Walter Tydecks


Ein Zettelkasten Memel-Erinnerungen

Hier ein paar Erinnerungen an eine Zeit, die kaum 70 Jahre vergangen ist und doch fern wie aus einer fremden Welt wirkt. Das sind im wesentlichen Zitate aus den schriftlichen Erinnerungen und vielen Gesprächen mit meinem Vater (1925-2016) und aus einer E-Mail-Korrespondenz mit Marion Robinson, die in Vancouver (Kanada) lebt. Der Hof meiner Großeltern war in Plicken, wenige Kilometer nordöstlich von Memel / Klaipeda. Die Vorfahren von Marion stammen aus dem kleinlitauischen Gebiet südlich der Memel um Tilsit, Insterburg und Pillkallen.

Landschaft

Findlinge behinderten die Feldarbeit. Große Findlinge wurden gesprengt, kleine wurden vom Feld geholt und für Fundamente in Bauwerken genutzt.

Jeder Bauernhof hatte einen Brunnen. Der Brunnen der Großeltern in Plicken war tief und immer voll, da die Gegend feucht war. Die Haushalte auf dem Lande nördlich von Memel hatten damals weder fließend Wasser noch Strom.

Teiche und Tümpel wurden von Quellen gespeist. Sie dienten als Tränkstätte für Kühe und Schafe. Pferde tranken aus dem Eimer.

Quellen und Wasserscheiden waren ursprünglich heilige Orte, bestimmt gab es auch "heilige Steine". Das Christentum hatte diese Bedeutung verdrängt, das aufgeklärte 19. und frühe 20. Jahrhundert sah alles unter dem Blick möglichst einfacher und produktiver Arbeitsbedingungen.

Fische gab es in den Gewässern dieser Gegend nicht, nur Frösche.

Im sumpfigen Gelände gab es keine Wege. Auch Frauen mussten auf dem Pferd zur Arbeit. Straßen wurden erst im 19. Jahrhundert angelegt, das waren einfache Kieswege. Dort konnten nur Pferdewagen fahren. Für den Straßenbau wurde ein Straßengraben ausgehoben.

Karkelbeck

Blick zur Ostsee bei Karkelbeck / Karkle
Der Tydecks-Bach hat hier einen Durchfluss zur See gegraben.

Die Ekitte

Einziges Flüsschen in der Nähe des Bauernhofs der Großeltern in Plicken war die Ekitte, ein Nebenfluß der Dange. Da es dort sehr feucht war, mussten die Felder entwässert werden. In den Feldern wurden Gräben angelegt, die in Vorfluter führten, und die flossen in die Ekitte.

Kurischer Name Ackete. Der Name weist auf die Lage (kurisch "a-k" = Untiefe, kleine Landzunge), vgl. dazu litauisch "ekete, eketys" = Wuhne (ein ins Eis geschlagenes Loch zum Eisangeln oder zum Beatmen der Fische, aber auch ein sumpfiges Loch in feuchten Wiesen, Quelle: Genwiki).

Kalmus- und Moorpflanzen im Graben mit starken, fremdartigen Gerüchen. Die Dotterblumen im Frühling waren Vaters Geburtstagsblume, es gab auch viel Vergißmeinnicht.

Vater fuhr jeden Morgen über eine Brücke über die Dange nach Memel zur Schule.

An der Ekitte stand ein 200 Jahre altes Wasserrad, das eine Maschine zum Wollkämmen antrieb. Auf dem Hof wurden Schafe gewaschen, geschoren, die Wolle wurde gezupft. Die Flocken wurden von der Wollkämm-Maschine ganz fein zerzupft. Die gekämmte Wolle wurde um eine Walze gelegt, von der die Wolle in Rollen abgenommen werden konnte. An den langen Winterabenden wurde von den Bäuerinnen die gekämmte Wolle mit dem Spinnrad gesponnen. Die gesponnene Wolle wurde gewebt oder zum Strümpfestricken genutzt. Für Pullover wurde die Wolle vor dem Stricken gefärbt.

