Walter Tydecks

 

Das Bewusstsein der Kraft und das Spiel der Kräfte

– ein Kommentar zur 12. Vorlesung von Fink über Hegel

Vorbemerkung

Naturforscher wie Boltzmann, Einstein oder Bohr, Mathematiker wie Cantor, Gödel oder Grothendieck und nicht zuletzt Philosophen wie Husserl oder Popper sind aus ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet heraus auf Widersprüche gestoßen, für die sich fast Wort für Wort mit Hegel Lösungswege öffnen lassen. Aber sie pflegen – mit Ausnahme von Gödel und vielleicht Grothendieck – ein bürgerliches Vorurteil gegenüber Hegel, dem sie schlicht vorhalten, er sei nicht ernst zu nehmen, wenn er bewußt den Widerspruch in sein Denken aufnimmt.

Das klingt z.B. so: »Doch verdient hierbei Hegel nicht, wie Wundt zu meinen scheint, eine besondere Erwähnung, zumal bei Hegel alles widerspruchsvoll, dunkel und konfuse ist, ja sogar der Widerspruch als hervortretendes Element seiner Philosophie von ihm selbst zum charakteristischen Eigentum seiner Denkweise erhoben worden ist, um welches ich wenigstens ihn nicht beneide.« (Cantor an Laßwitz vom 15.2.1884, in: Cantor Briefe, 181).
    »Sollte es nicht vorkommen können, dass Menschen, durch Trugschlüsse verwirrt, Entgegengesetztes zugleich für wahr halten? Haben nicht Schelling und Hegel den Satz vom Widerspruch geleugnet? Und wie steht es mit den anomalen Geisteszuständen? Sollte nicht ein Verrückter in allem Ernste entgegengesetzte Sachverhalte zugleich und dauernd für wahr halten können?« (Husserl, 31)

Überraschenderweise waren es Heidegger und Fink, die sich als erste aus diesem Vorurteil befreit haben: Heidegger mit einer Vorlesung über Hegels Phänomenologie des Geistes 1930-31 (veröffentlicht 1980 als Band 32 der Gesamtausgabe seiner Werke) und Fink mit der hier zu besprechenden Vorlesung ebenfalls über die Phänomenologie des Geistes 1948-49, die als zweisemestrige Veranstaltung 1966-67 wiederholt wurde (veröffentlicht 1977). Beide waren Assistenten von Husserl gewesen, Fink hatte 1938 geholfen, Husserls Nachlass von Freiburg nach Löwen zu retten. Heideggers Hegel-Vorlesung wurde »1961/62 [...] in Zusammenarbeit mit Martin Heidegger« von Ute und Alfredo Guzzoni herausgebracht (Heidegger, 220). Ute Guzzoni war Studentin in Freiburg und promovierte zur gleichen Zeit 1961 bei Eugen Fink zu Hegels Wissenschaft der Logik. Weiter ist an das Heraklit-Seminar zu denken, dass 1966-67 parallel zu Finks Hegel-Vorlesung gemeinsam von Heidegger und Fink durchgeführt wurde. Es war Heideggers letzte öffentliche Veranstaltung.

Aufgrund ihrer späten Veröffentlichungen sind die Hegel-Vorlesungen von Heidegger und Fink weitgehend unbeachtet geblieben und hatten keine Auswirkungen auf das seit den 1960ern mit der Studentenbewegung neu erwachte Interesse an Hegel. Aufgrund seiner persönlichen Kontakte zu Fink und Heidegger hat sie wohl nur Gadamer berücksichtigen können (siehe seine Arbeiten zu Hegel von 1961 bis 1971, die in Band 3 seiner gesammelten Werke enthalten sind). Die Studentenbewegung stand dagegen unter dem Eindruck von Adorno, dessen gegenseitige Abneignung mit Heidegger bekannt ist. So kam es zu einer recht einseitigen Hegel-Lektüre, die später nochmals eine andere Wendung nahm, als sich Hegel-Forscher wie Dieter Henrich, Ernst Tugendhat, Lorenz Bruno Puntel oder auf einem anderen Weg Pirmin Stekeler-Weithofer der analytischen Philosophie zuwandten. Eine Diskussion der Arbeiten von Fink und Heidegger zu Hegel fand ich erst im Umkreis der Hegel-Diskussionen an der Universität Wien, wovon die Arbeit von Thomas Auinger zeugt. – Mir geht es vor allem um Hegels Umwälzung der traditionellen Logik und Bewusstseinsphilosophie, als er mit dem Begriff der Kraft die Philosophie auf neue Grundlagen stellte. Fink trifft genau diesen entscheidenden Punkt, und es soll genügen, seine 12. Vorlesung näher zu betrachten, die sich ganz diesem Thema widmet. An dieser Frage hatte sich Hegel von Kant getrennt.

