Markus Semm
Sonne denken
Entwurf zu einer Historischen
Heliologie
EINLEITUNG
Die Aufgabe ist, Sonne zu denken. (Ich lasse den
Artikel absichtlich beiseite). Denken, das heisst zunächst negativ: Sonne
wird in dieser Studie weder Objekt wissenschaftlicher Forschung sein, noch
wird sie mythisch beschworen werden.
Denn was geschieht im einen und im anderen Fall?
1. Sonne als Objekt der Forschung
Hier kommt unser gelber Zwergstern der Leuchtkraftklasse
fünf entweder als Energielieferant, als Prototyp der Energiegewinnung oder
als Modell zum Bau der Wasserstoffbombe in den Blick. Diese Dinge sind
jedermann bekannt. Der Physiker C. F. von Weizsäcker, der selbst 1938 ein
Referat über die Umwandlung der Elemente in der Sonne hielt, schreibt
später:
„Historisch haben die
astrophysikalischen Theorien über Kernprozesse in der Sonne in der Tat zur
Erfindung der Wasserstoffbombe beigetragen”
Die Physik denkt Sonne nicht, sondern nutzt sie.
2. Beschwörung von Sonne
Martin Heidegger, damals Rektor der deutschen Universität
Freiburg, hielt am 24. Juni 1933 auf dem Universitätsstadion eine kurze
Rede zur Sommersonnenwende. Der Feuerspruch lautete:
„Die
Tage fallen – unser Mut steigt / Die Tage fallen – dem Dunkel und der
Härte des Winters entgegen, / unser Mut steigt – das Dunkel zu brechen und
der kommenden Härte mannhaft standzuhalten. / Feuer! Sage uns: Ihr dürft
nicht blind werden im Kampf, sondern Ihr müsst hell bleiben für das
Handeln. / Flamme! Dein Lodern künde uns: Die deutsche Revolution schläft
nicht, sie zündet neu umher und erleuchtet uns den Weg, auf dem es kein
Zurück mehr gibt. / Die Tage fallen – unser Mut steigt. / Flammen zündet!
Herzen brennt!”
Zündende Flammen, brennende Herzen: Man kennt die Folgen
des unumkehrbaren Weges der Deutschen.
Was entnehmen wir den beiden angeführten Punkten?
Antwort: Dass sowohl der erforschende als auch der beschwörende Bezug zu
Sonne gefährlich ist. Wir wissen nicht, warum das so ist. Die
Gefahr, die im einen wie im anderen Bezug an den Tag kommt, ist in ihrer
Tatsächlichkeit einfach hinzunehmen. Allgemein können wir sagen: Das
radikal getätigte Entbergen (in den Modi: Erforschen und Beschwören) von
Sonne birgt Gefahren. Diese Gefahren entstehen dadurch, dass die
Entbergungskraft des Menschen Sonnenkraft auf Erde anwesen lässt. Oder
anders: Dass im Umkreis des menschlichen Daseins auf Erde entborgene Sonne
Wirklichkeit wird.
Man fragt sich nun, ob nicht auch der denkende Bezug zu
Sonne Gefahren birgt. Gilt nicht für jeden solchen Versuch, was Georges
Bataille im Vorwort zu La Part Maudite (1949) sagt:
„Es ist
gewiss gefährlich, wenn man die kalte wissenschaftliche Forschung bis zu
einem Punkt treibt, wo ihr Gegenstand einen nicht mehr gleichgültig lässt,
sondern einen vielmehr versengt. Das Sieden, das ich untersuche und das
den Erdball bewegt, ist auch mein Sieden. So kann das Objekt meiner
Untersuchung nicht mehr vom Subjekt geschieden werden, genauer noch:
vom Subjekt auf seinem Siedepunkt.”
Zwei Fragen stellen sich: a) was versteht Bataille unter
dem Sieden des Erdballs und b) wie kommt er dazu, sich selbst als ‘Subjekt
auf dem Siedepunkt’ in die Untersuchung miteinzubeziehen? Erst durch
Klärung dieser Fragen wird möglicherweise die auftauchende Gefahr
verständlich werden.
a) Bataille vertritt eine energetische Weltsicht. Sein
Projekt einer Ökonomie im Rahmen des Universums (L’économie à la
mesure de l’univers) versucht den Bezug von Erde und Sonne im Rahmen
einer allgemeinen Energiebilanzierung zu denken. Er stösst dabei auf die
unbezweifelbare (auch naturwissenschaftlich gesicherte) Tatsache, dass für
den biosphärischen Energiehaushalt der Erde beinahe vollständig die Sonne
aufkommt (zu ca. 99%). Das Leben auf der Erde verdankt sich der
verschwenderischen Energieabgabe des Zentralgestirns unseres
Sonnensystems. Er schreibt zunächst zur Ökonomie:
„Der Reichtum ist wesentlich Energie:
die Energie ist Grund und Zweck der Produktion. Die Feldpflanzen, die wir
anbauen, und die Tiere, die wir züchten, sind Energiesummen, die die
Landarbeit verfügbar gemacht hat. Wir nutzen, wir verzehren diese Tiere
und Pflanzen, um die Energie zu erlangen, die in der Gesamtheit unserer
Arbeiten verausgabt wird.”
Die Frage nach der Herkunft der von uns umgesetzten
Energie (d.h. des Reichtums) beantwortet Bataille so:
„Die
grünen Teile der Pflanzen des Festlands und des Meeres bewirken die
unaufhörliche Aneignung eines bedeutenden Quantums der Lichtenergie der
Sonne. Auf diesem Wege erzeugt und belebt uns das Licht, die Sonne, und
bringt unsere Überschüsse hervor. ...
Praktisch, aus dem
Gesichtspunkt des Reichtums betrachtet, zeichnet sich die Sonnenstrahlung
durch ihren einseitigen Charakter aus: sie verliert sich ohne
Berechnung, ohne Gegenleistung. Die Sonnenökonomie gründet
auf diesem Prinzip.”