Die Dange war 7 km vom Hof der Großeltern entfernt und konnte zufuß nicht erreicht werden. Ein oder zweimal im Winter bildeten die Kinder mit ihren Schlitten hinter einem Pferd eine Kette und ließen sich dort hinziehen, wo es bei Deutsch-Crottingen (Kretingale) eine herrliche Rodelbahn gab. Mir hat bei meinem Besuch in Litauen das Dange-Tal sehr gefallen. Die Dange hat sich ein tiefes Tal in die flache Landschaft gegraben. Auf einem Hügel am Rande des Tals steht bei Kretingale eine der ältesten Kirchen des Memelgebiets, 1620 gebaut, das war sicher schon immer ein heiliger Ort.

Vegetation

Tanne: Verbrenne ein bisschen Tannenzweig – der Rauch duftet wie im Memelland und es zieht die Ahnen näher.

Pfefferminz: sehr wichtig. Heilende Wirkung bei Kopfschmerzen. Pfefferminztee. Der erfrischende Geruch.

Es gab sehr viele Pilze. Gegessen wurden nur Steinpilze, die es reichlich gab, und "Hähnchen" (Pfifferlinge). Die waren gut im Boden versteckt. Vater kann sich noch gut an sie erinnern, sie wuchsen in der Nähe des Bauernhofs in einem Birkenwäldchen und verströmten einen starken Geruch. Pilze wurden in Sahne aufgekocht und anders als heute üblich ohne weitere Zutaten (wie Tomaten, Paprika, Kräuter) mit Kartoffeln gegessen.

Apfel und Apfelsorten. Äpfel waren sehr beliebt, im Winter Bratäpfel. Es ist überliefert, dass einige Flüchtlinge vor der Flucht ihr Prozellan und Kristall neben Apfelbäumen vergraben haben.

Großvater hat viele Äpfel veredelt. Alle Bauern hatten einen kleinen Obstgarten und verdienten sich damit ein wenig Geld nebenher. Einige hatten großes Interesse, Stöcke auszutauschen für die Veredelung.
Bellefleure: Das war Vaters Lieblingsapfel. Die Frucht war groß, rot mit gelben Backen, duftete und schmeckte aromatisch.
Charlamowski: Der erste Apfel im Sommer, daher besser schmeckend als die meist saueren Augustäpfel, angenehm
Kurzstielchen: Wunderbar süß, sehr wohlschmeckend, nicht von dieser unangenehmen Süße wie viele Äpfel heute
Hasenkopf: Nicht so sauer wie die heutigen Augustäpfel, sahen aus und waren so groß wie ein Hasenkopf.
Bismarck war der späteste Apfel, groß und faltig.
Zum Einkochen für den Winter wurden nur Wildäpfel genommen.

Birnen gab es weniger, z.B. die angenehm süße Grauchen (Graustielchen). Quitten gab es nicht, nur wenige Pflaumen, und die waren nahezu vollständig von Maden zerfressen. Sauer- und Süßkirsche. Großvater hat entlang der Straße Sauerkirschen statt Weiden gepflanzt.

Vor allem rote Johannisbeeren. Erdbeeren gab es so reichlich, dass sie auch verkauft wurden. Blaubeeren gab es hier nicht, die gab es weiter westlich an der Ostsee in Pommern, der Heimat von Mutter. Wenig Himbeeren. Stachelbeeren.

Kein Waldmeister.

Getreide, Viehfutter. Die Sommer waren nur sehr kurz im Vergleich zu Norddeutschland. Daher wurde Rotklee als Viehfutter angebaut. Er wächst sehr schnell und ist nahrhaft. In Norddeutschland gibt es keinen Rotklee. Bei den Getreidesorten überwogen Roggen, Hafer (für die Pferde), Gerste (für die Schweine, die bei guter Fütterung mit Gerste wohlschmeckenden Speck gaben). Für Weizen war es zu kalt.