Bewusstsein der Kraft: Die Vorurteile gegenüber Hegel dürften tiefer liegen als nur gegenüber dem von ihm verwendeten Begriff des Widerspruchs. Früher wurde bei Kräften an Magie und Okkultismus gedacht, da sich Kräfte zwar spüren, aber als Kraft mit den üblichen Sinnen nicht empfinden lassen, sondern hinter ihren Äußerungen verborgen (okkult) bleiben. Heute klingt der Titel Bewusstsein der Kraft wie die Ankündigung einer der zahlreichen therapeutischen Angebote, um die eigene verborgene Energie entdecken und entfalten zu können. Wenn Hegel in seiner Philosophie an entscheidender Stelle die Kraft aufnimmt, ist das zugleich eine Kritik an einer Wissenschaft, die glaubt, sich von jeder Art magischen, spirituellen oder religiösen Denkens und Empfindens lösen zu können und eine Alternative zu all denen, die ohne wissenschaftliche Fundierung aus der von den Kirchen hinterlassenen Lücke schnelles Geld verdienen wollen.

Einleitung

Ein erster Blick auf das Inhaltsverzeichnis der Phänomenologie des Geistes lässt vermuten, dass Hegel die Frage des Bewusstseins geradezu traditionell entlang der bekannten Bewusstseinsstufen entwickelt: Während jedoch Empfindung, Wahrnehmung und Verstand wie in allen Darstellungen einer selbstbezüglichen Wissenschaft vom Wissen zu erwarten sind, ist es völlig ungewöhnlich, von ihnen ausgehend die Kraft als Bewusstsein und sogar als den Höhepunkt des Bewusstseins zu sehen. Das gab es nicht vor Hegel und ist auch nach Hegel von niemandem übernommen worden. Fink (und im Hintergrund sicher Heidegger, mit dem er in dieser Zeit eng zusammen gearbeitet hat) konzentriert sich daher zurecht auf diesen Bruch in der Geschichte der Philosophie.

Was kann es heißen, das Bewusstsein als Kraft und gleichbedeutend die Kraft als Bewusstsein zu verstehen? Damit ist gemeint, dass für Hegel das Bewusstsein das Wechselspiel zweier Kräfte ist: Auf der einen Seite haben die Gegenstände, von denen ein Wissen erworben und gebildet wird, aus sich heraus eine eigene Kraft, mit der sie sich demjenigen zeigen, der etwas verstehen und wissen will. Auf der anderen Seite verfügt der Wissende über seine eigene Kraft, Wissen aufnehmen und in Sprache fassen zu können. Dies ist für Hegel nicht mehr ein einseitiges Verhältnis, mit dem ein Subjekt aktiv von außen an das herantritt, das gewissermaßen darauf wartet, bis jemand kommt, der in Worte fassen kann, was es mit ihm auf sich hat. Vielmehr ist das Wissbare von sich aus aktiv, wenn es sich präsentiert, und das Wissen-Könnende ist passiv, wenn es sich den Eindrücken öffnet, die von außen kommen. Es ist aufmerksam auf alles, was sich ihm zeigt.

Diese beiden Kräfte, mit denen sich die Gegenstände zeigen und das Denken denkt, sind für Hegel nicht voneinander unabhängig, sondern sie befinden sich im Wechselspiel, im Spiel der Kräfte. So vermeidet er die Einseitigkeit des Empirismus wie des Konstruktivismus, die entweder nur die von außen kommenden Eindrücke oder die von innen kommende Leistung des Verstandes sehen, ohne deren Bedeutung zu leugnen. Kein Ding zeigt sich als Ding, sondern nur in seinen Eigenschaften. Von der Wahrnehmung eines Dinges kann erst gesprochen werden, wenn es dem Verstand gelingt, unterschiedliche Eigenschaften als Aspekte eines bestimmten Dinges zu verstehen, als dessen Merkmale sie gelten. Das Ding ist nicht als Ding gegeben, sondern muss in Gedanken als Ding konstruiert werden. Doch ist diese Konstruktion nicht das Ergebnis einer willkürlichen Suche mit irgendeinem, vom Verstand entworfenen Kalkül, der von außen an seinen Gegenstand herangetragen wird, sondern das Ergebnis einer Bezogenheit des Verstandes auf die Dinge, die sich ihm zeigen. Und umgekehrt ist der Empirismus nicht ein leeres Sammelsurium einzelner Wahrnehmungen und Beobachtungen, sondern die empirischen Daten sind implizit von Beginn an so angelegt, dass sie von sich aus auf eine begriffliche Erkenntnis tendieren und diese anregen. (Es ist unübersehbar, wie alle diese Einsichten bereits von Kant angelegt sind und von Hegel aufgenommen werden konnten.)

Das führt Hegel zu einem neuem Verständnis der Wahrheit. Mit Wahrheit werden nicht Ding und Gedanke äußerlich verglichen - und wenn sie übereinstimmen, ist der Gedanke wahr -, sondern Wahrheit entsteht aus dem Wechselspiel von Gegenstand und Ding. Dieses Wechselspiel enthält drei Momente: (i) Dasjenige, das sich zeigt; (ii) dasjenige, das Begriffe konstruieren kann; und (iii) den Prozess dieses Wechselspiels. Entsprechend ist die Kraft dreifaltig und bewusst selbstbezüglich: Die Kraft des Sich-zeigen-könnens, die Kraft des Begriffe-konstruieren-könnens und die Kraft des Wechselspiels dieser beiden Kräfte. Im Ergebnis entsteht als die Einheit dieser drei Kräfte das Bewusstsein. Es ist ein Bewusstsein von etwas, das sich zeigt und mit dem Bewusstsein getroffen wird. Es ist zugleich das bewusste Denken eines Denkenden. Und es kann nie anders entstehen als im Prozess des Wechselspiels von Gegenstand und Denken. Das Bewusstsein bildet Begriffe. Für sie gilt das gleiche: Die Begriffe sind die Einheit dessen, das begriffen wird; dessen, das begreift und des Prozesses des Begreifens. Hier ist Hegel der buddhistischen Lehre von Nagarjuna sehr nahe, der vom Bedingten Entstehen sprach. Dies alles steuert darauf hin, wie aus dem Bewusstsein das Selbstbewusstsein wird, wenn sich das Bewusstsein dieser Verhältnisse bewusst wird.