Das Faszinierende an den Überlegungen Batailles ist die
Zusammenschau der sonst meist getrennt analysierten Himmelskörper Sonne
und Erde. Indem er das organische Leben als Produkt des Zusammenspiels von
Erde und Sonne fasst und darin primär den von der Sonne induzierten
Energieüberschuss findet, kann er der beschränkten irdischen Ökonomie
seine allgemeine Sonnenökonomie entgegenstellen. Folgerichtig werden in
seinen ökonomischen Analysen nicht Verteilungsprobleme und Mangelbehebung
thematisiert, sondern die Notwendigkeit der schliesslichen Verschwendung
des Reichtums. Das durch Sonne induzierte Sieden des Erdballs entäussert
sich immer wieder durch explosionsartiges Verströmen des gestauten
Überschusses. Er schreibt:
„Zu
einem gegebenen Zeitpunkt, wenn das Wachstum des Systems seine Grenze
erreichen wird, wird die aufgefangene Energie nicht anders können, als
ihren Lauf wiederaufzunehmen und sich verlieren. Der Sonnenstrahl,
der wir sind, findet am Ende die Natur und den Sinn der Sonne
wieder: er muss sich verschenken, sich ohne Berechnung verlieren.
Ein lebendes System wächst, oder es verschenkt sich
grundlos.”
b) Damit ist die Konsequenz der pan-energetischen
Weltanschauung ausgesprochen und die Rede vom ununterscheidbaren Sieden –
des Erdballs, des Subjekts – motiviert. Die Gefahr des Versengens
entsteht, weil Bataille auf der Spitze der allgemeinen Ökonomie dazu
getrieben wird, Sonne sich im Menschen wiederfinden zu lassen und diesen
als solaren Imitator zum Rückgeber des empfangenen
Sonnenenergieüberschusses stilisiert. Ziel und Höhepunkt der
Bataille’schen Sonnenökonomie ist entsprechend nicht: Sonne zu denken,
sondern: Sonne zu sein. Von hier aus ist der Satz gesagt:
„ Es ist gewiss gefährlich, ... „
(s.o.)
Unsere Aufgabe aber ist, Sonne zu denken.
Entsprechend sind wir gezwungen, neben dem erforschenden und dem
beschwörenden nun auch den imitierend-identifizierenden Zugang zu Sonne
auszuschliessen.
Was aber bleibt dann noch? Erweist sich die gestellte
Aufgabe nicht als undurchführbar?
ABER WIR SIND JA SCHON AN DER ARBEIT, SONNE ZU DENKEN!
Oder war das Thema unseres kurzen kritischen Weges denn
nicht Sonne? Und: Stellten wir nicht fest, dass die Gefährlichkeit der
verschiedenen Zugänge zu Sonne in der Einseitigkeit und Unmittelbarkeit
ihrer Bezugnahmen liegt? Würde dann nicht die Aufgabe des Denkens darin
bestehen, statt selber Sonne zu entbergen, die Vielzahl der möglichen
Bezüge als Ereignisse des Entbergens von Sonne zu verstehen? Das
Denken wäre dann in die Geschichte verwiesen. Die Aufgabe, Sonne zu
denken, müsste sich als Historische Heliologie vollziehen.
Damit fangen die Schwierigkeiten erst richtig an. Denn
stand die Untersuchung eben noch in der Gefahr einer allzu grossen Nähe zu
Sonne, so taucht jetzt des Problem auf, dass sie sich nicht in totaler
diskursiver Vermittlung völlig von ihr entfernt. Wer einmal die Idee einer
historischen Heliologie gefasst hat, sieht sich bei seinen Nachforschungen
alsbald vor eine kaum überschaubare Stoffmasse von Darstellungen aus den
verschiedensten Wissensgebieten gestellt. So wie die Physikgeschichte ihre
Version der kopernikanischen Wende hat, so hat die
Theologiegeschichte die ihre; so wie die
Ägyptologie ihren Fokus auf die Solarmythologie der alten Ägypter
richtet, so findet
die Philosophiegeschichte in Griechenland die Anfänge der
Lichtmetaphysik. Bald
beginnt man daran zu zweifeln, ob eine historische Heliologie als
allgemeine und wissenschaftliche Heliologie überhaupt durchzuführen
ist. Ist das Feld nicht zu weit? Lässt sich dieses weite Feld noch in
verantwortbarer Weise überblicken?
Die
institutionalisierten Wissenschaften hätten ihre Antwort schnell gegeben.
Neben der Skepsis, die sie der Idee überhaupt entgegenbringen würden,
hätten sie noch vor Beginn des Projekts ihr paralysierendes Urteil darüber
gesprochen: unwissenschaftlich!
Aber hat sich das wirkliche Denken je von der
Beschränktheit einzelner Wissenschaften und ihren Methoden gängeln
lassen?
Doch droht eine weitere Gefahr. So ist der einzige mir
bekannte Ansatz einer historischen Heliologie der Versuchung erlegen, eine
Verfallsgeschichte zu erzählen. Karl Kerényi, ein Freund der
griechischen Mythologie, hält am 5. August 1943 auf der Eranos-Tagung in
Ascona einen Vortrag mit dem Titel ,Vater Helios’. Nach der Anrufung
Hölderlins und dem Hinweis auf den Verlust der göttlich-sonnigen Welt
Griechenlands wird die Gegenwart mit ihrer Rumpf-Sonne Thema: es bleibe
‘ein für sich leuchtender und wärmender Himmelskörper übrig, kein Gott
Helios mehr’ – und dann erzählt Kerényi folgende Geschichte:
„In
diesen Zustand sind wir stufenweise gekommen. Die Sonne wurde zunächst aus
der umgrenzenden und bestimmenden Peripherie einer Welt, wo sie oben das
Ur-Augenlicht für alle Augen und unten im Unsichtbaren der zeugende
Urvater war, in den Mittelpunkt gerückt. Das geschah durch Platon. Er war
es, der sie im Prinzip dorthin versetzte: als das Abbild des höchsten
Guten, der überweltlichen Quelle des Seins. Sodann leuchtete Helios,
bereits im 3. Jahrhundert v. Chr., infolge der Entdeckung Aristarchs von
Samos, des antiken Vorläufers des Copernicus, auch als Mittelpunkt der
Welt der Astronomen auf. Doch die Sonne war auch damals noch eher eine
Gottheit als die blosse Grundgegebenheit eines heliozentrischen
Himmelsbildes. Aristarchs Entdeckung drang in der antiken Welt nicht
durch. Sie bewegte sich allzu sehr in der Ebene der reinen Theorie. Der
Sonnengott behauptete seine Stellung viel mehr im Mittelpunkt eines
wahren, lebendigen Weltgewebes, bis er einem anderen Gotte weichen musste:
dem mit der Welt nie verwobenen, absoluten Gott des Christentums.
