Walter Tydecks

 

Multiple Mathematik - Einleitung

Meistens wird die Vielfalt der Anwendungsgebiete der Mathematik - wie Physik, Musik, Ökonomie, Astronomie, Ästhetik - als ihre Stärke gesehen, als Zeichen ihrer Unabhängigkeit von empirischer Erfahrung und überhaupt allem Irdischen. Sind sie aber nicht vielleicht umgekehrt wie die babylonische Sprachverwirrung Ergebnisse eines Traumas? Am Umschlagpunkt des Zeitalters der Rationalität sah die Romantik beides. Novalis spürte in der Mathematik eine geradezu poetische, magische Kraft und suchte in der Mathematik die gelingende Einheit der großen Ideale seiner Zeit: Strenge klare Wissenschaft nach dem unbestechlichen Vorbild von Kant und zugleich überbordende Kraft des Genies. Schubert ging den in der Naturwissenschaft gebrauchten Symbolen und ihrer Intuition immer weiter nach, sah sie auf der Nachtseite der Natur und empfand ihre tiefe innere Zerrissenheit, die auf frühe Katastrophen deutet. Alle Mythologie bewahrt das Wissen davon.

Multiple Mathematik: Diese Beiträge "laufen hinaus" auf die Diskussion der Mathematik-Visionen aus der Zeit des Faschismus, wo traumatische Erfahrungen offen zutage liegen, sowohl als Ursache wie auch als Konsequenz. Die Beiträge sind selbst "multipel" in dem Sinne, dass sie auseinander fallen und der Versuch aufgegeben wurde, sie in eine systematische Reihenfolge zu bringen. Die Mathematik scheint mal eher am Rande zu stehen und dann wieder in der Mitte. Zusammenfassend geht es um die Wurzeln der Mathematik, die trotz des traumatischen Ereignisses noch in verschiedenen, fast mystischen Erinnerungen übrig geblieben sind.

Diese Beiträge sind auch nicht in einer klaren chronologischen Reihenfolge geschrieben worden, sondern "überschneiden" sich. Vieles entstand aus dem erfolglosen Versuch, für die symbolische Mathematik an der Stelle eine eigene Basis zu finden, wo sie sich klar von der Philosophie emanzipieren könnte und nicht von der Magie überwältigt werden sollte. Die Thesen zu Ökonomie und Mathematik gehören zu den frühesten Ansatzpunkten.

Multipel hat sicher zu tun mit Multiplikation und mit Multipletten, beschreibt also die Mathematik und ihr wichtigstes Anwendungsgebiet, die Physik, sowohl von außen wie von innen. Der Atomphysiker Wolfgang Pauli ist an der Frage der Multiplikation fast verrückt geworden, als er sie wiederkehren sah in den Multipletten der Feinstrukturanalyse von Atomspektren, den zyklischen Transformationsprozessen des Atomkerns, der kreisförmigen Ausbreitung der Radioaktivität und zusammenfassend im Begriff der Rotation (Puls, Kreislauf, Zyklus). Aber auch in der Mathematik beschreibt die Multiplikation eine Grenzlinie, die schon jedem Anfänger der Mathematik aufstößt und doch ungelöst ist. An der Grenze von Multiplikation und Addition liegen die Primzahlen, das sind die Zahlen, die mit keiner Multiplikation erzeugt werden können. Obwohl die Primzahlen seit den Anfängen der Mathematik bekannt sind, sind ihre elementaren Eigenschaften bis heute ungeklärt.

Während die Addition immer "stur" Stück für Stück vorangeht, ist dies der Multiplikation zu "langsam" und zu "eintönig", eben "eindimensional". Mit der Multiplikation wird abgekürzt, geschickt zusammengefaßt, von einem höheren Gesichtspunkt neu geordnet. Die bloße Addition führt immer zum Ziel, es sei denn, es wird einfach aufgrund der Langsamkeit der Bewegung nicht erreicht. Addition unterscheidet sich am Ende kaum vom Abzählen. Addition ist daher assoziiert nicht nur mit Zählzwang, sondern überhaupt zwanghaftem Denken. Das ist der große Vorwurf an die Mathematik. Multiplikation dagegen ist das Urbild des Genialen, des Sprungs, des Überspringens, der Beschleunigung, aber auch des Sprunghaften, das möglicherweise das Interessanteste übersieht (die Primzahlen). Am liebsten stürmt sie gleich weiter zum Potenzieren und sieht auf dieser Linie (Addition - Multiplikation - Potenz) bereits die unendliche Transzendenz zum Greifen nahe. Das ist aber die Selbstüberheblichkeit, die im Mythos des Turms von Babel und der folgenden Sprachverwirrung angesprochen ist. Die Bruchstücke der Zersplitterung, des Multipletts, weisen zurück auf den Anspruch, der schließlich "archetypisch" der Multiplikation zugrunde liegt.

Mathematisch wird die Zersplitterung als Polarisation dargestellt. Die Obertonstufen entsprechen den Multipletten. Wurden "die alten Elemente" wie Erde, Wasser, Luft und Feuer "aufgelöst" in neue Atome bzw. den aus Atomen zusammengesetzten Molekülen, kehren sie doch wieder als "Zustände" des mit der Polarisation beschriebenen globalen Prozesses. Es ist kein Zufall, als die "Symbolische Mathematik" an dieser Stelle auf eine moderne Sprachverwirrung oder besser Verwirrung der Anschauung stieß.

2001 - 2002


 

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