Marion: Kartoffeln waren auch wichtig für die Kartoffelstärke. Die wurden gerieben, ausgewaschen und abgesetzt. Da kam ordentlich was raus. Der Rest ging an Schweinefutter. Die Stärke war hauptsächlich für die Kragen (ach, Gottche, stell Dir das vor!) und für den Kuchen zu verfeinern.

Kräuter: Kümmel wuchs wild und wurde fürs Brot gesammelt. Auf dem Land wuchsen Flachkräuter wie Wegerich, Gänsefingerkraut, Frauenmantel. Große regionale Unterschiede: In Plicken gab es keinen Thymian, Majoran, Dill, Petersilie, Zitronenmelisse oder Basilikum. Südlich der Memel gab es auf dem Bauernhof Zwiebel, Dill und Kräuter wie Thymian, Majoran (besonders wichtig fuer Leberwurst) und Melisse für Tee. Kamille, Hagebutten usw. Zimt, Zucker und Pfeffer wurden gekauft. Manchmal auch Senf.

Gurken konnten sehr günstig aus Litauen gekauft werden, sie kamen zentnerweise. Sie wurden für den Winter eingelegt. Aber keine Tomaten.

Bäume: Korkeiche und der milde Geruch. Bienenschmoker wurde an Birken gewonnen. In der Rinde der Birke steigt im Frühling Flüssigkeit auf, aus der Saft gewonnen und im Sommer als vergorener Birkensaft getrunken wurde.

Ein kleines Birkenwäldchen auf dem Grundstück. Dort stand eine Schaukel zu Johannis.

Blumen: großblütige, tiefrote sowie duftende rosa Pfingstrosen, Tränende Herzen, Iris, Tausendschönchen, Stiefmütterchen, Tulpen, Narzissen. Auf dem Feld schon früh Leberblümchen und Buschwindröschen.

Auf dem Grundstück der Großeltern war ein Stück Wiese zu nass und wurde daher nicht urbar gemacht. Nur dort wucherten noch viele alte Blumen und Pflanzen. Das war eine Insel "Urwelt". Sie wurde lediglich abgemäht, das Heu diente im Winter als Viehfutter. "Viele jener Wiesenblumen habe ich nie wiedergefunden."

Jugendliche nahmen das Land ganz anders wahr als ich es aus den 1950ern kenne. Sie zogen nicht einfach auf dem Land zum Spielen und Entdecken herum, hatten keine Rückzugsorte und "geheimen Plätze". Es gab auf dem Bauernhof zu viel zu tun. Schulwanderungen führten in nahegelegene Wälder oder zu benachbarten Schulen, wo mit anderen Schülern Wettkämpfe in Völkerball, Faustball, Schlagball, Fußball ausgetragen wurde. Die Mädchen liebten den Reigentanz.

Tierwelt

Bienen und Honig sind unseren alten Leuten heilig. Honig ist etwas Reines wie der Bernstein, beides sind erhaltene Sonnenstrahlen.

Vögel: Viele Stare, nur ein Storchennest in der Nähe. Kiebitze gab es in Massen. Die legten ihre Eier auf die Erde, die von den Kindern gesammelt und verkauft wurden. Die Lerche war auch sehr wichtig. Der alte Name Cyrullies (Tsyrulies, Sierullies) meint Lerche. Keine Amseln. Spatzen waren unbeliebt, weil sie viel Korn fraßen.

Schlange. Heilige Tiere. Symbol der Wiedergeburt, weil sie sich häuten können. Schlangen gibt es dort kaum noch, nur einige wenige Kreuzottern und Blindschleichen. Einige hatten vor Kreuzottern Angst, andere legten sie in Flaschen in Spiritus ein und glaubten, davon würde eine heilende Wirkung ausgehen.

Pferde sind auch alt-wichtig.

Insekten: Fliegen und Mücken, keine Libellen, aber Schmetterlinge.