Es ist ein seltsames Schauspiel der
Religionsgeschichte, wie dann auch der Gott der Christen sich Elemente der
im Kult ausgedrückten Sonnenmythologie aneignet, um den gleichen
Mittelpunkt einnehmen zu können. Die Sonne wurde erst dadurch von der ihr
gebührenden Stelle ver-rückt und zu einer schwer zu behandelnden Grösse.
Christliche Dichter, Theologen und Heilige versuchten sie zu
beschwichtigen und klug, ja mit brüderlichem Sinne
einzuordnen. Dämonisiert wurde sie nur ausnahmsweise, am Rande des
Christentums, wo man sich ihrer Macht noch mehr ausgesetzt fühlte. In den
Mittelpunkt kehrte sie in der Neuzeit, ihrer Göttlichkeit völlig
entkleidet, zurück: nicht mehr in ein Gewebe, sondern in ein
gottverlassenes System. Diese neue heliozentrische Ordnung, die sich
letzten Endes als nur eine unter unzähligen anderen erwies, hat für ihren
Menschen, den heutigen, so wenig Göttliches in sich, dass sie sogar von
den Kirchen, eben als Schöpfung des unverwobenen Gottes, anerkannt werden
kann.”
Man mag diesem Geschichtsbild Einseitigkeit vorwerfen.
Man mag innerlich immer wieder ein Aber! gegen die Erzählung Kerényis
vorbringen wollen. Was Kerényi dennoch vor allen anderen Ansätzen
auszeichnet, ist, dass er seine Bevorzugung deklariert. Man glaube
nur ja nicht, dass der Physikgeschichtler nicht insgeheim in den
Keplerschen Planetengesetzen und der Entdeckung der Kernprozesse in der
Sonne, der Theologiegeschichtler in der Konstantinischen Wende, der
Ägyptologe in der Verehrung von Re die eigentlichen und wahren Bezüge zu
Sonne ansetzten. Insgeheim, sage ich, denn ihre kluges Schweigen ist nur
die Angst, sie könnten gegen den selbstauferlegten Imperativ der
Wertfreiheit in den Wissenschaften verstossen. Aber so kommen wir nicht
weiter! – möchte man ihnen zurufen, denn die historische Heliologie hat
eine tragische Geschichte zu erzählen und die Wahrheit liegt nicht
in einer einseitig eingenommenen Position, sondern in den Kämpfen
um die Wahrheit von Sonne – deren Ergebnis wir im übrigen sind.
Das ist nun zu zeigen.
Doch wo einsetzen? Bei den alten Ägyptern? Bei den
Griechen? Gar bei den Sonnenkulten, die auf allen Kontinenten ihre Spuren
hinterlassen haben? Nein. Historische Heliologie, wie sie hier verstanden
wird, erhält ihre Schärfe und Erkenntniskraft nur, wenn es ihr gelingt,
unserer eigenen Epoche ihre Herkunft aufzuzeigen. Sofort stösst man auf
die Stichworte ‘Heliozentrismus’ und ‘Kopernikanische Revolution’ – und
sieht sich abermals vor eine Unmenge an Literatur gestellt, die in
philosophie-, kosmologie-, kultur-, theologie- und
literaturgeschichtlicher Weise das Thema abhandeln.
Man merkt bald: So wie der blosse Wille zur
kulturgeschichtlichen Literatur dem Thema unangemessen ist, so bleibt auch
eine Übung in wissenschaftlicher Argumentation ausserhalb dessen, was mit
dem Kopernikanischen Umsturz zu denken ist. Warum ist das so? Warum genügt
es vor dem Problem der Kopernikanischen Wende nicht, weder zitatenreich zu
fabulieren, noch sich ‘ernsthaft mit dem Thema auseinander zusetzen’, noch
sich abzuwenden und eine religiöse Nische aufzusuchen? Weil zutrifft, was
Wolfgang Philipp in seinem wichtigen Buch zum Werden der Aufklärung einmal
sagt:
„Eines
sei gleich an dieser Stelle angefügt. Nach ihrem sachlichen Gehalt ist die
Kopernikanische Erschütterung auch das Schicksal unserer Gegenwart -
...”
Die historische Heliologie hat sich vorgenommen, dieses
Schicksal zu analysieren. Sie beginnt (A.) mit der Bestimmung der Mächte,
die die Kopernikanische Entdeckung zum Ereignis werden liessen, wird dann
(B.) versuchen, das Ereignis in sich selbst zu denken, um mit einem
kurzen Blick auf die Folgen (C.) zu schliessen.
A. Die
Vorbereitung
Zwei Mächte lassen sich im Vor- und Umfeld des
Kopernikanischen Ereignisses ausmachen: Eine gefestigte Institution und
ein drängendes Treiben, – die katholische Kirche und die Bewegung der
Renaissance.
1. Zur Kirchengeschichte
Der Umschlag, der das Christentum von einer randständigen
Religionsgemeinschaft zu einer weltgeschichtlichen Grösse werden liess,
ist an den Namen des römischen Kaisers Konstantin I. (306-337; Reg.-Zeit)
geknüpft. Dieser Kaiser, der von seinem Vater Constantius Chlorus
zunächst die Verehrung des römischen Sonnengottes Sol invictus
übernahm, erzählt dem römischen Schriftsteller Laktanz die Begebenheiten
vor seiner siegreichen Schlacht gegen seinen Widersacher Maxentius so:
„[Konstantin] sagte, er habe
um die Mittagszeit, als der Tag sich schon neigte, mit eigenen Augen am
Himmel über der Sonne das aus Licht gebildete Siegeszeichen des Kreuzes
gesehen, und dazu eine Schrift: Durch dieses siege [toÚtń n…ka; Eusebius von Cäsarea: hoc
signo vinces]. Schrecken überkam bei diesem Anblick ihn und das ganze
Heer, das ihm auf seinem Zug folgte und des Wunders ansichtig wurde.