Das ist etwas näher am Text zu belegen. Die 12. Vorlesung von Fink lässt sich in drei Abschnitte unterteilen, wobei im Folgenden Seite für Seite vorgegangen wird.

123-128: Wiederholung (Kraft als Dynamis. 'Wirkliche Kraft')

123: »Der Verstand denkt das Sein des Seienden als Kraft.« Fink greift mit der Unterscheidung von Sein und Seienden einen philosophischen Grundgedanken von Heidegger auf. Mit dem Seienden sind die alltäglichen Gegenstände gemeint, die empfunden und wahrgenommen werden können. Die Frage nach dem Sein ergibt sich, wenn gefragt wird, dank welcher Kraft sich das Seiende als Seiendes präsentieren kann. Die Antwort lautet nahezu tautologisch: Es ist sein Sein (oder seine Natur), dank dessen sich das Seiende zeigen kann. Im Ergebnis sagt Fink: Das Ding »ist kein kategoriales Gefüge, sondern eine Fügung, ist ein Walten von Kraft; das Sein des Seienden ereignet sich, geschieht; es ist ein Bewegungsgeschehen, ein Kraften, ein Kraft-Spiel.« Hier gebraucht er einen weiteren Grundbegriff der Philosophie Heideggers, der in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) eingeführt wurde, in denen es z.B. heißt: »Denn die Wahrheit des Seyns - als denkerische ist sie das inständliche Wissen, wie das Seyn west - steht vielleicht nicht einmal den Göttern zu, sondern gehört einzig dem Abgründigen jener Fügung, der selbst die Götter noch unterstehen.« (Heidegger 1936-38, 6f) Auch wenn die Beiträge erst 1989 veröffentlicht wurden, waren sie Fink zweifellos bekannt, aber er überlässt es dem Leser, dieser Andeutung weiter nachzugehen. Im Sinne von Hegel muss das Verschiedene (das Seiende) in seiner Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit zu Grunde gehen, aus dem heraus es begründet und ergründet werden kann (siehe hierzu meinen Beitrag Auflösung des Widerspruchs in den Grund).

124: Das ist eine ontologische Bestimmung. Das Ding liegt nicht einfach herum und lässt etwas mit sich geschehen, es ist nicht bloß vorhanden, sondern es ist in seiner Bewegung.

125: Die ontologisch als Kraft bestimmte Bewegung ist nicht sinnlich erfahrbar. Wer Steine fallen sieht, sieht nur den Bewegungsverlauf des Fallens, aber nicht die Schwerkraft. Wer sieht, wie sich im Laufe eines Jahres die Blätter einer Pflanze verfärben, sieht nur den Farbwechsel, aber nicht die biologischen Kräfte, die sich in diesem Prozess zeigen. So ist es bei allen Kräften.

Fink deutet nur an, wie sich damit die Frage nach der Wahrheit völlig neu stellt. Er zitiert: Traditionell wird Wahrheit mit Thomas von Aquin als »adaequatio rei et intellectus« verstanden (Übereinstimmung einer Aussage mit dem von ihm formulierten Sachverhalt). Der Logiker Tarski hat das klassische Beispiel gegeben: Der Satz ›der Schnee ist weiß‹ ist genau dann wahr, wenn der Schnee weiß ist. Das ist offensichtlich ein naives Verständnis von Wahrheit und im Grunde eine tautologische Aussage: Der Satz, dass der Schnee weiß ist, wird durch die nochmals wiederholte Wahrnehmung bestätigt und für wahr erklärt, dass der Schnee weiß ist.

