Walter Tydecks

 

Das gefährdete Denken des Menschen

– Bemerkungen zur Natur der Reflexion im Werden und Vergehen ihrer Bestimmungen nach Hölderlin und Hegel

Vortrag am 8.12.2017 beim Arbeitskreis zu Hegels Naturphilosophie in Leipzig Ist Hegels Naturphilosophie eine Transzendentalphilosophie? (überarbeitete Version)

Vorwort

Im Luther-Jahr 2017 blieben weitergehende Fragen über die Theologie und Philosophie des Protestantismus eigenartig ausgespart. Gilt Luther sogar für die Evangelische Kirche als Vertreter einer glücklicherweise längst verabschiedeten historischen Epoche, der unserem heutigen Lebensgefühl kaum mehr etwas zu sagen hat? Manchmal bedarf es einer Außensicht, um die Verhältnisse ins richtige Licht zu rücken. Heinrich Heine (1797-1856) hatte in Berlin bei Hegel studiert und ihn persönlich kennen gelernt. Er schrieb wenige Jahre nach Hegels Tod für das französische Publikum De l'Allemagne depuis Luther (Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland) und sieht Hegel weniger in der europäischen philosophischen Tradition von Descartes, Locke, Spinoza, Leibniz und Kant, sondern in einer deutschen Tradition, die auf Luther zurückgeht. Hegel stammte aus einer tief protestantischen Familie. Er wurde 1818 auf Erlass des preußischen Königs nach Berlin berufen, unmittelbar nachdem im Jahr zuvor vor genau 200 Jahren in einem früheren Luther-Jahr 1817 mit dem Zusammenschluss zahlreicher reformierter und lutherischer Gemeinden die Evangelische Kirche in Preußen gegründet wurde, der Vorläufer der heutigen Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Berufung Hegels war sicher mit der Erwartung verbunden, dass von ihm geistige Impulse auf die neu geordnete evangelische Kirche ausgehen. Wenn im Folgenden vom gefährdeten Denken des Menschen gesprochen wird, ist damit der Einfluss Luthers auf Hegel gemeint. Auch wenn erst nachfolgende Philosophen wie Kierkegaard oder Heidegger die existenziale Gefährdetheit des menschlich verfassten Denkens klar hervorgehoben haben, sehe ich bei Hegel einen ihrer Vorläufer. Mir ist bewusst, dass sich Hegel mit direkten Äußerungen zu Luther sehr zurückgehalten hat und Hegel in der Tradition von Luther zu sehen nicht dem gängigen Hegel-Bild entspricht. Um die Bedeutung Luthers für Hegel zu verstehen, sollte es genügen daran zu erinnern, was Hegel bereits 2 Jahre nach seiner Berufung nach Berlin 1820 im Vorwort zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts programmatisch geschrieben hatte: »Was Luther als Glauben im Gefühl und im Zeugnis des Geistes begonnen, es ist dasselbe, was der weiterhin gereifte Geist im Begriffe zu fassen und so in der Gegenwart sich zu befreien und dadurch in ihr sich zu finden bestrebt ist.« (HW 7.27) – Für mich ist das Treffen des Arbeitskreises zu Hegels Naturphilosophie 2017 in Leipzig ein unerwarteter Anlass, Hegels Philosophie ein wenig aus einem anderen Licht zu sehen.

Einleitung

»Ist Hegels Naturphilosophie eine Transzendentalphilosophie?« In meinem Beitrag möchte ich das Thema der diesjährigen Tagung gewissermaßen rückwärts lesen: Für Luther sind die Freiheit und die Gefährdung des Menschen nicht zu trennen. Der Mensch erkennt in seiner Freiheit, wie gefährdet er ist, und er erkennt in seiner Gefährdung, welche Freiheit ihn vom Tier unterscheidet. Gilt das auch für das Denken? Gemäß griechischer Tradition und der Überzeugung der Aufklärung kann sich der Mensch im Denken von den physischen Beschränkungen lösen. Dagegen möchte ich zeigen, wie für Hegel  am Denken  dessen Vergänglichkeit nachweisbar ist. In der Wissenschaft der Logik ist mit Vergänglichkeit des Denkens nicht gemeint, dass der Mensch mit dem Tod aufhört zu denken, oder dass er sich im Denken täuschen und alle Ergebnisse des Denkens prüfen und korrigieren muss. Es ist auch nicht gemeint, dass sich seine in Gedanken formulierten Ziele in der Realität bewähren müssen und nie in völliger Reinheit verwirklichen lassen. Das trifft zwar alles zu, ist jedoch für Hegel Gegenstand seiner Phänomenologie des Geistes. In der Wissenschaft der Logik will er zeigen, wie die Denkbestimmungen-an-sich vergänglich sind. Wenn er von der Natur der Reflexion spricht, ist das ganz wörtlich gemeint: Die Reflexion ist für ihn unabhängig von den jeweiligen Inhalten, über die reflektiert wird, vergänglich. Es muss vom Werden und Vergehen der Reflexionsbestimmungen gesprochen werden. Damit ist nicht das Werden und Vergehen der Inhalte gemeint, über die mit den Reflexionsbestimmungen reflektiert wird, sondern das Werden und Vergehen der Reflexionsbestimmungen selbst. Hegel hebt die überlieferte Trennung in Natur- und Geistesphilosophie auf, vertritt einen weiter gefassten Begriff der Natur und versteht in christlichem Sinn das Denken des Menschen als eine Natur, die ihm auf paradoxe Weise von Gott verliehen wurde mit den Möglichkeiten der Freiheit wie auch der Gefährdung des Scheiterns. In meiner Deutung verlieren bei Hegel das Denken und die Denkbestimmungen ihren metaphysischen Charakter. Sie stehen nicht mehr wie absolute Ideen der Natur und ihren Bewegungen gegenüber, sondern sind von ihrer eigenen vergänglichen Natur her zu verstehen. In dieser Sicht rückt Hegel stärker in die Nähe sowohl von Kant und Fichte, die es für unmöglich gehalten haben, der Mensch könne in seinem Denken über ein negativ bestimmtes Ideal des Absoluten hinauskommen und über das Absolute verfügen, wie auch von Kierkegaard und Heidegger, die in lutherischer Tradition auf die existenziale Verfasstheit des Menschen verwiesen haben.