Weiter berichtete er, er habe hin- und herüberlegt, was diese Erscheinung
bedeuten sollte. Während er so herumgrübelte und lange nachdachte, sei die
Nacht hereingebrochen. Im Schlafe sei ihm der Christus Gottes mit dem
Zeichen, das sich am Himmel gezeigt hatte, erschienen und habe befohlen,
eine Nachbildung des Zeichens, das er am Himmel gesehen hatte,
anzufertigen und es in der Schlacht gegen die Feinde als Schutz zu
gebrauchen.”
Konstantin I. typisiert in seinem Bericht Sonne in den
Gott der Christen um. Der Triumph in der Schlacht an der Milvinischen
Brücke in Rom (28. Okt. 312) ist und gilt deshalb als der grösste aller
kleinen Kairoi in der christlichen Heilsgeschichte. Aus den Verfolgten und
kaum Geduldeten wird jetzt die Gruppe jener, in deren Zeichen ein
römischer Kaiser Triumphe feiert. Mit der Konstantinischen Wende beginnt
für die Christenheit die Geschichte ihrer Reichskirche. Dabei ist
das Werden des Christentums zur staatstragenden Religion in einen
umfassenden diskurstheologischen Prozess eingebettet, der die römische
Sonnenfrömmigkeit und -verehrung durch die Sol-Christologie zu
überbieten trachtet. Die positiven christologischen Bezugnahmen auf Sonne,
die sich bis ins zweite Jahrhundert zurückverfolgen lassen, brechen sich
im dritten und vierten Jahrhundert Bahn. In einer ‘Aufmunterung an die
Griechen’ (Protreptikos pros Hellenas) des Klemens von Alexandrien wird
deutlich gemacht:
„Menandros scheint sich also
geirrt zu haben, wo er sagt:
Dich Sonne, muss man ehren
als den höchsten Gott,
Durch den man sehen kann der anderen
Götter Schar.
Denn auch die Sonne wird uns nie den wahren
Gott zeigen können, sondern dies kann nur der heilbringende Logos, der die
Sonne der Seele ist (Š de LÒgoj Š Ųgi»j, Ój estin
¼lioj yucÁj);
durch diese Sonne allein, wenn sie im Innern in der Tiefe des Geistes
aufgegangen ist, wird das Auge der Seele erleuchtet.”
Dieses Zitat zeigt sehr gut die Überbietungsstrategie der
christologischen Rede: Gefordert wird erstens ein Abzug der Aufmerksamkeit
von der äusseren Sonne, zweitens wird ein allein heilbringender Logos ins
Spiel gebracht und drittens wird die Metaphorisierung von Sonne bis zur
Wendung von der ‘Sonne der Seele’ vorgetrieben. Generell lässt sich sagen,
dass sämtliche Anstrengungen der Sol-Christologie auf dem Prinzip beruhen,
die vorgefundene sonnenkultische Bedeutungskraft von Sonne zu
interiorisieren und auf den Stifter ihrer Religion zu übertragen. Dazu
Ernst Cassirer:
„Die
geschichtliche Wirksamkeit und der geschichtliche Sieg des Christentums
war geradezu daran gebunden, dass es die Grundanschauungen der heidnischen
Sonnen- und Lichtverehrung in sich aufzunehmen und in sich zu verwandeln
vermochte.”
Erst die endgültige und vollständige Metaphorisierung von
Sonne – etwa in Christustiteln wie ‘Sonne der Gerechtigkeit’ (Mal 3,20) –
vermochte es, in perfekter Ergänzung zu den äusseren Erfolgen Konstantins,
auch die frommen Herzen für sich zu gewinnen.
Im übrigen gingen die Kirchenväter in ihrer Degradation
von Sonne sehr weit. In Anlehnung an den Schöpfungsbericht – dort wird die
Sonne erst am vierten Tage erschaffen – heisst es bei Ambrosius von
Mailand:
„Nur
Geschöpf ist also die Sonne, darum ist sie auch dienstbar.”
Oder Origenes, der die christologische Rede von der Sonne
der Gerechtigkeit zum Topos verfestigte, führt anlässlich der
alttestamentlichen Stelle Josua 10,12 – Josua zu Jesus umtypisierend –
aus:
„Mein
Jesus hiess also die Sonne stillstehen – nicht nur damals, sondern viel
mehr noch bei seiner Ankunft. Wenn wir Krieg führen gegen unsere Feinde,
... dann steht uns die Sonne der Gerechtigkeit unablässig bei, ...”
Sonne, zur christologischen Metapher geworden, ist nun
dienstbares Geschöpf, steht auf Befehl still und ist zuständig für das
Kriegsglück.
Noch einen Schritt weiter geht Aurelius Augustinus
(354-430). Bei ihm wird die Sonnenmetaphorologie auf einen Diskurs hin
durchbrochen, der mit einem doppelten Sonnenbegriff operiert. In seinem
Kommentar zum Evangelium des Johannes bricht er Sonne in zwei Teile: einen
natürlichen und einen geistigen.
„’Ich
bin das Licht der Welt’(Joh. 8,12). Und vielleicht sagt auch wohl einer
bei sich selbst: Ist etwa Christus der Herr die Sonne, die durch Auf- und
Untergang den Tag bewirkt? Denn es hat nicht an Häretikern gefehlt, welche
dies meinten. Die Manichäer hielten dafür, dass diese mit den Augen des
Fleisches wahrnehmbare Sonne, die nicht bloss für die Menschen, sondern
auch für die Tiere öffentlich zum Sehen hingestellt ist, Christus der Herr
sei. Aber der rechte Glaube der katholischen Kirche verwirft ein solches
Phantasiegebilde und erkennt darin eine teuflische Lehre. ... Glauben wir
nicht, der Herr Jesus Christus sei diese Sonne, die wir aufgehen sehen im
Osten und untergehen im Westen, auf deren Fortgang die Nacht folgt, deren
Strahlen durch eine Wolke verdunkelt werden, die in einer bestimmten
Bewegung von einem Orte zum anderen wandelt; dies ist nicht Christus der
Herr. Nicht ist Christus der Herr die Sonne, die gemacht ist, sondern
diejenige, durch den sie gemacht ist (non est Dominus Christus sol factus,
sed per quem sol factus est).”