Hühner. "Uebrigens unsere Hühner waren die grau Gestreiften" (Marion). Vater: Bei den Hühnern war am beliebtesten das "weiße Leghorn", Hühnerfleisch vor allem von den "Rhodeländern". Auch einige braungraue "Italiener". Gänse wurden viel gehalten, Schlachtungen, Federn für die Betten.

Kükenkinderkost: Kinder fütterten die Küken. Am besten: Löwenzahnblätter und hartgekochte Eier, beides kleingehackt.

Ernährung

Typisches Essen: Sauerkraut im Krug im Keller, frischer Kümmel auf Quark auf Schwarzbrot, Dickmilch in der Schale mit Schwarzbrot oder kalte Pellkartoffeln und Salz, manchmal auch Schnittlauch. Aus dem Blut geschlachteter Tiere wurde Grützwurst gewonnen (Blutgrütze).

Die Milch der Kühe wurde getrennt in Magermilch für die Schweine und Sahne zum Buttern.

Essen stiftet Identität. Brotsuppe, Kartoffelsuppe, Eintöpfe, Fleisch und Fisch paniert in Eier-Mehl-Mantel. Die verschiedenen Sorten von Quark und Käse, Kankaline (heute die Zeppelinos).

Das Essen war im Vergleich zu heute und zu den Städten sehr eintönig: Jeden Tag Salzkartoffeln und Fleisch, kein Gemüse. Das Fleisch wurde gekocht, das Wasser war dann die Soße. Brühe gab es nicht. Im Winter kam Sauerkraut dazu. Nachtisch gab es nicht. Obst war sehr reichlich und wurde zwischendurch, meistens direkt vom Baum gegessen.

Interessant war die Sache wegen Fett. Es gab an sich nur Tierfette. Erst Butter aber auch Gänsefett und Schweinefett. Die Gänse wurden zwangsmäßig gefüttert das die fetter wurden. Da war nix mit Öl. Keine Sonnenblumen? Nach'm Schlachten wurden Gänseklein oder die Fleischschnipsel gekocht mit oder ohne Buchweizen, mit oder ohne Essig, aber immer Salz, Pfeffer und Majoran - dann in Gläser oder Pöttchens eingefüllt, und mit eine dünne Schicht Fett übergossen. Diese Pöttchens hielten bis 6 Wochen in der Kühlkammer hinter der Küche. Gut für aufs Brot zu schmieren.

Schinken wurde zum Räuchern zum Metzger in die Stadt gegeben. Der geräucherte Schinken war trocken und hing dann im Speiseschrank. Fleischwurst wurde im Schornstein geräuchert, der für diesen Zweck recht groß ausgebaut war. Wenn sie geräuchert war, kam sie ebenfalls in den Speiseschrank. Dort konnten die Scheiben abgeschnitten werden. Marion erwähnt Kambucha und vermutet, dass diese Sitte aus Rußland kam. Vater kannte Kambucha nicht.

Gesundheit

Unter dem Druck der Arbeitswelt mussten die meisten Krankheiten einfach ignoriert werden. Vater erinnert sich, dass die Menschen viel weniger krank waren als heute. Wer Fieber oder Durchfall hatte, musste die Zähne zusammenbeißen und so weiter arbeiten wie alle anderen. Wer von einem körperlichen Leiden gehandicapt war, konnte darauf keine Rücksicht nehmen. So wurden die dicken Beine von Großmutter nie behandelt. Es hat ihr das Arbeiten schwerer gemacht, aber sie musste genauso als vollwertige Bäuerin vollen Einsatz bringen wie alle anderen. Erst kurz vor ihrem Tod hat ihr unser Hausarzt gesagt, dass wahrscheinlich eine einfache Entwässerung große Linderung gebracht hätte. Scharlach hatte bei ihr eine Schwerhörigkeit ausgelöst. Erst nach dem Krieg erhielt sie ein Hörgerät.