Hegels Gebrauch des Wortes ‘Natur’ in der Wissenschaft der Logik

Wie ist es zu verstehen, wenn Hegel von der »Natur der Reflexion« spricht (z.B. HW 6.47), obwohl doch meistens der Geist und das Denken der Natur gegenüber gestellt werden? Hat Hegel unkritisch einen umgangssprachlichen Gebrauch übernommen, wonach es mehr oder weniger dasselbe bedeutet, von der Natur, dem Wesen oder dem Begriff von etwas zu sprechen und alle ihre Unterschiede und Besonderheiten verwischt zu werden drohen? Meiner Meinung nach wählt er sehr bedacht seine Worte. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Wissenschaft der Logik schreibt er, das Logische sei die »eigentümliche Natur« des Menschen. Hegel ist sich möglicher Missverständnisse bewusst und unterscheidet im gleichen Atemzug die Natur des Menschen vom »Physikalischen« und vergleicht sie mit dem »Übernatürlichen« (HW 5.20). Während das Physikalische in die Naturphilosophie im engeren Sinn fällt, kann für ihn dennoch über das Physikalische hinaus das Logische als die Natur des Menschen gesehen werden. Konsequent spricht er im Weiteren fortlaufend von der Natur des Denkens und der Natur der jeweils von ihm entwickelten Denkbestimmungen. Er geht so weit, »die Natur« als den »Begriff der Sache, das in ihr selbst Allgemeine« zu bezeichnen (HW 5.26, Hervorhebungen bei Hegel).

Hegel ist sich des hier auftretenden doppelten Gebrauchs des Wortes 'Natur' bewusst. Das Denken ist immer zugleich im eigenen Innern Natur (hat eine eigene Natur) und verweist in seinen Denkinhalten auf die Natur als etwas Äußeres. Das Innere und das Äußere stehen sich jedoch nicht abstrakt gegenüber. Wenn von der Natur des Denkens und der Reflexion gesprochen wird, tragen diese an-sich-selbst eine Seite, die auf das Andere-ihrer-selbst verweisen. Das gilt für beide Seiten: So wie das Denken an-sich die ihr gegenüberstehende Natur trägt, enthält die Natur an-sich das ihr gegenüberstehende Geistige. Jede Seite enthält zugleich das Andere-an-ihm-selbst. Dieser Gedanke geht für Hegel auf Platon zurück. Er spricht im Kapitel über »Etwas und ein Anderes« zum heteron bei Platon und die physische Natur als das Andere des Geistes (HW 5.127, Hervorhebungen bei Hegel).

Konsequent zu Ende gedacht widerspricht dieser Gedanke den üblichen Vorstellungen über das Denken und die Logik. Mit Natur des Denkens (genitivus objectivus) ist nicht gemeint, wie im Denken der Begriff des physischen Prozesses entwickelt wird (z.B. der Begriff des Werdens, der Begriff der Lebendigkeit oder der Begriff der Natur). Es sind auch nicht (genitivus subjektivus) die chemischen, biologischen oder neurologischen Vorgänge im Gehirn gemeint, die beim Denken erfolgen und in einer vereinfachenden Sicht als dessen Natur angesehen werden könnten. Und es geht mit der Natur der Denkens nicht um das historische Entstehen und Vergehen philosophischer Begriffe in der Geschichte des menschlichen Denkens (wenn Hegel in der Wissenschaft der Logik in den Anmerkungen fortlaufend Hinweise gibt, wie die von ihm logisch entwickelten Begriffe historisch entstanden und vergangen sind). Mit Natur des Denkens ist nicht der Gedanken- oder Bewusstseinsstrom gemeint, wenn ein Begriff an die Stelle des anderen tritt und ihn ablöst, sondern es geht ausdrücklich darum, dass im Denken Begriffe  als Begriffe werden und vergehen  und sich darin in einem ganz wörtlichen Sinn die Natur (die physis, die Vergänglichkeit) der Begriffe zeigt. Wenn Hegel das exemplarisch an den Reflexionsbestimmungen Identität, Unterschied, Gegensatz, Widerspruch und Grund ausführt, die für ihn an die Stelle der Transzendentalphilosophie treten, hat er buchstäblich von Grund auf die Vergänglichkeit des Denkens gezeigt und schildert in dramatischen Worten die Krisen, die das menschliche Denken durchläuft. Das bringt zwar die Gefahr des Scheiterns mit sich und zeigt die Gefährdung des Denkens, ist zugleich aber der einzige Weg, die andere Gefahr eines in paradoxen Sätzen erstarrten Denkens zu vermeiden und die Freiheit des Denkens zu verstehen.

Im Folgenden möchte ich zeigen, wie dieser Gedanke seit Descartes und Kant vorbereitet ist, bei Hölderlin offen hervortrat und von Hegel in seiner Reflexionslogik ausgeführt wurde.