Man kann eine solche Rede nicht ernst genug nehmen. In
der Abwehr der manichäischen Häretiker geht bei
Augustinus die Überbietungsstrategie der Sol-Christologie in die Phase des
absurden Überziehens ein. Man mag für seine Intervention vor dem
Hintergrund der Zustände Roms seiner Zeit Verständnis aufbringen, man mag
einem Dualismus von Fleisch und Geist zuneigen, aber man wird kaum mehr
mitmachen wollen, wenn gesagt wird, dass Sonne durch Christus
gemacht ist. Heliologiehistorisch ist mit dieser Rede ein Extrem
erreicht: Sie nimmt Motive der griechischen Naturphilosophie auf
(Anaxagoras These: Sonne sei lediglich ein Stein), sie greift auf die
alttestamentliche Figur Gottes als Creator mundi zurück und
verknüpft die beiden Stränge in der Gewissheit, dass der Heilsbringer
Christus das wahre Licht der Welt ist. Ein Jahrtausend lang hatte dieses
welt- und heilsgeschichtliche Amalgam die Plausibilität auf seiner
Seite.
Seiende Sonne? Ach, was wollt ihr? Wir Christen nähren
uns von Wort, Leib und Blut unseres Herrn, leuchten mit ihm aus uns selbst
in unserer Kirche und benötigen eure Sonne nicht! Oder wie es Ambrosius
einmal sagt:
„Ob
diese Sonne grösser ist als die Erde, oder nur einen Fuss in die Breite
misst, ob der Mond mit fremdem oder mit eigenem Licht erstrahlt? Das zu
wissen bringt keinen Nutzen, nicht zu wissen keinen Schaden. Euer Wohl ist
in Gefahr: das Heil nämlich eurer Seelen.”
2. Zur Bewegung der Renaissance
Es gibt zahlreiche Darstellungen zur Renaissance. Die
Aufmerksamkeit des Heliologen hat sich auf dasjenige zu richten, was man
als die ‘Sonnenmetaphysik’ (H. Blumenberg) oder den ‘Sonnenkult’ (W.
Philipp) der Renaissance bezeichnet. Tatsächlich beginnt die Neuzeit mit
einer neuen Zuwendung zu Sonne. So wie die Blumen ausserhalb der
Kirchenmauern alljährlich neu und frisch ihre Pracht entfalten und ihren
Duft verströmen, so geschieht im Italien des 14./15. Jahrhunderts den
Menschen eine neue Öffnung von Welt. Der christologische Zirkel wird durch
einen platonisch inspirierten liebenden Blick auf das Seiende im Ganzen
aufgebrochen. Man höre zur Einstimmung Marsilio Ficino:
„Die
göttliche Vernunft gewährt den niedern Körpern nur das Leben gleichsam als
Wärme, den vorzüglicheren auch die Wahrnehmung gleichsam als Licht, den
vorzüglichsten überdies den Intellekt gleichsam als Leichtigkeit ... Der
göttliche alles durchdringende Strahl ist also, aber lebt nicht in den
Steinen, lebt, aber glänzt nicht in den Pflanzen, glänzt in den Tieren,
aber ohne in sich reflektiert zu werden und in sein Quelle zurückzukehren.
Im Menschen ist er, lebt, glänzt und wird in sich reflektiert”.
Ob es Neuplatonismus ist? Ob die Lichtmetaphysik des
Proklos Pate gestanden hat? Ob die Sonnenstrahltheologie des Areopagiten
dahinter steht? Mag alles sein – aber vor allem ist es im eminenten Sinne
gesehen. Die Natur schlägt in der Renaissance ihr Auge wieder auf,
der Mensch blickt wieder um sich, Sonne ist wieder Quelle – ganz
unmetaphorisch – des alles durchdringenden göttlichen Strahls der dem
Stein die Wärme, der Pflanze das Leben, dem Tier das blickende Glänzen und
dem Menschen die Leichtigkeit des Geistes schenkt.
Fünf Jahre vor seinem Tod publiziert Ficino die uns hier
interessierende kleine Schrift De Sole (1494). Ein Vorabexemplar
sendet er an den Grafen von Württemberg nach Deutschland. Da er von einem
befreundeten Contemplator caeli, Martinus Uranius, nur Gutes
über den deutschen Grafen gehört hat, will er ihm sein Liber de
Sole als Geschenk über einen weiteren Freund zukommen lassen. Der
Begleitbrief wirft nicht nur ein Licht auf Ficinos Abhandlung, sondern
zeigt auch, welche Art von Kommunikation zu dieser Zeit in Europa zwischen
Denken und Macht möglich war:
„Marsilio Ficino aus Florenz
sendet Eberhard dem Älteren, Grafen von Württemberg und Mömpelgard, seine
herzlichsten Grüße.
Unser
Martinus Uranius, das heißt "der Himmlische" (id est caelestis), in
Wahrheit aber ein Betrachter der Himmelskörper (re vera caelestium
contemplator), hat in einem langen Gespräch mit mir erörtert, daß Du
zweifelsfrei unter allen deutschen Fürsten so hervorragst wie die Sonne
zwischen den Gestirnen. Durch diese Loblieder, gleichsam durch den Glanz
Deiner Tugenden entflammt, habe ich Dir schon vor längerer Zeit jenes
Briefchen geschrieben als Unterpfand meiner fürwahr gewaltigen Liebe für
Dich [Brief v. 28. Juni 1492; darin ein platonisierendes Lob des wahren
Fürsten]. Es ist jedoch kein unermeßliches Pfand, wie es angemessen wäre.