Die Kindersterblichkeit war groß. Hebammen, das waren hierin erfahrene Frauen aus der Nachbarschaft.

Marion: Für dicke Beine haben unsere Leutchens Tee gekocht mit Seiden-Haaren vom Maiskolben oder Hibiscus-Blüten. Das hat Wasser ausgetrieben. Meistens waren die Beine dick, wenn das Herz nicht mehr so durchpumpt, - dann gab es Weißdornbüsche, in denen die kleinen Früchte im Korn gequetscht lagen. Der Herzkranke nahm dann so 15 Tröpflein in Wasser 3 mal am Tag... - Vater kann sich an solche Mittel nicht erinnern.

Heilmittel gab es auf dem Lande nur gegen Erkältung: Lindenblüten- und Ringelblumentee. (Ringelblumen wurden Ziffernblume, Ziffernblatt genannt). Die Kinder sammelten im Sommer die Blätter. Ringelblumentee half auch gegen Würmer.

Bei Furunkeln half eine Zugsalbe.

Nur in äußersten Notfällen wurden ein Arzt und eine Apotheke besucht. Die gab es nur in Memel. Hausarzt der Großeltern war Dr. Burstein, ein Jude in Memel, der nach dem Anschluss des Memelgebiets an das Dritte Reich früh die Stadt verlassen musste und die Judenverfolgung überlebte.

Wer aufgrund körperlicher oder seelischer Leiden nicht voll arbeiten konnte, blieb bei seinen Eltern und übernahm einfache Arbeiten als Viehhüter oder Hirte.

Psychische Leiden wurden nicht behandelt. Wenn es anders nicht mehr ging, wurde Einlieferung in die "Irrenanstalt" auf dem Bachmannberg notwendig. Der liegt auf der Strecke von Plicken nach Memel kurz vor der Stadt. Vater kann sich an den Fall eines Mühlenbesitzers in Plicken erinnern, der dort eingeliefert wurde.

An Fälle, wo jemand aufgrund mangelnder Gesundheit ganz aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang herausgefallen war, kann Vater sich nicht erinnern. Es gab Landstreicher und Bettler. Das waren in der Regel "Abgebrannte", deren Hof und Besitz abgebrannt waren. Versicherungen gegen solche Notfälle gab es nicht, Feuerwehr nur in großen Städten. Wer irgend konnte, unterstützte sie mit einem Almosen. Die Häuser mussten einen Mindestabstand einhalten, damit kein Feuer überspringt. Vater hat keinen größeren Brand erlebt. Wenn irgendwo Rauch aufstieg, kamen sofort die Nachbarn zusammen und halfen beim Löschen.

An Heiler, Handauflegen oder andere Verfahren dieser Art kann Vater sich nicht erinnern.

Marion: Auch für Tiere gab es Heilverfahren. Ein bischen Schwefel und Kohle im Frühjahr half, dass die Pferde neue Haare bekamen. Mit Saisonwechsel war es immer so'n Mist mit 'm ganzen Fell - so viel Bürsten bis das Pferd wieder sauber war. Wir haben selber Mittel gehabt für die Hufe, damit sie nicht platzen, für Husten, für Fliegenstiche, Flöhe, usw. Knoblauch wurde jedoch nie gebraucht. Das gehörte irgendwie nicht zu unserem Verstehen und Kultur (war das ein reichsdeutscher Einfluss?). Nur auf Eiter oder große Pickel gab es Knoblauch und Kartoffel fein gerieben, drauf gelegt, 3 Tage und dann am letzten Tag nur geriebene Kartoffel. - Vater erzählt, dass es Knoblauch überhaupt nicht gab, auch nicht zum Essen, sondern nur Zwiebeln.

War Gesundheit "Frauenaufgabe"? Wurde das Wissen über Kräuter und Naturheilmittel nur von Frauen an Frauen weitergegeben? Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen.