Kant hat mit seiner kritischen Philosophie auf die Zirkularität dieses Wahrheitsbegriffs hingewiesen und gefragt, woran es liegen kann, dass Dinge und Worte übereinstimmen können. Wie können ein Gegenstand wie der Schnee und das Wort ‘Schnee’ übereinstimmen, wo doch ein Wort wie ‘Schnee’ weder weiß noch Schnee ist. Wenn es überhaupt eine solche Übereinstimmung von Wort und Sache gibt, dann im Bereich der Mathematik, deren Zahlen mit dem übereinstimmen sollten, was sie besagen. Daher übertrug Kant die Beweislast der Wahrheit auf die Mathematik, als er 1786 in Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft sagte, »daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist« (MAN, AA 04: 470.13-15). Dass die Zahlen mit der Anzahl der Elemente der von ihnen gezählten Mengen übereinstimmt, ist im Grunde aber nicht weniger zirkulär gedacht als das Beispiel von Tarskis Aussage über den Schnee. Erst seit Frege, Cantor, Husserl und Russell wurde überhaupt versucht, diese Übereinstimmung streng mathematisch zu beweisen, was sich wie zu erwarten als unmöglich erwies. Sie wollten Zahlworte wie zum Beispiel die ‘Drei’ durch Äquivalenzklassen einführen: Das sind die Gesamtheiten von Mengen, die jeweils über die gleiche Anzahl von Elementen verfügen. Aber der Name ‘Drei’ kann niemals Element einer solchen Äquivalenzklasse sein: Der Name ‘Drei’ ist keine Menge, die aus drei Elementen besteht. Das wird meist versteckt, indem in der Gesamtheit aller dreielementigen Mengen ikonenartige Mengen aufgenommen werden und z.B. die Ikone ||| ein Element der Äquivalenzklasse aller dreielementigen Mengen ist. Die Ikone ||| gilt in der Umgangssprache (z.B. auf dem Bierdeckel) wie ein Name, der für die Drei steht, aber er ist noch nicht der Name. Die analytische Philosophie hilft sich, indem sie an dieser Stelle von einem Default (einem Standardverständnis) für die Zahlen spricht, aber auch das ist nur ein neu ergänztes Wort, das den Bruch (die Fuge) nicht zuzudecken vermag. Das wird deutlich, wenn große Mengen mit sehr vielen Elementen benannt werden sollen. Spätestens dann muss ein Name wie z.B. ‘Million’ eingeführt werden, der sich nicht mehr durch eine Ikone darstellen lässt. – Es führt nichts an der Einsicht vorbei, dass niemals aus einer Sache der Name dieser Sache emergieren kann. Was für die Zahlen nicht gelingt, gelingt erst recht nicht für komplexere Sachverhalte. Daher wird nie eine Sache mit ihrem Namen übereinstimmen, und der traditionelle Wahrheitsbegriff verpufft.

Fink erwähnt beiläufig, dass Kant mit der transzendentalen Deduktion nach einer Antwort suchte (121, 125), jedoch ohne das weiter zu vertiefen. Es sei kurz angedeutet, was Kant meinte: Kant wollte zeigen, dass sowohl alle Gegenstände wie auch alle Gedanken unabhängig von ihrem Inhalt jeweils in einer bestimmten Form auftreten, und die allgemeine Form der Dinge und die allgemeine Form der Sätze übereinstimmen. Dinge können nur in Raum und Zeit auftreten (transzendentale Ästhetik) und auch nur in Raum und Zeit vorgestellt (angeschaut) werden. Auf der anderen Seite gilt für alle Gedanken, dass sie sich an bestimmte Formen halten müssen, wenn sie mehr als zusammenhangloses Gebrabbel sein sollen. Zum Beispiel muss bei jedem Gedanken angenommen werden, dass sich der Bedeutungsinhalt des Gedankens während des Denkens nicht ändert (jede Verständigung wäre unmöglich, wenn sich im Verlaufe eines Satzes ändert, was mit den jeweiligen Worten gemeint ist), dass sie kausal auseinander hervorgehen (bei allem Sprechen wird angenommen, dass das vorangehende Wort das Verständnis des nachfolgenden Wortes beeinflusst, wie es vom Framing geschickt genutzt und eingesetzt wird) oder sich in einer genau zu bestimmenden Weise in einer Wechselbeziehung befinden. Kant entdeckt, dass diese drei Formbestimmungen (Substantialität, Kausalität, Wechselwirkung) Eigenschaften der Zeit sind und insofern alle Sätze in einer Form gebildet werden, die der Form der Zeit entspricht. Mit der Transzendentalen Deduktion wollte Kant zeigen, dass die Form der Dinge und die Form der Gedanken sachlich übereinstimmen, weil beide in der Form der Zeit stehen. Daher ist unabhängig vom jeweiligen Inhalt sichergestellt, dass Gegenstand und Gedanke überhaupt übereinstimmen können.

Ist das glaubwürdig und möglicherweise unnötig subtil gedacht? Das sah bereits Kant, den Fink zitiert: »Seine Weise, dieses Problem zu lösen, nennt er '... das Schwerste, das jemals zum Behuf der Metaphysik unternommen werden konnte.'« (125 mit Zitat aus den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können von 1783, Prol., AA IV:260.30-32). Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft die Deduktion ausgeführt und für die zweite Auflage völlig umgearbeitet. Um Kants Grundgedanken zu verstehen, scheint mir die Formulierung von Georg Picht am eingängigsten, vom Horizont der Zeit zu sprechen. Sowohl die uns zugänglichen physischen (vergänglichen) Dinge stehen im Horizont der Zeit (sie sind Werden und Vergehen unterworfen) wie auch unser Denken, das grundsätzlich nur in der Zeit und entsprechend den Eigenschaften der Zeit erfolgen kann.