Damit ich es also Deiner höchsten Würde wie auch meinem Verlangen
entsprechend bedeutend reicher mache, schicke ich jetzt der Sonne
Deutschlands selbst die Sonne des Platon und des Dionysios, um durch ihren
Glanz meine wunderbare Liebe für Dich ringsumher bekanntzumachen (ad ipsum
Germaniae solem nunc Platonicum et Dionysiacum solem mitto mirum in te
amorem nostrum splendore passim declaraturum). Wie aber Merkur die
Geschenke des Phoebus dem Geist der Menschen bringt, so möge Johannes
Streler, für mich sozusagen ein zweiter Merkur, zu Euch dieses phoebeische
Geschenk von mir bringen. Du wirst also mit Freude lesen, phoebeischer
Fürst, was über den Vergleich der Sonne mit Gott (comparatione solis ad
Deum) teils Platon und Dionysios Areopagita dargelegt haben, teils ich
übersetze und kommentiere. Lebe glücklich in diesem Schatten des Lebens,
um hernach schließlich eine ewige Sonne zu genießen (Vive felix
in hac umbra vitae post hanc sole tandem perpetuo fruiturus). Leb wohl.”
Ficino geizt nicht mit der Nennung von Sonne. Man wird
geradezu von einem entflammten Solarenthusiasmus sprechen können. Und wenn
schliesslich verkündet wird, dass uns nach der kurzen schattigen Strecke
des Lebens der Genuss einer ewigen Sonne erwartet, wird man sich fragen:
Ist das noch christlich gedacht? Die Befürchtung, dass dem nicht so ist,
hat Ficino selber empfunden und deshalb seiner Schrift einige Worte an den
Leser vorangestellt. Er weist auf den allegorischen und anagogischen
Charakter seiner Abhandlung hin: Nicht soll sie als eine Kette von
dogmatischen Argumenten, sondern als inspiriertes Lob von Sonne
aufgenommen werden. ‘Die Musen disputieren niemals mit Apoll, sie singen’
(Non disputant unquam cum Apolline Musae, sed canunt. Cap.
I).
Ficino eröffnet seinen Vergleich von Sonne und Gott mit
dem Hinweis auf die väterliche Qualität von Sonne. Indem der grosse
unerschöpfliche Leuchter rundherum sein Licht verschenkt ist er zweifellos
der Herr, der Regent und Leiter aller himmlischen Dinge (Sol
tanquam manifestus coeli Dominus omnia prorsus coelestia regit, et
moderatur. Cap. III). Aber auch der irdischen. So wie Sonne im Frühling
die Natur zu Leben erweckt, so ist sie auch – vermittelt über Mond –
zuständig für die Geschehnisse rund um die Geburt des Menschen (Cap. V).
Vieles wußten die Alten. Ficino zitiert eine orphische Hymne: ‘Die Sonne
ist ewiges Auge, das alles sieht’ (Sol oculus aeternus omnia videns),
verweist auf die Ägypter, auf Proclus, Iamblichus und Moses. Sie alle,
sagt er, hätten Sonne aus verschiedenen Gründen gleichsam als Herrscher in
die Mitte der Welt gesetzt (Solem quasi Dominum omnes in mundo
medium, quamvis ratione diversa, collocaverunt). Die alten
Naturphilosophen nannten Sonne das Herz des Himmels (Physici
veteres, Solem cor coeli, nominaverunt. Cap. VI), Plato den sichtbaren
Sohn des Guten selbst (Plato ... Solem ipsius boni conspicuum filium
nominavit. Cap. IX). Und was schuf Gott zuerst? Moses antwortet: Licht.
Richtig, sagt Ficino, aber es ist ebenso deutlich, daß die Schöpfung in
sechs Tagen vollendet wurde, Gott am siebten Tage ruhte, die Woche mit dem
Sonntag beginnt und deshalb die Schöpfung entsprechend unter der Macht von
Sonne, bzw. sie unter ihrer Führung eingeleitet wurde (Si enim Deus mundum
sex quidem diebus absolvit, et septimo conquievit, nimirum ab ipso Solis
die, id est, potestate solari, mundi videtur auspicatus exordia. Cap. X).
Nichts in der Welt kommt der Trinität näher als Sonne (Nihil in mundo
divinae trinitati reperitur Sole similius. Cap. XII). Erstens liegt in ihr
eine unermeßliche und für uns undurchdringliche Fruchtbarkeit (Vater),
zweitens ein aus ihr ausströmendes wesensgleiches natürliches Licht (Sohn)
und drittens eine beiden gemeinsame wärmende Kraft (Geist).
Dann folgt das dreizehnte und letzte
Kapitel von De Sole. Ficino eröffnet es mit einer Szene, die einen
ägyptisierten Sokrates vorführt: Dieser hätte oft des Morgens,
bewegungslos wie eine Statue, den Sonnenaufgang begrüßt, vielleicht von
einem phoebischen Dämon geführt. Doch hätte die Aufmerksamkeit des
Sokrates selbstverständlich nicht der sichtbaren Sonne gegolten – deren
Bewegung und Wirkungen er schon lange sowohl mathematisch als auch
physikalisch begriffen hätte – sondern dem in sich ruhenden Vater dieses
aufgehenden Lichts. Dasselbe sage Jacobus: ‘Alle gute Gabe und alle
vollkommene Gabe kommt von oben herab, vom Vater des Lichts, bei welchem
ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis’ (Jak.
1,17). Und deshalb sei Sonne nicht Gott. Denn weil der unbewegte Zustand
gleichsam Prinzip, Lenkung und Ziel der Bewegung, ja vollkommener als jede
Bewegung sei, könne Gott, der selbst Prinzip, Ziel und Lenker von allem
ist, nicht beweglich sein – die Sonne aber sei fortwährend in Bewegung
(Cum status tanquam principium et rector finisque motionis, sit omni motu
perfectior, certe Deus ipse principium et rector omnium, mobilis esse non
potest. Sol autem est assidue mobilis. Cap. XIII). Mit dem Hinweis auf die beschränkte Mächtigkeit von
Sonne – ihr Licht könne beispielsweise Erde nicht durchdringen und werde
von Mond aufgehalten – beschliesst Ficino seine Abhandlung. Nachdem Sonne
während zwölf Kapiteln sukzessive mit Attributen des Göttlichen versehen
wurde, bricht die Divinisierung im dreizehnten und letzten Kapitel abrupt
ab. Hauptargument: Da Gott als Prinzip und Herrscher selbst unbewegt sein
müsse, Sonne sich aber fortwährend in Bewegung zeige, kann Gott und Sonne
nicht dasselbe sein.