Naive und kritische Sicht auf die Gedanken und das Denken

Als die Philosophie der Neuzeit begann, die Gedanken und das Denken wie eigenständige Gegenstände mit eigenen Prädikaten und inneren Beziehungen zu betrachten, die nicht einfach identisch sind mit den von ihnen angesprochenen Inhalten, verstand sie das Denken und dessen Gedanken auf naive und kritische Art in ähnlicher Weise wie Naturgegenstände. In ihrer Selbstreflexion versuchte sie sich selbst so zu verstehen, als könne sie über sich selbst so sprechen wie über Gegenstände der Natur, künstliche Dinge und die Ordnung der Natur im Ganzen. Nach ihren Erfolgen in der Naturwissenschaft hoffte sie, mit der gleichen Methode sich selbst erkennen zu können. Um zu verstehen, wie sich Hegel von dieser naiven Absicht abwendete und dennoch dabei blieb, von der Natur des Denkens zu sprechen, ist kurz daran zu erinnern, wie Descartes und Kant vorgegangen waren.

Descartes zweifelte an der Wahrheit und Gültigkeit der Gedanken. Es ist für ihn auch nicht möglich, gewissermaßen von außen die Gedanken mit den von ihnen gemeinten Sachen zu vergleichen und an ihnen zu messen, denn diese Prüfung erfolgt ihrerseits wiederum in Gedanken. Daher stellte sich ihm die Frage: Tragen die Gedanken  unabhängig vom jeweiligen Inhalt  an sich selbst Prädikate, an denen ihre Wahrheit zu erkennen ist? Das sind für ihn Meta-Prädikate wie ‘Klarheit’ und ‘Durchsichtigkeit’. Sie lassen sich nicht an einzelnen Gedanken, sondern am Gedankengang im Ganzen untersuchen, an dessen inneren Zusammenhalt, Überzeugungskraft und Widerspruchslosigkeit. Wenn diese gegeben sind, ist das für Descartes Zeichen der Wahrheit. Die Wahrheit eines Gedankens lässt sich für Descartes an den formalen Eigenschaften des Gedankengangs erkennen, in dem der Gedanke steht, und gilt unabhängig vom jeweiligen Inhalt, der mit ihm ausgesagt wird. Diese Grundannahme bestimmt bis heute die vorherrschende Strömung der neuzeitlichen Philosophie und ist im Weiteren in den unterschiedlichen Varianten logischer und analytischer Forschung ausgearbeitet worden.

Descartes gebraucht die Prädikate des Denkens noch naiv, so als könnten die Eigenschaften der Gedanken in ähnlicher Weise bestimmt werden wie die Eigenschaften von physischen Gegenständen. Er übernimmt sie metaphorisch von bestimmten Naturgegenständen wie dem Glas oder dem Wasser und verlässt sich auf das mitgehende Verständnis, was mit einem »glasklaren Gedanken« oder einer »flüssig« geschriebenen Abhandlung gemeint ist.

Aufgewacht aus dem dogmatischen Schlummer stellte sich Kant die Frage neu. Es geht für ihn vorrangig nicht um einzelne Beobachtungen oder Prädikate, was die Dinge oder die Gedanken sind (das empirische Denken), und auch nicht um die Klarheit und Flüssigkeit des Denkens (die Diszipliniertheit der Methode des Denkens), sondern um den Horizont, an den das Denken gebunden ist. Niemand kann wissen oder empirisch beweisen, dass die Sonne morgen wieder wie gewohnt aufgehen wird, aber wir wissen für Kant von unserem Denken, dass es sich grundsätzlich im Horizont der Zeit bewegt und daher implizit unterstellt, dass die Sonne ihre Bahn in der Zeit fortsetzen wird. Wir können nicht anders denken als vorauszusetzen, dass alle unsere Denkinhalte den übergeordneten Gesetzen der Zeit folgen. Für alles, was wir denken, setzen wir nach Kant implizit voraus, dass es im Horizont der Zeit steht und ihren Eigenschaften unterworfen ist. In seiner transzendentalen Logik erklärt er daher die Reflexionsbegriffe und die Schemata des Denkens aus den Eigenschaften der Zeit. Damit hat bereits Kant in größter Abstraktheit den Gedanken begründet, warum das Denken seinerseits naturhaft ist: Die innere Übereinstimmung (Wahrheit) des Gedankens mit seinem Inhalt (den physischen Gegenständen) erklärt sich für ihn daraus, dass beide im Horizont der Zeit stehen und damit wie die Natur Werden und Vergehen unterworfen sind.

Kant ist sich der Gefahr von Verwechslungen bewusst, wenn nicht nur die Gegenstände des Denkens, sondern das Denken selbst im Horizont der Zeit steht. Es droht eine »Verwechselung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem Transzendentalen«, wovon er im »Anhang: Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe« handelt (KrV B316-349). Kant wirft das Leibniz vor, wenn dieser aus der Eigenschaft des Denkens, seine Gegenstände nur in den Reflexionsbegriffen von Identität, Unterschied, Widerspruch und Grund denken zu können, schließt, dass auch die vom Denken gedachten Sachen ihrerseits über Identität, Unterschied und Grund verfügen und z.B. für jede Sache gilt, dass es für sie einen zureichenden Grund gibt. Das ist für Kant ein unzulässiger Schluss von den Eigenschaften der Denkbestimmungen auf Eigenschaften der vom Denken gedachten Inhalte. Es ist ein transzendentaler Schein, der sich mittels der Kritik der reinen Vernunft aufklären lässt.