126: Hegel durchschlägt den gordischen Knoten. Für ihn ergibt sich die Schwierigkeit der transzendentalen Deduktion nur deswegen, weil Gegenstand und Gedanke voneinander isoliert werden. Stattdessen sieht er in der Kraft die Kategorie, mit der Gedanke und Gegenstand von vornherein aufeinander bezogen sind. Das ist auf den ersten Blick nicht weniger subtil als Kants Vorgehensweise, wird sich jedoch als wesentlich einfacher erweisen, wenn es nur gelingt, Hegels Bruch mit der üblichen Philosophie mitzuvollziehen. Für Hegel ist das Besondere am Begriff der Kraft, dass sie sich von Anfang an dem Versuch entzieht, etwas in Gegenstand und Gedanke aufzuteilen. Fink versucht es in die Worte zu fassen: Die Kraft ist »gar nicht wie ein Objekt vorhanden«. Die Kraft ist kein Gegenstand, von dem erst ein Begriff gebildet und anschließend überprüft werden kann, ob der Begriff mit dem übereinstimmt, was die »wirkliche Kraft« ist. Sondern die Kraft und das Sein sind bereits an sich ein Begriff, und es wird zu verstehen sein, was Hegel damit meint. Fink bringt es in die provozierende Formel: »Das Sein ist Begriff«.

Bevor er das weiter ausführt, räumt er ein, dass so zu denken sich derart radikal vom gewohnten Denken unterscheidet, dass sich jeder fragen muss: Ist es »eine sinnlose Wortakrobatik«, ein »Narrenspiel«, das Hegel mit uns treibt? Wie kann eine Sache von sich aus ein Begriff sein und nicht darauf angewiesen bleiben, dass wir es sind, die einen Begriff von der Sache bilden? Es wird sich zeigen, dass die Kraft das paradigmatische Beispiel dafür ist.

127: Fink greift eine Analogie auf, die er bereits in der 11. Vorlesung eingeführt hat: »Die Wärmekraft ereignet sich als das Erwärmen des Wärmbaren durch das Feuer.« (122). Es geht um das Verhältnis der aktiven Wärmekraft und des zunächst passiv gedachten Wärmbaren, das die Wärmekraft erleidet. Das Erleiden ist keineswegs nur passiv gedacht. Eine Kraft wie die Wärme ist nur zu spüren, wenn sie auf einen Widerstand stößt. Wer eine heiße Herdplatte anfasst, spürt das, weil seine Hand wesentlich kälter ist. Die Hand leistet der Wärmekraft Widerstand. Das führt zum Erwärmen des Kalten, aber im Gegenzug auch zum Erkalten der Herdplatte, was jedoch erst empfunden werden könnte, wenn die Hand auf der Platte liegen bliebe und die geringen Wärmeunterschiede der von ihr bewirkten Abkühlung spüren könnte. Am Beispiel der Wärme und des Wärmbaren sieht Fink die »Gegenspannung«, das »Gegenspiel« von Kraft und Widerstand. Beide sind zugleich passiv wie aktiv. Das Wärmbare leistet der Wärmekraft Widerstand und wird erwärmt. Das Erwärmende trifft auf Widerstand und kühlt ab. Das ist im Ganzen der Prozess des Ausgleichs des Kälteren und Wärmeren (Thermodynamik).

128: Daraus zieht Fink die Folgerung: Die »wirkliche Kraft ist vielmehr eine Bewegung, die in sich selber die Pole erzeugt, zwischen denen sie spielt«.

129-130: Kraft als 'Gedanke'

129: Hegel überträgt das Gegenspiel von Kraft und Widerstand auf das Gegenspiel von Gegenstand und Gedanke. So wie es das Erwärmende und das Erwärmbare gibt, gibt es das Denken-Könnende und das Gedacht-werden-könnende (Denkbare). An dieser Stelle steht eins der wenigen Hegel-Zitate:

»Die Wahrheit der Kraft bleibt also nur der Gedanke derselben; und haltungslos stürzen die Momente ihrer Wirklichkeit, ihre Substanzen und ihre Bewegung in eine ununterschiedene Einheit zusammen. [...] diese Einheit ist ihr Begriff als Begriff.« (Phänomenologie des Geistes, HW 3.115, zitiert 128f)

Das verstehe ich so:

(i) So wie es das Wärmbare gibt, muss es etwas geben, das gedacht werden kann (oder etwas umständlich gesagt: wissbar ist). Damit es gedacht werden kann, muss es sich zeigen (so wie sich das Wärmbare der Wärme entgegenstellt). Es muss sich dem Wissen zugänglich machen. Dieses Sich-Zeigen, Sich-Präsentieren ist das eine Moment der Kraft, die zwischen dem Ding und dem Denken spielt.

(ii) Dem gegenüber muss es etwas geben, das für dieses Ding, das sich dem Wissen präsentiert, auch den Gedanken bilden kann, mit dem es das sich präsentierende Ding in Worte fasst. Das ist die Kraft des Denkens. In der bisherigen Philosophie wurde einseitig ausschließlich diese Kraft gesehen.

(iii) Diese Beziehung des Sich-dem-Wissen-Präsentierenden und dem Denken-Könnenden ist ihrerseits eine Bewegung (ein Prozess), und damit eine Kraft, die sich in dieser Bewegung äußert. Dies ist die Kraft, die bewirkt, dass zwischen dem Ding und dem Denken eine Beziehung aufgebaut wird, in dem sich das Ding zeigen und das Denken ihm einen Namen geben kann.