Man mache sich klar: Würde gefunden, daß
die Bewegung von Sonne nur eine scheinbare ist, sie vielmehr als Ruhende
in der Mitte eines Systems von Planeten sich befindet, müßte das
dreizehnte Kapitel von De Sole anders lauten. Die aufgebaute
Spannung würde am Ende nicht vom Negativbescheid Sonne sei nicht
Gott gebrochen werden können, sondern würde in die Frage ausmünden, ob
sie es nicht doch sei.
Vor der Konsequenz, diese Frage angehen zu
müssen, standen Kopernikus und dann auch Kepler.
B.
Das Kopernikanische Ereignis
Nicolaus Kopernikus wurde am 19. Februar 1473 in Thorn
geboren. Im Wintersemester 1491/92 immatrikuliert er sich in Krakau an der
Artistenfakultät; dort erhält er Unterricht im Trivium von Grammatik,
Stilistik und Logik und im Quadrivium von Arithmetik, Musik, Geometrie und
Astronomie. Besonders das letztgenannte Fach stand zu jener Zeit in Krakau
in hoher Blüte. Ohne Abschluß verläßt Kopernikus Krakau und schreibt sich
im Herbst 1496 in Bologna ein (Jura). Seine weiteren Stationen in Italien
sind: Rom, Padua, Ferrara. 1506 kehrt er zurück ins Ermland. Hans Günter
Zekl, dessen lesenswertem Vorwort ich diese
Informationen entnehme, meint, dass Kopernikus bei seiner Rückkehr aus
Italien seine Grundidee bereits gefasst und mit Argumenten und
Berechnungen unterlegt habe. Welche Grundidee ist gemeint?
Wir reden heute noch von den Planeten. Das Wort ‘Planet’
ist griechischer Herkunft und stammt vom Verb plan£w, ich führe irre, ab. Die
Benennung einer besonderen Sorte von Himmelskörpern als Planeten geht auf
die Beobachtung zurück, dass diese sich gegenüber den Sternen des
Fixsternhimmels in ungeregelter, scheinbar planloser, irrender Weise
bewegen. Bei Ptolemäus (87-150) werden die Planeten in den Büchern IX-XIII
des Almagest mit einer Vogelschar verglichen, die in freiem Rhythmus
koordinierte Bewegungen ausführt. Für Kopernikus ist daraus ein Monstrum
geworden:
„... es ergeht ihnen so, wie
wenn einer von verschiedenen Stellen aus Hände, Füße, Haupt und andere
Glieder, zwar in schönster Ausführung, aber nicht nach dem
Vergleichsmasstab eines Körpers gemalt, hernähme, die wechselseitig
überhaupt nicht sich entsprächen, so daß ein Ungeheuer (monstrum) eher als
ein Mensch sich daraus zusammensetzte.”
Kopernikus löst (grundsätzlich) das
Planetenproblem. Vor seinen Prinzipien löst sich die Unordnung der
Wandersterne – zu denen nun auch die Erde gehört – in eine wohlgeordnete
Harmonie von sonnenumkreisenden Himmelskörpern auf.
Platonisch-systemtheoretisch gesprochen rettet er die Phänomene
(sóxein t¦
fainÒmena), indem er ihre Komplexität auf das wahre
Prinzip reduziert: ihren kreisförmigen Umlauf um die Sonne. So verwundert
es nicht, daß an entscheidender Stelle in De revolutionibus die
Rede des demonstrierenden Mathematikers hymnische Züge annimmt:
„Inmitten alles dessen [den
Revolutionen von Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter und Saturn] aber
thront die Sonne (In medio vero omnium residet Sol). Wer denn wollte in
diesem wunderschönen Heiligtum (pulcerrimo templo) diese Leuchte an einen
anderen, besseren Ort setzen als dem, von wo aus sie das Ganze
gleichzeitig erhellen kann (totum simul possit illuminare)? Zumal doch
bestimmte Leute sie durchaus treffend Lampe der Welt (lucernam mundi),
andere ihren Sinn (mentem), andere ihren Lenker (rectorem) nennen.
Trismegistos nennt sie sichtbaren Gott (visibilem deum), die Elektra des
Sophokles die Alles-Schauende (intuentem omnia). So wirklich, wie auf
königlichem Thron sitzend, lenkt die Sonne die um sie herum tätige
Sternfamilie (Ita profecto tamquam in solio regali Sol residens
circumagentem gubernat astrorum familiam)”
Damit ist das dreizehnte Kapitel von
Ficinos De Sole umgeschrieben. Die
unbewegt-residierende Leiterin des Alls ist Sonne. Aber entscheidend ist:
Diese Umschrift der Abhandlung eines enthusiasmierten
Renaissance-Philosophen geschieht vor dem Hintergrund jahrzehntelanger
akribischer Forschungen! Kopernikus war kein Dichterphilosoph, sondern ein
verdienter Mathematiker, von dem nicht umsonst Präzisierungen des
Kirchenkalenders (Calendario Ecclesiastico) erwartet wurden. Um so
ungeheurer der Vorgang: In ihm treffen sich vorbereitende dichterische
Motive mit dem Fund der Königin der Wissenschaften zur
Sonnenhymnologie. Kopernikus wußte sehr gut, warum seine Entdeckung
nicht für die Menge bestimmt war. Lange zögerte er, De
revolutionibus zu schreiben und zu veröffentlichen. Die dem ersten
Buch ursprünglich angehängte Übersetzung eines Briefes des
Pythagoras-Schülers Lysis gibt davon Zeugnis. Er
scheute sich, seine Erkenntnis gemein zu machen. Aber die Welt griff
danach – und der PÒlemoj brach
aus.
Bereits im Jahre 1541 urteilt
Melanchthon (1497-1560) aufgrund eines umlaufenden Gerüchts:
„Es gibt da Leute, die
glauben, es sei ein hervorragender Fortschritt, eine so absurde Behauptung
zu verfechten wie dieser sarmatische Astronom,
der die Erde bewegt und die Sonne anheftet. Wahrlich, kluge Herrscher
sollten die Frechheit der Geister zügeln!”