Auch wenn Hegel den Spott Kants gegenüber Leibniz teilt, wonach sich z.B. am Vergleich der Baumblätter des Herrenhäuser Gartens bei Hannover ein philosophischer Satz herleiten lasse (HW 6.53), ist er im Gegensatz zu Kant davon überzeugt, dass sich nie der mit dem Denken gegebene transzendentale Schein auflösen lässt. In gewisser Weise ist er konsequenter als Kant: So wie sich für Kant das Ding-an-sich nie als solches zeigt, sondern nur in seinen Erscheinungen, gehört es für Hegel zur Natur des Denkens, an den Schein gebunden zu sein. Es gibt keinen Gedanken-an-sich, sondern nur die Reflexionen, mit denen gedacht wird und in denen sich der Gedanke zeigt. Das Denken kann sich nur im Medium von Schein und Reflexion bewegen. Wird dagegen vorgebracht, dass jeder Schein nur vergänglich und nichtig ist, während das Denken das Unvergängliche treffen soll, das nicht seinerseits Schein ist, sondern sich im Schein zeigt, vertritt Hegel radikal die Gegenposition: »Seine Nichtigkeit an sich ist die negative Natur des Wesens selbst.« (HW 6.21) Jedes Denken ist gegenüber seinen Gegenständen in gewisser Weise nichtig und bloßer Schein. Unsere Gedanken (und ganz konkret: unsere Worte) sind nie die Sachen selbst, die mit ihnen ausgesprochen werden, sondern nur unsere Vorstellungen von ihnen. Die Kritik des Skeptizismus (und später des Radikalen Konstruktivismus) am Denken hat einen wahren Kern, doch hat Hegel seit der Phänomenologie des Geistes die Einsicht gewonnen, daraus nicht dem Denken dessen Beliebigkeit und innere Leere vorzuhalten, sondern umgekehrt am Schein dessen eigene Macht zu erkennen. Nur in der Macht des Scheins kann sich die Macht des Denkens bewegen und äußern. Was ist die Macht des Scheins? Im Schein zeigt sich das Licht, dank dessen etwas aufscheinen kann. Gäbe es den Schein nicht und bliebe die Möglichkeit des Aufscheinens verschlossen, dann liefe das Denken in die Leere. (Diese Gefährdung haben Kierkegaard und Heidegger explizit gemacht. Das Denken kann jeden inneren Halt verlieren, wenn es in Verzweiflung gerät oder in eine dürftige Zeit, in der sich die Natur verbirgt und nicht mehr aufscheint. Die Macht des Aufscheinens ist dem Menschen nicht gegeben. Er kann sie nicht erzwingen, sondern ist darauf angewiesen, dass sie gegeben ist und er auf sie bauen kann. Wenn alles gut geht, gilt sie wie von selbst. Dann ist das kategoriale Denken aus sich selbst heraus gesichert. Seit Luther gilt jedoch die christliche Überzeugung, dass der Mensch seine Freiheit nur indirekt und negativ in der existenzialen Erfahrung der Verdunkelung und Gefährdung greifen kann.)

Das ist noch konkreter zu fassen. Die Reflexion ist für Hegel nicht einfach eine Gegebenheit, über die das Denken verfügt, sondern die Reflexion geht aus dem Schein hervor. Die Reflexion ist ein Schein-Phänomen, und sie lässt sich nur verstehen, wenn im Einzelnen an den Reflexionsbestimmungen gezeigt werden kann, wie sich an ihnen die Macht des Aufscheinens zeigt.

Die Wende mit Hölderlin

Um diese radikale Umwälzung des philosophischen Denkens verstehen zu können, ist ein Schritt zurück zu gehen. Die Wende kam mit Hölderlin. Als er in jungen Jahren 1794 in Jena Fichtes erste Vorlesung über die Wissenschaftslehre gehört und die Anfänge der romantischen Bewegung miterlebt hatte, entstand daraus die intuitive Idee, wie sich in diesen welthistorisch bedeutsamen Jahren nicht nur in der Französischen Revolution die Ziele der Aufklärung in ihr Gegenteil zu verkehren begannen, sondern sich auch der absolute Vernunft-Anspruch der Deutschen Philosophie in unauflösbare Widersprüche verfing. Das betrifft gleichermaßen ihre theoretische Architektur wie den Anspruch einer praktischen Umsetzung, die nach 1792 so nahe gekommen schien wie nie zuvor und doch gänzlich versagte. Er sah darin eine Wiederholung der griechischen Tragödie. So wie König Ödipus in dem Maß ins Verderben stürzte, wie er in einem unerbittlichen Aufklärungsdrang seine eigene persönliche Geschichte und deren Hintergründe zu verstehen begann, droht jedes Denken umzuschlagen, das für sich beansprucht, sich über die Wildheit und das Chaos seiner Umgebung und seiner eigenen Bedingungen erheben und sie überschauen zu können und sich mit Kant anschickt, umfassend den eigenen Horizont und den Horizont der von ihm gedachten Inhalte zu begreifen.