Diese Begriffe liefert Fink erst nach, nachdem er bereits mit dem dritten Abschnitt dieser Vorlesung begonnen hat. Dort schreibt er auf Seite 130: »Die Äußerung des Dinges wird jetzt primär begriffen als Sich-darstellen-für das Bewußtsein, als das Sich-dem-Wissen-Zeigen, als Gegenstehen, als Sichpräsentieren einem erkennenden Verhalten.« Deutlicher lässt es sich kaum mehr sagen. Er wird buchstäblich blumig: »Die Blumen gehen auf aus dem dunklen Grund der Erde und lassen ihre Farben wehen im Winde der Wiesen; im Frühling erscheint Persephone im Prangen und Blühen, die 'Wiedergekehrte' zeigt sich im lichten Tag, der die Fluren schmückt; die Sonne scheint, sie geht auf in ihrer eigenen Helle und läßt alles, was die Nacht verhüllte, wieder erscheinen.« (130f) Erst mit diesen Formulierungen wird vollends klar, was mit der von den Dingen ausgehenden Kraft gemeint ist, mit der sich die Dinge dem Wissen und dem Wissen-könnenden entgegen stellen und zeigen. Es bleibt, dies als Erscheinung zu verstehen und darüber Kants Verständnis von Ding-an-sich und Erscheinung geradezu auf den Kopf zu stellen, wovon der dritte Abschnitt der Vorlesung handelt.

130-135: Erscheinung als terminus medius von Verstand und Ding

129: Fink wiederholt: »Das Ding ist Ding an sich und Ding als Erscheinung; das sind nicht zwei Dinge, die miteinander nichts zu tun haben. [...] [Es] wird eben zusammengehalten vom Spiel der Kraft, die sein Wesen ist.«

130: Das Gedacht-werden-Könnende ruht nicht passiv in einer Wartehaltung, bis es von einem ihm fremden Gedanken aufgegriffen wird, sondern es präsentiert sich, es erscheint, äußert sich als Phänomen.

131: Mit der Neuzeit gab es eine Gegenbewegung. Die Neuzeit dachte »nicht mehr ausdrücklich den Weltaufgang des Seienden als Voraussetzung seiner Erkennbarkeit«, sondern nur an das für sich unbeteiligte Ding, das von außen in eine rationale Ordnung gebracht werden muss. Davon löst sich Hegel.

132: Fink spricht von einem Übergriff. Damit meint er aber nicht im Sinne der üblichen Bedeutung ein übergriffiges Verhalten, mit dem der Mensch die Natur in ihrer Autonomie verletzt, sondern ein Übergreifendes, wodurch Ding und Verstand als zwei Momente einer Einheit gedacht werden, die beide umfasst (übergreift). »Die Ontologie des Dinges wird somit von einer Ontologie der Wissensbeziehung übergriffen und abgelöst, worin Bewußtsein und Gegenstand als die zwei Seiten eines Kraftspiels genommen werden.«

Wissen ist für Hegel kein System von Aussagen über die Natur einer Sache, sondern ein Schluss (HW 3.117). Fink spricht nicht direkt von einem Schluss, sondern von der »Mitte zwischen den beiden Extremen Verstand und Ding an sich«. Der Verstand kann über die Erscheinungen auf das Ding an sich schließen. Damit wendet sich Hegel gegen Kant, für den der Verstand nur Aussagen (Urteile) über die ihm gegebenen Erscheinungen treffen und nicht auf das Ding an sich schließen kann.

133: Erscheinung hat den Ruf des Unvollständigen, wenn etwas bloß (nichts als) eine Erscheinung ist. Hegel übernimmt das offensiv und wendet es in das Gegenteil. »Und Schein versteht er als Nichtiges, als Tand, bloßen Anschein.«

Doch er ist weit mehr. Der Schein ist das Wechselspiel von Ding und Verstand. In einer Art Zusammenfassung wiederholt Fink die Botschaft dieser Vorlesung: Während Kant Ding an sich und Erscheinung einander gegenüberstellt, ist für Hegel die Erscheinung die Präsentation des Dinges, wie es sich zeigt, um gedacht werden zu können. Und in der anderen Richtung sind zwar die vom Verstand gebildeten Worte für sich gegenüber der wahren Natur nichts als Schall und Rauch, aber mit ihnen trifft der Verstand das Ding an sich.

Ist das noch Hegel?

In dieser Vorlesung bringt Fink nur drei Zitate von Hegel, aber er gebraucht ohne Stellennachweis fortlaufend und ganz selbstverständlich von Hegel benutzte Schlüsselbegriffe wie das »Spiel der Kräfte«. (Hegel spricht im Kapitel Kraft und Verstand nicht weniger als zwölfmal davon.) Doch wer von Fink zum Originaltext von Hegel oder anderer Hegel-Kommentatoren zurückgeht, wird überrascht sein: Dort scheint nur wenig von dem zu stehen, was Fink ausführt. Fink hat sich bewusst weit vom Originaltext entfernt, um das sehen zu können, was anderen bei ihrer Nähe am Text und ihrer Gebundenheit in ihrer jeweiligen Denktradition entgeht. Aber führt das dahin, dass er unbemerkt eigene Gedanken oder Übernahmen von Heidegger in Hegels Phänomenologie des Geistes hineinlegt?

