taumel oder eine beruhigende, apollinische Stimmung, die zu innerem Ausgleich führt und die eigenen Kräfte sammeln lässt.

Doch Hegel bleibt sich treu. Er schließt wie bei der Qualität aus, dass das Schöne mit der Negativität verbunden sein kann und sieht es nur in einem Ideal, das im Moment der Negativität vielleicht bereits vorschwebt, aber in der lebendigen Bewegung der Negativität noch nicht erreicht ist. In der Wissenschaft der Logik erwähnt er im Abschnitt über die Objektivität, in dem es um die Mitteilung geht, nicht einmal die Schönheit, wohl aber in einer nur als Mitschrift überlieferten Vorlesung über Logik und Metaphysik in Heidelberg von 1817:

»Durch die Unmittelbarkeit des Lebens ist es, daß 1. die Idee nur für uns, nicht als Idee für sich ist, 2. seine Objektivität oder Unmittelbarkeit die Erscheinung der äußerlichen Objektivität des Mechanismus, Chemismus und der äußerlichen Zweckmäßigkeit ist, deren negative Einheit und immanente innere Macht die Subjektivität des Lebens ist, welches hier noch nicht als Schönheit ist.« (Hegel, Vorlesungen über Logik und Metaphysik, Heidelberg 1817, zitiert nach Schneider, 128f)

Er versteht die Objektivität als Negation der Subjektivität, und erst wenn aus beiden der Schluss auf die Idee gezogen ist, gibt es für ihn die Schönheit. Sie bleibt für ihn wie bereits in der Anmerkung zur Daseinslogik ausgeführt gebunden an das Ideale.

So kann als Fazit festgehalten werden: Obwohl Hegel die Schönheit mit dem Idealen außerhalb der Logik sieht, hat er insbesondere mit den Ausführungen über die Qualität, das Maß, die Kraft und die Mitteilung sowie deren innerer Beziehung und Lebendigkeit den Boden bereitet für eine völlig neue Art von Ästhetik, die sich an Begriffen dieser Art und der in ihnen enthaltenen Kunst der Logik entwickelt. Als Beispiele können die ästhetischen Arbeiten von Adorno und Danto genannt werden, die sich in ihrer Grundhaltung ausdrücklich auf Hegel beziehen, auch wenn sie das Schöne nicht mehr an das Ideal binden.

Siglenverzeichnis

HW = Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971; Link

Literaturhinweise

Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973 [1970]; Link

Aristoteles: Poetik, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2003

Andreas Arndt: „Hegels Philosophie versagt vor dem Schönen”
in: Andreas Arndt, Günter Kruck, Jure Zovko (Hg.): Gebrochene Schönheit, Berlin 2014, S. 199-208

Alfred Baeumler: Ästhetik, Darmstadt 1972 [1934]

Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt am Main 2014 [1981]

Byung-Chul Han: Hegel und die Macht, München 2005

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: [Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus], vermutlich 1797; Link

Heraklit: Fragmente, griechisch-deutsch, übersetzt von Hans Zimmermann 2007; Link

Brigitte Hilmer (Hilmer 1997): Scheinen des Begriffs. Hegels Logik der Kunst, Hamburg 1997

Brigitte Hilmer (Hilmer 2014): Die Wiederkehr des Naturschönen in der Philosophie des absoluten Geistes
in: Andreas Arndt, Günter Kruck, Jure Zovko (Hg.): Gebrochene Schönheit, Berlin 2014, S. 46-60

Helmut Schneider: Die Logizität des Schönen und der Kunst bei Hegel
in: Wolf-Dieter Schmid-Kowarzik, Heinz Eidam (Hg.): Anfänge bei Hegel, Kassel 2008, S. 109-130

2016-18


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