Das hat er 1799-1800 in seinen theoretischen Ausführungen Grund zum Empedokles zur unvollendet gebliebenen Tragödie Der Tod des Empedokles dargelegt. Empedokles scheitert sowohl als Naturphilosoph wie als Staatsmann. Hölderlin gestaltet in ihm die großen Hoffnungen der Philosophie wie der Politik, die er in diesen Jahren erlebte, wie auch deren Untergang, als Empedokles keinen anderen Ausweg weiß als sich auf dem Ätna in das Feuer zu stürzen, Sinnbild des Chaos und der völligen Auflösung. Zurück blieben nur dessen angesengte Schuhe. In einem Satz zusammengefasst wollte er an der Figur des Empedokles zeigen, wie sich im Erkenntnisprozess die erkannte Natur und der erkennende Mensch gegenseitig ändern, bis sich ihre Position völlig ausgetauscht hat: Aus der ursprünglich ungeordneten, wilden Mannigfaltigkeit der Natur ist dank des Menschen und seines methodischen Denkens eine organische Natur hervorgegangen, wie es sich bereits in diesen Jahren am heraufziehenden Siegeszug der positiven Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts abzeichnete, aber im gleichen Moment hat sich die Wildheit (das Aorgische) von der Natur auf den Menschen übertragen, so dass in Hölderlins Worten »die Natur organischer durch den bildenden cultivirenden Menschen, überhaupt die Bildungstriebe und Bildungskräfte, hingegen der Mensch aorgischer, allgemeiner, unendlicher geworden ist.« (HSA 1, 868). Das führt so weit, »daß bei ihm und für ihn das sprachlose Sprache [...], daß er ununterschiedener und ununterscheidender gedankenloser in der Wirkung, unvergleichbarer, unbildlicher, aorgischer und desorganischer ist« (ebd., 870).

Die von Descartes bis Kant methodisch erarbeiteten Eigenschaften des Denkens, seine Klarheit, Kontinuität und Eingebundenheit in den Horizont der Zeit lösen sich im Moment ihres größten Triumphs auf, vergehen und bedürfen eines neuen Werdens, um wieder aufleben zu können. Damit ist erstmals nicht die Entwicklungsgeschichte eines Denkers, sondern am Beispiel von Empedokles der Erfolg und Untergang des Denkens selbst beschrieben, dessen vergängliche und gefährdete Gestalt.

Die »Natur der Reflexion« nach Hegel

Hölderlin hat seine Vision in seinen Gedichten gestalten, aber weder philosophisch ausarbeiten noch auf die weitere Entwicklung der politischen Lage beziehen können, die in Preußen nach dem Sieg über Napoleon zu einer Restauration des evangelischen Glaubens als Staatskirche führte. Aber er befand sich in den Jahren 1799-1800 in engem Gedankenaustausch mit Hegel, dem er in Frankfurt eine Stelle vermittelt hatte. Hegel ist später nie ausdrücklich darauf zurückgekommen und erwähnt Hölderlin nicht einmal in seinen Ästhetik-Vorlesungen, aber ich möchte die These vertreten, dass er diesen Grundgedanken von Hölderlin in seine Reflexionslogik übernommen hat. Während sich Hölderlin in der Tradition der griechischen Tradition sieht und in der Ästhetik und den ästhetischen Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen einen Weg sucht, diese Tragödie mindestens gestalten und möglicherweise sogar im Sinne der Katharsis-Theorie von Aristoteles reinigen zu können, ist für Hegel mit dem Christentum und dort insbesondere der Reformation durch Luther eine auf dem Wort beruhende Philosophie an die Stelle der tragischen Kunst getreten. Hegel spricht nicht wie Hölderlin vom Denkenden oder einer Tragödie wie der von Empedokles, der seine organische Ausgeglichenheit verliert, sondern er zeigt  an den Reflexionsbestimmungen des Denkens, wie sie in ihrer Entwicklung aorgisch und desorganisch werden. Dieser Gedanke ist so radikal und von Hegel nur in wenigen Formulierungen angedeutet, dass er meistens übersehen wird oder einfach unverstanden bleibt.

Schrittweise entfernt sich Hegel von einer Metaphysik, die ihre Begriffe und Sätze abstrakt einander gegenüberstellt. Er betont an den Reflexionsbestimmungen ihre innere Bewegtheit, bis es zu einer in fast katastrophischen Worten beschriebenen Auflösung des Widerspruchs kommt.

Schon für den ersten und elementarsten Satz der Metaphysik, die Identität ›A = A‹ gilt: »Statt das unbewegte Einfache zu sein, ist sie das Hinausgehen über sich in die Auflösung ihrer selbst.« (HW 6.44) Das kann noch so gedeutet werden, als suchte Hegel mit Formulierungen dieser Art eine Beschreibung des Ineinander-Scheinens der Reflexionsbestimmungen: Was mit sich identisch ist, kann als solches nur erkannt werden, wenn es in seiner Identität unterschieden werden kann von Anderem. Die Bestimmung der Identität ist nicht möglich ohne ihr Gegenteil, der Bestimmung des Unterschieds. Das könnte in ein leeres Spiel einander spiegelnder Worte führen. Ganz anders bei Hegel. Nicht nur ist mit der Identität notwendig ihre eigene Auflösung im Unterschied gegeben, sondern mit dem Unterschied die »Natur der Reflexion«:

»Der Unterschied ist das Ganze und sein eigenes Moment, wie die Identität ebensosehr ihr Ganzes und ihr Moment ist. – Dies ist als die wesentliche Natur der Reflexion und als bestimmter Urgrund aller Tätigkeit und Selbstbewegung zu betrachten.« (HW 6.47)