Kritisch sind Aussagen wie »Es ist die eigentliche Grunderfahrung der Hegelschen Philosophie: das Sein ist Begriff« (126). Dafür findet sich bei Hegel kein wörtlicher Beleg. Hegel spricht auch nicht vom »Sich-darstellen-für das Bewußtsein«, dem »Sich-dem-Wissen-Zeigen« und »Sichpräsentieren« (130). Aber es gibt eine Stelle bei Hegel, die für mich ausreichend belegt, dass Fink Hegel zwar nicht in Worten übernommen, aber im Inhalt verstanden und mindestens für den Leser deutlicher getroffen hat als Hegel selbst. (Es ist zu erinnern, dass auch Hegel auf diese Weise seine Vorgänger gelesen und wiedergegeben hat.)

Ausgehend vom Kapitel über die Wahrnehmung, der zweiten Stufe des Bewusstseins, ist Hegels Frage: »Dies unbedingte Allgemeine, das nunmehr der wahre Gegenstand des Bewusstseins ist, ist noch als Gegenstand desselben; es hat seinen Begriff als Begriff noch nicht erfaßt.« (HW 3.107f) Mit dem »unbedingten Allgemeinen« sind zwei aufeinander bezogene Momente gemeint: Ein Ding besteht aus der Vielheit seiner Eigenschaften und ist daher gegenüber seinen besonderen Eigenschaften das Allgemeine. Und zugleich bildet jede Eigenschaft ein Feld, das als Gesamtheit aller Dinge das Allgemeine ist, die in dieser Eigenschaft übereinstimmen. Das entspricht genau dem Wissen der modernen Physik: Dinge gelten als messbare Objekte, und deren Eigenschaften werden in einem nicht einheitlichen Sprachgebrauch als Messgrößen, Dimensionen, Achsen, Freiheitsgrade, Quantenzahlen bezeichnet. Auf der anderen Seite gibt es für jede Eigenschaft Felder: So wird vom Schwerefeld gesprochen, das alle schweren Dinge umfasst, oder vom elektrischen Feld der elektrisch geladenen Dinge, im übertragenen Sinn auch vom Farbfeld, Hörfeld oder Tastfeld der farbigen, tönenden bzw. taktilen Dinge.

Der Blick wandert hin und her zwischen den Dingen als dem Allgemeinem ihrer Eigenschaften und den Feldern als dem Allgemeinen der vielen Träger der jeweiligen Eigenschaft. Während die Physik nur die Felder als Medium bezeichnet, macht Hegel auf die übergreifende Symmetrie aufmerksam: Für ihn ist sowohl das Ding als das Medium seiner Eigenschaften wie im üblichen Sinn das Feld als das Medium einer bestimmten Eigenschaft zu verstehen.

Hegel ist gegenüber der gewöhnlichen Vorstellung konsequenter: Jeder gesteht zu, dass ein Ding viele Eigenschaften haben kann, die meist als Merkmalliste aufgeführt werden. Hegel fragt: Wenn jede Eigenschaft ihrerseits Element in einem Feld ist, kreuzen sich in einem Ding die jeweiligen Felder, denen die Eigenschaften zugehören. Die Felder »durchdringen sich gegenseitig, – ohne aber sich zu berühren, weil umgekehrt das viele Unterschiedene ebenso selbständig ist« (HW 3.110). Wie ist das möglich? Hegel will sagen, dass dies ein Medium erfordert, das die unterschiedlichen Eigenschaften sowohl zusammen zu halten wie auch in ihrer Selbständigkeit zu bewahren vermag. Dies Medium darf nicht verwechselt werden mit dem jeweils einzelnen Medium, in dem sich die Träger der einzelnen Eigenschaften wie die Schwere oder die Elektrizität befinden, sondern es ist ein übergreifendes Medium, in dem die einzelnen Medien zusammengebracht werden, wobei an ihren Überschneidungen die Dinge wie Knoten hervortreten.

»Die selbständig gesetzten gehen unmittelbar in ihre Einheit und ihre Einheit unmittelbar in die Entfaltung über und diese wieder zurück in die Reduktion. Diese Bewegung ist aber dasjenige, was Kraft genannt wird: das eine Moment derselben, nämlich sie als Ausbreitung der selbständigen Materien in ihrem Sein, ist ihre Äußerung, sie aber als das Verschwundensein derselben ist die in sich aus ihrer Äußerung zurückgedrängte oder die eigentliche Kraft. Aber erstens die in sich zurückgedrängte Kraft muß sich äußern; und zweitens in der Äußerung ist sie ebenso in sich selbst seiende Kraft, als sie in diesem Insichselbstsein Äußerung ist.« (HW 3.110)

Diese Vorstellung dürfte jedem Naturwissenschaftler vertraut sein: Zum Beispiel ist jeder Gegenstand eines Schwerefelds sowohl den Anziehungskräften anderer schwerer Dinge ausgesetzt, wie er seinerseits auf sie eine Anziehungskraft ausübt und sich diese Kraft im Feld ausbreitet. Jede Naturwissenschaft hat genau die Schwierigkeit, um die es Hegel geht: Eine Kraft kann sich nur zeigen, indem sie sich ausbreitet, und sie kann sich nur gegenüber anderen Dingen ausbreiten, deren Kraft sie unterworfen ist. Hegel unterscheidet an der Kraft ihre Quelle (»die eigentliche Kraft«) und ihre Äußerung.