Haushalt

Nähen. Muster. Tücher, Röcke, Kopftücher wurden gekauft. Kleidertruhen für die Röcke. Spinnen und Weben war Winterarbeit. Der große Webstuhl wurde im Winter in den Raum geholt, aufgebaut. Je mehr Pedale es gab, desto mehr Muster waren möglich.

Arbeit

Mühlen und Schmiede. Beide standen meist an heiligen Orten: Mühlen auf Hügeln, wo genügend Wind wehte, Schmieden durch die Öfen mit Verbindung zum Erdinneren. Köhler, Schmidt und Müller die häufigsten deutschen Namen.

In der Gegend bei Plicken gab es zwei Schmiede.

Fischer und Bauern standen in einem gewissen freundlichen Wettbewerb. In der Ostsee wurden vor allem Flundern und Dorsche gefischt, im Kurischen Haff auch Aale.

Die Fischer konnten nicht allein vom Fischen leben. Sie mussten nebenher weitere Arbeiten übernehmen, z.B. Pflasterer, Handwerker. Alle Fischer waren in jungen Jahren auch Seefahrer gewesen. Jeder hatte seine Seekiste mit zahlreichen Fotomappen von den Seefahrten. Großvater war stolz auf seine Kästchen aus Japan, in denen z.B. die Schlipse lagen. Sie gehören zum wenigen, was bei der Flucht mitgenommen werden konnte.

Tante Bertas Mann Christof war Schneider und arbeitete für reiche Leute in Memel. Er war zu ihr aus der Stadt nach Karkelbeck gezogen, arbeitete aber weiter für die Stadt. Tante Berta hat daneben eine kleine Landwirtschaft gehabt, Großvater kam zum Schlachten.

Jahrmarkt nach Pfingsten (Jomarkas)

Einmal im Jahr gab es einen großen Markt, jeweils die ganze Woche ab Pfingsten auf dem großen Stadtplatz und den benachbarten Marktstraßen in Memel. Es war ein unausgesprochenes Gesetz, dass jeder Schüler einen Tag schulfrei und alle anderen einen Tag arbeitsfrei bekamen. Junge Männer vom Dorf schmückten Leiterwagen mit grünem Laub und zogen dorthin. Die Kinder sparten das ganze Jahr auf den Jahrmarkt und konnten dort das Geld ausgeben für Karussells, Süßigkeiten oder sonst etwas vom Jahrmarkt kaufen und mitbringen.

Die ganze Familie fuhr gemeinsam mit dem Pferdewagen in die Stadt. Direkt neben dem Theater befand sich der Hof, wo die Pferde abgestellt wurden. Der Pferdehüter wurde immer "Friedrich" genannt, und Friedrich sagte jedem neu hereinkommenden Pferdebesitzer, dass für sein Pferd genau der beste Platz freigehalten worden sei. Die Großeltern haben verkauft und eingekauft. Sie haben Butter und Eier angeboten.

Besonders beliebt war der Bäuerinnenmarkt am Sonnabend des Jahrmarkts. Die Bäuerinnen verkauften, was sie im Laufe des Winters gewebt, gestrickt oder sonstwie hergestellt hatten: Handschuhe, Wollstrümpfe, Tücher. Er fand auf der Straße nach Plicken statt. In der Mitte war eine Allee für die Fußgänger, auf den Seitenstreifen hatten die Bäuerinnen ihre Stände.

Vater kaufte sich am liebsten Lebkuchen, das war die einzige Gelegenheit im Jahr: Steinpflaster-Lebkuchen, Alpenbrot (Pfefferkuchen mit Schokolade überzogen). Beliebt waren auch grüne und rote Zuckerstangen aus Pfefferminz und Zucker.

Andere Attraktionen auf den Markt interessierten die Jugendlichen vom Lande weniger. Da gab es eine Tierschau. An Clowns oder andere Schausteller kann Vater sich nicht erinnern. Einige Karussells.