Ohne Umwege trifft Hegel in das Herz der späteren analytischen Philosophie: Wenn für ihn die Identität wie auch der Unterschied zugleich das Ganze und ihre Moment sind (die Identität ist nicht denkbar ohne den Unterschied und damit dem Ganzen von Identität und Unterschied), nimmt er die Russellsche Antinomie vorweg. Was Russell am Begriff der Menge oder anderen Grundbegriffen der Mathematik zeigen wollte in der Hoffnung, dass sich dort die Paradoxie des Ganzen und seiner Momente in einem Sondergebiet der Mathematik gewissermaßen einkapseln und von allem anderen Denken fernhalten lässt, das steht für Hegel in der Mitte der Reflexionsbestimmungen und damit eines jeden Denkens. Das Paradox vom Ganzen, das sich selbst als Moment enthält, kann nur aufgelöst werden, wenn dies Paradox nicht als ein in sich widersprüchlicher Satz, sondern als die »Natur der Reflexion« verstanden wird, die dank ihrer Lebendigkeit das Paradox auszuhalten und aus ihm hinaus zu gelangen vermag. Mit den Worten »Tätigkeit und Selbstbewegung« nimmt Hegel ausdrücklich Bezug auf Aristoteles' Definition der physis in Unterscheidung von der techne, die keiner Tätigkeit und Selbstbewegung fähig ist.

Hervorgegangen aus einem logischen Paradox bleibt es nicht bei einer bloßen Bewegung, sondern diese radikalisiert sich geradezu atemberaubend in einer Weise, mit der Hegel für mich direkt an Hölderlin anschließt. Aus dem scheinbar harmlosen ‘Unterschied’ erwächst der ‘Gegensatz’, der sich über mehrere Stufen steigert, bis er in den offenen Widerspruch treibt: »Dies rastlose Verschwinden der Entgegengesetzten in ihnen selbst ist die nächste Einheit, welche durch den Widerspruch zustande kommt; sie ist die Null«. Im Ergebnis führt das in die »Pulsation der Selbstbewegung und Lebendigkeit« der auf die Spitze des Widerspruchs getriebenen Mannigfaltigkeit (HW 6.67, 78). Damit ist für mich entgegen allen geläufigen Interpretationen – sofern es überhaupt jemand auf sich nimmt, diese Sätze verstehen zu wollen – nicht gemeint, dass mit dem Denken beschrieben wird, wie physische Gegenstände pulsieren und rastlos verschwinden, sondern die Reflexionsbestimmungen des Denkens selbst lösen sich auf in ihrem rastlosen Verschwinden und der Pulsation.

In einer fast wörtlich an Hölderlin erinnernden Formulierung gibt Hegel dieser Entwicklung eine Wendung, die nicht in eine Tragödie, sondern in einen Neuanfang mündet.

»Der sich widersprechende selbständige Gegensatz war also bereits selbst der Grund; es kam nur die Bestimmung der Einheit mit sich selbst hinzu, welche dadurch hervortritt, daß die selbständigen Entgegengesetzten jedes sich selbst aufhebt und sich zu dem Anderen seiner macht, somit zugrunde geht, aber darin zugleich nur mit sich selbst zusammengeht, also in seinem Untergange, d. i. in seinem Gesetztsein oder in der Negation, vielmehr erst das in sich reflektierte, mit sich identische Wesen ist.« (HW 6.70)

Anmerkung: Überraschenderweise kam von einer anderen Seite her Frege zu ähnlichen Ergebnissen. Für ihn ist es absurd von schmelzbaren Ereignissen, einer blauen Vorstellung, einem salzigen Begriff oder einem zähen Urteil zu sprechen (Frege 1884, 31), d.h. Gedanken oder Denkbestimmungen mit den üblichen Prädikaten zu versehen, die für gewöhnliche Gegenstände gelten. Aber er kennt »Färbungen und Beleuchtungen« von Worten (Frege 1892, 32), hat also – ohne sich selbst dessen recht bewusst zu werden – ein elementares Verständnis der Wahrheit als Aufscheinen an Worten. Für ihn enthalten Funktionen wie ›Hauptstadt( )‹ Leerstellen, an denen bestimmte Werte eingesetzt werden können, was er als Sättigung bezeichnet. In einfachen Beispielen wie diesem mag das als das Navigieren in einer Enzyklopädie gelten (und ähnelt heute der Abfragesprache von Datenbanksystemen). Doch weiter gedacht gewinnt die Funktion für ihn eine eigene Lebendigkeit und wird einem lebenden Organismus vergleichbar, der von sich aus nach Lösungen sucht (so wie heute künstlich-intelligente Datenbankabfragen programmiert werden sollen, die von sich aus die treffenden Antworten finden), so wie Hegel von der Natur der Reflexion spricht, wenn die Reflexion aus sich heraus untergeht und ihren Grund findet. Und es wird sich zeigen, dass Hegel trotz aller Unterschiede sogar in der letzten Konsequenz mit Frege übereinstimmt: Vieles spricht dafür, dass für Frege nicht das Denken und seine Begriffe pulsieren, sondern dass sich das Denken stützt auf industrielle Prozesse und deren Funktionen, die von sich aus pulsieren. (Siehe hierzu Scheier 2000 und 2016). In ähnlicher Weise wird sich zeigen, wie für Hegel die Natur der Reflexion zurückgeht auf das Tun der Sache selbst.

»Gott selbst ist tot«

Das stärkste Argument für eine Deutung der Logik als absoluter Wissenschaft statt als Natur beruft sich auf Hegels Aussage, »daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist« (HW 5.44).

Mit ‘Inhalt’ meint Hegel in meiner Deutung jedoch nicht, dass die vom Menschen geschaffene Logik ihrerseits absolut oder gar gottgleich wäre, sondern dass sie in ihrer Endlichkeit diesen Inhalt  zum Thema  hat. Im Gegenteil geht Hegel so weit zu sagen, dass mit dem Christentum der Tod als ein Moment Gottes gesehen wird.