Das lässt sich als der Versuch verstehen, die Fragen und Vorgehensweise der Naturwissenschaft in Worte zu fassen. Doch geht es Hegel nicht nur darum zu beschreiben, was naturwissenschaftlich unter Kraft verstanden wird, sondern er sieht in dem Verhältnis von Quelle und Äußerung einer Kraft eine übergreifende Frage. An dieser Stelle bildet er eine Analogie zwischen den von uns beobachteten Kräften und ihren Wirkungen und dem Verhältnis des Beobachters und des Beobachteten, oder in den Worten von Hegel des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen.

»Es erhellt im allgemeinen, daß diese Bewegung nichts anderes ist als die Bewegung des Wahrnehmens, worin die beiden Seiten, das Wahrnehmende und das Wahrgenommene zugleich, einmal als das Auffassen des Wahren eins und Ununterschieden, dabei aber ebensowohl jede Seite in sich reflektiert oder für sich ist. Hier sind diese beiden Seiten Momente der Kraft; sie sind ebensowohl in einer Einheit, als diese Einheit, welche gegen die für sich seienden Extreme als die Mitte erscheint, sich immer in eben diese Extreme zersetzt, die erst dadurch sind.« (HW 3.111)

Das ist für mich der Nachweis, dass Fink (und Heidegger) Hegel richtig verstehen. Das Wahrgenommene und das Wahrnehmende verhalten sich wie die beiden Momente der Kraft (Quelle und Äußerung). Anders als Kant und die übliche Philosophie sieht Hegel die Kraft nicht nur einseitig auf der Seite des Wahrnehmenden, sondern auf beiden Seiten. Hegel formuliert so deutlich wie möglich, dass mit Wahrnehmen nicht bloß die sinnliche Erkenntnis, sondern weiter gefasst »das Auffassen des Wahren« gemeint ist. Das Auffassen des Wahren aber ist das Anliegen jeder Wissenschaft und Philosophie. Es wurde bisher einseitig beim Subjekt gesehen. Hegel sieht es entsprechend den Momenten der Kraft als Wechselspiel.

Zusammenfassend verstehe ich als Anliegen von Fink und Heidegger, Hegels Gedankengang in einer Weise zu vereinfachen, dass ihre wichtigste Aussage hervortritt, von allen Beispielen aus der Naturwissenschaft gelöst und dadurch allgemeiner verständlich wird, ohne an inhaltlichem Gehalt zu verlieren.

Ausblick: Es genügt nicht, vom Wechselspiel der Kräfte zu sprechen. Es müssen wertende Gesichtspunkte hinzukommen: Das Wechselspiel wird daran gemessen, ob es fruchtbringend ist. Es ist nicht ein bloßes Spiel gemeint, wie es zum Beispiel zu sehen ist, wenn sich Wellen überlagern und auf der Wasser- oder Sandoberfläche Muster bilden, sondern es geht um das Aufblühen der sich in den Mustern der Wechselspiele zeigenden Formen. Dazu ist ein eigener Beitrag in Arbeit, der in Grundzügen am 5.8.2022 bei einer Logik-Konferenz in Liverpool vorgetragen wurde.

Siglenverzeichnis

HW = Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes
in: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971; Link

KrV = Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781, 1787

MAN = Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Riga 1786
in: in: Akademie-Ausgabe Band IV, Berlin 1911 AA IV

Prol. = Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Riga 1783
in: Akademie-Ausgabe Band IV, Berlin 1911 AA IV

Literaturhinweise

Thomas Auinger: Genese und Exposition der Erscheinung in Hegels Phänomenologie des Geistes, academia.edu [1999]

Georg Cantor: Briefe, herausgegeben von Herbert Meschkowski und Winfried Nilson, Berlin u.a. 1991

Eugen Fink: Hegel, Frankfurt am Main 2012 [1977]; PDF bei kupdf

Hans-Georg Gadamer: Neuere Philosophie I, Hegel · Husserl · Heidegger (Gesammelte Werke Band 3), Tübingen 1987

Martin Heidegger 1931: Hegels Phänomenologie des Geistes, Freiburger Vorlesung Wintersemester 1930/31, Frankfurt am Main 1980 (Gesamtausgabe Bd. 32)

Martin Heidegger 1936-38: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt 1989 (Gesamtausgabe Bd. 65)

Martin Heidegger, Eugen Fink: Heraklit, Frankfurt 1970 (Gesamtausgabe Bd. 15)

Edmund Husserl: Allgemeine Erkenntnistheorie, Vorlesung 1902/03, Dordrecht 2001

Georg Picht: Von der Zeit, Stuttgart 1999

Paul Tillich: Vorlesung über Hegel (Frankfurt 1931/32), Berlin, New York 1995

Walter Tydecks 2017: Auflösung des Widerspruchs in den Grund
in: Hilmar Kunath, Thomas Collmer (Hg.): Rollercoaster # 10, Hamburg, Ahrensburg 2017, S. 1-12
unter: http://www.tydecks.info/online/logik_kraft_aufloesung_widerspruch.html

Walter Tydecks 2022: Aufblühen der Form, Bensheim 2022 (Vortragsmanuskript)

2022


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