Marions Onkel Schorsch sagte, da war auch eine Wurstbude und da hingen so viele Würste. Sagenhaft - sagte er.

Jahrmarkt war auch gut um die Leute alle mal wieder zu sehen.

Schützenfest und Schützenvereine gab es nur in der Stadt. Auf dem Land war dafür keine Zeit.

Neben dem Jahrmarkt gab es nur die drei großen christlichen Feste an Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Sie wurden jedoch immer an jeweils 3 vollen Tagen gefeiert. Zu Sommeranfang und Herbstbeginn waren der Johannis- und Michaelistag ebenfalls arbeitsfrei.

Strandgut

Strandgut, das waren meist nur angestrandete Holzstücke. Der Friedhof in den Dünen bei Karkelbeck war ursprünglich für angespülte Leichen angelegt worden.

Lieder

Der Gesang (die dainas) sind noch weit stärker persönlich und intim als die Sprache. Vydunas nennt alle die Situationen, wo die Frauen in der Küche, mit den Kindern, und die Männer bei der Arbeit gesungen haben. Während ich die Großeltern noch oft mit meinem Vater litauisch sprechen gehört habe, haben sie nie ihre alten Lieder gesungen. Auch beim Besuch mit Vater in Litauen 1994 habe ich nie litauischen Gesang gehört. Das gibt es nur noch als Begleitung bei Heimatabenden oder politischen Veranstaltungen.

Es gibt Lieder, die gehören gewissen Plätzen, als wenn die Geister der Erde selbst schallten durch die Frauen, die intuitiv singen und sich in Eins finden mit dem All. Zum Teil waren diese Lieder sehr heilig und dafür auch aus Ehre und Respekt, sehr geheim.

Die Gottesdienste wurden litauisch und deutsch gehalten, wobei natürlich auch in der jeweiligen Sprache gesungen wurde. Dainas waren von den benachbarten Litauern bekannt und galten als weltliche Lieder im Unterschied zu den »giesmes«, den geistlichen Liedern. Vater erzählte, dass in seiner Gegend zwar Litauisch die Muttersprache war, aber die Dainos waren verpönt und wurden nicht gesungen. Vydunas berichtet in seinem Buch, dass dort Kinder sich außerhalb der Familie dafür schämen mussten, wenn bekannt wurde, dass ihre Mütter oder weiblichen Verwandten Dainos sangen. Diese Kultur ist seit der radikalen »Germanisierung« in Folge der Gründung des Deutschen Reiches unter Bismarck ab 1870 sehr verfolgt worden.

Gespräche über Religion

Religiosität: Hauptsächlich in den Häusern bei privaten Andachten, tägliche Abendandacht, an Sonn- und Feiertagen Morgenandacht. "Sie bestand aus Lied, Lesung einer Auslegung in Frage- und Antwortform, Lied, Gebet, Lied."

Heidnische Traditionen. Aufpassen auf kleine Dinge im Verhältnis zum Garten, Fische, Natur, Umwelt und Jahreszeiten. Für uns sind ja zum Beispiel Tannen, Bienen, Pferde, Gewässer und gewisse Plätze heilig.

Schmiedgott

Gusseiserner Schmiedegott, Kunsthandwerk in Memel

Auf dem Land bei Memel und der näheren Umgebung war es ganz anders - möglicherweise sind auch die männliche und weibliche Überlieferung völlig verschieden. Dort war der protestantische Glaube sehr stark. Er gab Kraft bei der täglichen Mühe der Arbeit und wurde völlig getrennt von Naturerfahrungen und heidnischen Bräuchen, spätestens seit der Zeit Bismarcks. Es gab praktisch keine Erinnerungen mehr an heidnische Bräuche oder heilige Plätze, oder sie waren sehr tief im Herzen und Gemüt vergraben. Jeder trägt sie für sich allein und muß nach innen horchen. Die Kirchen stehen meist auf erhöhten Lagen, die früher einmal heilige heidnische Stätten gewesen waren, an die aber nichts mehr erinnert. Nach 1945 ist von den nachgezogenen Einwohnern ein wenig begonnen worden, die frühere litauische Religiosität wieder zu erinnern. Ich war 1994 in Klaipeda einige Male in einem kleinen Geschäft, in dem kunsthandwerkliche Schnitzereien angeboten wurden. Meine Schwester sandte mir das Foto einer gusseisernen Verzierung, die einen Schmiedegott zeigt. Auf der kurischen Nehrung ein Hexenberg. Dort sind von Studenten Holzskulpturen geschaffen worden, die frühere litauische mythische Figuren und Szenen darstellen. Vater betonte aber, dass es dies alles vor 1945 nicht gab.