»'Gott selbst ist tot', heißt es in jenem lutherischen Liede; dies Bewußtsein drückt dies aus, daß das Menschliche, das Endliche, Gebrechliche, die Schwäche, das Negative göttliches Moment selbst ist, in Gott selbst ist.« (HW 17.297)

Ich kann Wandschneider gut folgen, wenn er schreibt: »Wird Gott aber als Geist begriffen, dann ist ihm damit, wie dargelegt, auch ein Naturmoment zugesprochen.« (Wandschneider, 63) Analog sehe ich es für die Logik. Sie hat zum Inhalt das Absolute, bleibt aber in der Verfasstheit des Menschen endlich und vergänglich. Sie kann nicht anders als in Gegensätzen und Widersprüchen denken. Sie kann ihre Aussagen nur in der Gestalt treffen, dass sie die Form einer absoluten Aussage annehmen, und sie ist sich bei Hegel bewusst, dass sie als menschliches Denken zugleich notwendig ihren Inhalt verfehlt bis sie sich schließlich auf dem höchsten Punkt ihrer Entwicklung bewusst wird, dass das Verfehlen ihr innerstes Bewegungsmoment ist, wodurch sie fortlaufend in Bewegung gehalten wird. Viele Kritiker – wie Carnap oder Popper – werfen Hegel vor, dass er entweder die Bedeutung des Widerspruchs verharmlost, wenn er ein Denken in Widersprüchen fordert, oder den Anspruch wissenschaftlichen Denkens aufgibt. Für Hegel muss das Denken diesen Widerspruch aushalten können. Philosophen wie Carnap oder Popper sind letztlich darauf angewiesen, dass die entscheidenden Fortschritte wissenschaftlichen Denkens von anderen übernommen werden, die ein gefährdetes Denken mit dem damit verbundenen Schmerz und Rückschlägen in Erfahrungen des Scheiterns auf sich nehmen. Das ist keine Frage mangelnder Kenntnisse, Ausbildung oder einfach Dummheit, sondern in der Natur des Menschen begründet.

Das »Tun der Sache«

Wenn der Mensch in Erkenntnis seiner eigenen Verfassung bescheiden werden muss, kann er nicht wie ein absoluter Souverän an die Dinge herangehen – diese Haltung stünde nur Gott zu –, sondern ist auf das Tun der Sache angewiesen.

Wenn der Widerspruch zu Grunde geht, erschließt sich erst dort »der ganze Inhalt der Sache« (HW 6.119), der sich im Einzelnen in unterschiedliche Gründe und Bestimmungen differenziert. Der Mensch wird das nie in seiner Vollständigkeit fassen können, sondern es ist das »Tun der Sache, sich zu bedingen und ihren Bedingungen sich als Grund gegenüberzustellen« (HW 6.119).

Nach meinem Eindruck hat Hegel bis zum Ende darum gerungen, für diesen Sachverhalt die geeigneten Worte zu finden. Er kommt für mich überraschend in die Nähe buddhistischer Philosophen wie Nagarjuna und Vasubandhu, von denen die objektiven Eigenschaften des Bewusstseinsstroms untersucht wurden, wenn er am 7. November 1831 wenige Tage vor seinem Tod in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Wissenschaft der Logik schreibt:

»Insofern also das subjektive Denken unser eigenstes, innerlichstes Tun ist und der objektive Begriff der Dinge die Sache selbst ausmacht, so können wir aus jenem Tun nicht heraus sein, nicht über demselben stehen, und ebensowenig können wir über die Natur der Dinge hinaus. Von der letzteren Bestimmung jedoch können wir absehen; sie fällt mit der ersteren insofern zusammen, da sie eine Beziehung unserer Gedanken auf die Sache, aber nur etwas Leeres ergäbe, weil die Sache damit als Regel für unsere Begriffe aufgestellt werden würde, aber eben die Sache für uns nichts anderes als unsere Begriffe von ihr sein kann.« (HW 5.25)

In der Wissenschaft der Logik ist das Denken selbstbezüglich seine Sache, wenn das Denken über das Denken denkt. Wenn in der Logik die Sache des Denkens das Denken ist, ist für die Logik das ‘Tun der Sache’ das ‘Tun des Denkens’. In meinem Verständnis ist es für Hegel ein notwendig aus der Sache des Denkens selbst entstehender Schein, als wären wir es, wenn wir denken, von denen das Tun des Denkens ausgeht. Für ihn gilt auch für das Tun des Denkens, dass dies Tun von der Natur der Sache ausgeht und zur objektiven Logik gehört. Doch ist dieser Schein wiederum mehr als nur eine Täuschung oder nur die selbst überhebliche Anmaßung, als wären wir es, die in unserem Denken dessen Tun und Bestimmungen überschauen oder gar aus uns selbst heraus im Denken erzeugen könnten. Der mit dem Denken notwendig gegebene Schein ist zugleich das Medium, in dem am Denken (und ganz elementar: am Wort, dem logos) die Wahrheit (christlich gedacht: eine göttliche Offenbarung) aufscheinen können.