Plicken Kirche

Evangelische Kirche in Plicken
Siehe auch die Fotos in GenWiki

Die Religiosität spielte sich zu einem großen Teil außerhalb der Kirche ab. In den Häusern haben die Familien jeden Abend Andachten abgehalten. Außerdem gab es auf dem Lande eine stark vertretene, pietistische Laienbewegung mit Laien-Predigern, die fast eine Parallelkirche aufgebaut haben. Aber heidnische Traditionen gab es nicht.

Es scheint so, dass wir heute ein völlig verändertes Verhältnis zur Religion haben und uns fast wünschen würden, dass dies bei unseren direkten Vorfahren in Kleinlitauen noch so war, wie Du es von den Indianern berichtest. Aber wir müssen wohl verstehen, dass die Religion dort eine andere Rolle gespielt hat. Ich habe miterlebt, wie meine Großeltern bis zu ihrem Tod jeden Abend ihre Andachten fortgeführt haben, aber wir waren nie daran beteiligt. Großvaters Schwester ging für sich allein in eine religiöse Gruppe, die die pietistischen Gedanken der Laienbewegung weiterführten, und fand in unserer Familie wenig Verständnis dafür. Religion war etwas sehr Privates. Nur Weihnachten wurde gemeinsam gefeiert.

Ohne einige Anpassungen hätte das Christentum jedoch keinen Erfolg haben können. Die wenigen Feiertage (und andere Ferien oder Urlaubszeiten gab es nicht) fallen auf die Wechsel der Jahreszeiten (Weihnachten, Ostern, Johannis, Michaelis). Das Volk war ja schon sehr spirituell und die neue Schicht des Christentums passte. Es passte besonders gut wenn Litauisch gepredigt wurde (und nicht Latein oder Deutsch). Die tiefere Schicht ist noch da. Wir haben immer noch 'n Weihnachtsbaum und feiern immer noch die Sonnenwende, nur gilt es jetzt als das Licht Christi. Unsere tiefsten Werte mit Familie, Grund und Boden kommen richtig zusammen im Weihnachtsfest, das in früheren Zeiten bis zu 12 Tage lang gefeiert wurde (von Heiligabend bis Heilige Drei Könige). Die Menschen waren arm und mussten schuften. Die Arbeit war schwer und der einzige Trost war der Glauben. Wenn schlimme, unerklärbare Dinge passierten, sagten sie, das war der Teufel. Ja, der Teufel hat vieles schlecht gemacht. Auch wenn im Dorf einer ein bischen anders war, konnte das darauf abgeschoben werden.

Als mit Bismarck die litauischen religiösen Überlieferungen und Lieder radikal verdrängt wurden, entstand der Nationalismus. Der Naturkult der Jugendbewegung um 1900 und der Nationalsozialismus griffen das Gefühl der religiösen Entwurzelung und die Leere einer nur oberflächlichen Christianisierung auf und wollten sie neu beleben bzw. für ihre Ziele nutzen. Diese Folge traumatischer religiöser Umbrüche machte es nach 1945 nahezu unmöglich, zur eigenen Geschichte ein offenes Verhältnis zu finden. Mit den Großeltern ist ihre Art zu leben und zu glauben gestorben.

2010-2011

 

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