Der Gedanke eines »Tun der Sache« ist so ungewöhnlich, dass er nur selten aufgenommen wird. Marx, Engels und Lenin, die sonst sehr aufmerksam mitverfolgt haben, wo Hegel über das klassische idealistische Denken hinausgeht, haben das nicht zitiert. Schelling, der diesen Gedanken aus seinen Gesprächen mit Hölderlin und Hegel sicher kannte und in seiner Lehre der Selbstorganisation aufgegriffen hat, ignoriert ihn einfach, wenn er Hegel vorwirft, die Logik bleibe bei ihm in den Grenzen einer negativen Philosophie und sei keiner positiven Philosophie fähig. Was ist das Tun der Sache anderes als positive Philosophie? Ich vermute, dass sie letztlich dem subjektiven Denken verpflichtet blieben und zurecht gespürt haben, wie weit sich Hegel davon mit dem Gedanken des Tuns der Sache in der Mitte seiner objektiven Logik entfernt hat.

Für Wetzel ist das Tun der Sache »das Wesen als aristotelische Aktualität, hier nunmehr als Einheit von Setzen und Werden, somit als Einheit von Wesen und Sein« (Wetzel, 424). Hartmann weist darauf hin, dass mit dem Tun der Sache eine Modallogik angesprochen ist: Erst mit den Bedingungen ist der zureichende Grund gegeben, dass etwas aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit übergeht (Hartmann, 214f). Ihnen kann ich mich nur anschließen.

Mit dem Tun der Sache ist für mich die kritische Stelle angesprochen, an der Leibniz – und mit ihm bin ich wieder in Leipzig, seinem Heimatort – vom zureichenden Grund spricht und vom Harmonieprinzip, welches aus der Vielfalt der Möglichkeiten eine auswählt. Das Harmonieprinzip liegt für mich dem Tun der Sache zugrunde, auf das sich ein Denken stützen kann und muss, das sich seiner Gefährdung wie seiner Freiheit bewusst ist. Dank ihres Tuns geht aus der Sache die Existenz hervor, und mit der Existenz wird aus der formlosen Mannigfaltigkeit die Wirklichkeit und das »Reich der Gesetze« (HW 6.154), der Inhalt der Naturwissenschaft. An dieser Stelle weiter zu fragen führt für mich in die Philosophie von Leibniz und dessen Nachfolgern wie Einstein und Gödel, die gegenüber der vorherrschenden, in der Tradition von Descartes stehenden analytischen Philosophie nach Alternativen gesucht haben.

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In der Diskussion wurden einige kritische Fragen gestellt. Ist es zu hart, vom Scheitern zu sprechen? Gefährdung wäre ausreichend. Ich verweise darauf, wie für Hegel zum Beispiel Leibniz, Kant und Fichte in ihrem Skeptizismus am Phänomen des Scheins gescheitert sind (HW 6.20f). Ein späteres Beispiel ist Frege, der sein eigenes Denken gescheitert sah, als er von der Russellschen Antinomie hörte. Wenig später kann vom Scheitern der Principia Mathematica von Russell und Whitehead gesprochen werden, als Gödel nachwies, dass mit dem Verbot des vitiösen Zirkel in der Typentheorie die uns vertraute Mathematik nicht begründet werden kann und ihm ein anderer Weg gelang.

Wolfgang Neuser: Wenn ich Hegel dank seines christlichen Glaubens für optimistisch halte, geht das völlig an Hegel vorbei. So etwas gibt es erst bei Kierkegaard und Heidegger. Es ist nicht akzeptabel, in Formulierungen von Hegel etwas Katastrophisches zu sehen.

Wie sähe ein Denken Gottes aus? Antwort: Gott könnte in den Dingen denken und wäre nicht an den Schein gebunden, aber wir können uns davon keine Vorstellung machen.

Hegelsche Formulierungen wie »Zu Grunde gehen« sind bewusst mehrdeutig gemeint und in meinem Vortrag möglicherweise in einer bestimmten Bedeutung überbetont.

Siglen

HSA = Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe (Knaupp-Ausgabe, Hanser-Ausgabe neu), 3 Bd., München 1992

HW = Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971; Link

KrV = Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787)

Literatur

Gottlob Frege (Frege 1884): Die Grundlagen der Arithmetik, Stuttgart 1987 [1884]

Gottlob Frege (Frege 1892): Über Sinn und Bedeutung,
in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, NF 100, 1892, S. 25-50; Link

Hassan Givsan: Hegels Logik – die Frage des Anfangs: Kritik und Affirmation
in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Heinz Eidam (Hg.): Anfänge bei Hegel, Kassel 2008, 63-80

Klaus Hartmann: Hegels Logik, Berlin 1999

Martin Heidegger: Vom Wesen und Begriff der physis. Aristoteles, Physik B, 1 (1939),
in: ders.: Wegmarken (GA 9), Frankfurt am Main 1996

Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Stuttgart 1997, Erstdruck unter dem Titel De l'Allemagne depuis Luther [1834]; Link

John McTaggart: A Commentary on Hegel's Logic, Cambridge 1910 (Neudruck durch "Forgotten Books" 2012); Link

Urs Richli: Form und Inhalt in G.W.F. Hegels »Wissenschaft der Logik«, Wien, München 1982

Claus-Artur Scheier: Die Selbstentfaltung der methodischen Reflexion als Prinzip der Neueren Philosophie, Freiburg, München 1973

Claus-Artur Scheier: Ästhetik der Simulation, Hamburg 2000

Claus-Artur Scheier: Luhmanns Schatten oder die Funktion der Philosophie, Hamburg 2016

Dieter Wandschneider: 'Schmerz der Negativität' und Tod in Hegels Konzeption des Geistes
in: Dietrich von Engelhardt u.a. (Hg.): Sterben und Tod bei Hegel, Würzburg 2015, 55-68

Manfred Wetzel: Prinzip Subjektivität, Allgemeine Theorie, Erster Halbband, Würzburg 2001

2017-19


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