Oder man höre Martinus Luther in einer
seiner Tischreden aus dem Jahre des Herrn 1539:
„Es ward gedacht eines newen
Astrologi / der wollte beweisen / das die Erde bewegt würde und umbgienge
/ Nicht der Himel oder das Firmament / Sonne und Monde / Gleich als wenn
einer auff einem Wagen oder einem Schiffe sitzt und bewegt wird / meinete
/ er sesse still und rugete / das Erdreich aber und die Beume gingen umb
und bewegten sich. Aber es gehet jitzt also / Wer das will klug sein / der
sol jm etwas eigens machen / das mus das aller beste sein / wie ers machet
/ Der Narr will die gantze kunst Astronomiae umbkehren / Aber wie die
heilige Schrift anzeiget / so hies Josua die Sonne stillstehen / und nicht
das Erdreich.”
Man merkt auf. Wieder die Josua-Stelle.
Zielsicher legt Luther den Finger auf den wunden Punkt: Wie kann, wenn
Josua im Bund mit dem Herrn der bewegten Sonne den Stillstand befiehlt,
diese unbewegt sein? Tatsächlich wird sich auch die katholische Kirche
Roms in ihrem Kampf gegen den Kopernikanismus unter anderem auf die
Josua-Stelle stützen, hat sie doch ihren Sieg – man erinnere sich – gerade
durch die erfolgreiche Metaphorisierung und Indienstnahme von Sonne
errungen. Christus ist die wahre Sonne durch die die sichtbare gemacht ist
und Weisungen erhält – und nun taucht ein neuer Astrologi auf, der
die Unbewegtheit und Zentralität des sichtbaren Gestirns
behauptet.
Zwei Mächte, zwei Sonnen: der
Befehlsempfangenden steht nun die Residierende gegenüber, der hinter
der heiligen Schrift Verschwindenden und vor Gott Untergehenden steht die
in
ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit nun Aufgehende gegenüber.
In der Narratio prima des Rheticus,
einem Freund Kopernikus’ und Kommentator seines Werks, heißt es
einmal:
„... daß die bewundernswerte
und sowohl Gottes, des Baumeisters, wie dieser göttlichen Körper ganz
würdige Symmetrie und Verflechtung der Bewegungen und Bahnen, ... rascher
im Geiste (wegen der Verwandtschaft, die er mit dem Himmel hat) begriffen,
als durch irgendeine menschliche Sprache geschildert werden kann; ...”
Die übermenschliche Sprache, in der die
Symmetrie der um die Sonne kreisenden Planeten allein und augenblicklich
begriffen werden kann ist die Mathematik. Im zehnten Kapitel des
ersten Buches von De revolutionibus sagt Kopernikus
dasselbe:
„Alles das [gemeint sind die
Umläufe der Planeten um die Sonne] ... werden wir im Fortschreiten, mit
GOTTES Gnade, klarer als die Sonne selbst machen (ipso Sole clariora
faciemus), wenigstens für Leute, die in der mathematischen Kunst sich
auskennen (mathematicam saltem artem non ignorantibus).”
Man achte genau darauf, was Kopernikus
sagt. Er werde die Sache mit der Gunst Gottes klarer als die Sonne selbst
machen. Lichtverbreitendes Werkzeug ist ihm dabei die Mathematik.
Kopernikus ist zwar nur der von Gott begünstigte Mittler, der einem
höheren Zeigen stattgibt, dennoch sagt er: Wir werden im Fortgang die
Sache klarer als die Sonne ‘machen’ (faciemus). Zwischen Gott und Sonne
spielt nun das Spiel der evidenten Demonstration. Nicht mehr ist es der
geborene und gestorbene und wiederauferstandene Sohn Gottes der den
Eigenschein von Sonne überbietet, sondern die mathematische Evidenz, die
aus den Bewegungsgesetzen des Systems von Sonne hervorleuchtet.
Es ist Johannes Kepler, dem es vergönnt
war, die im Sonnensystem wirkenden Gesetze zu präzisieren und zu
vervollständigen. Waren bei Kopernikus die Planetenbewegungen noch
einfache Kreise, so entdeckte Kepler – vor dem Hintergrund des genauen
Datenmaterials Tycho Brahes – , daß die Planeten sich in Ellipsen bewegen
(1. Keplersches Gesetz) und daß sie in gleichen Zeiten gleiche
Radiensektoren beschreiben (2. Keplersches Gesetz). Beide Entdeckungen
werden in dem 1609 erschienenen Werk Astronomia Nova präsentiert
und betreffen Verhältnisse einzelner Planeten und ihrer Bewegungen um
Sonne. Demgegenüber formuliert das 3. Keplersche Gesetz – im dritten
Kapitel des fünften Buches von Harmonices Mundi (1619) eröffnet –
eine Proportion, die zwischen verschiedenen Planetenumläufen
gefunden werden kann. Nach ihm verhalten sich die ins Quadrat gesetzten
Umlaufzeiten irgend zweier Planeten wie die Kuben ihrer mittleren Abstände
zu einander. Kepler
beschreibt seinen Fund so:
„Am 8. März dieses Jahres
1618, wenn man die genauen Zeitangaben wünscht, ist sie [die wahre
Proportion] in meinem Kopf aufgetaucht. Ich hatte aber keine glückliche
Hand, als ich sie der Rechnung unterzog, und verwarf sie als falsch.
Schliesslich kam sie am 15. Mai wieder und besiegte in einem neuen Anlauf
die Finsternis meines Geistes, wobei sich zwischen meiner siebzehnjährigen
Arbeit an den Tychonischen Beobachtungen und meiner gegenwärtigen
Überlegung eine so treffliche Übereinstimmung ergab, daß ich zuerst
glaubte, ich hätte geträumt und das Gesuchte in den Beweisunterlagen
vorausgesetzt. Allein es ist ganz sicher und stimmt vollkommen ...”
C. Die
Folgen
Erkennt man diese Zusammenhänge,
wird auch das eigentümliche Rasen verständlich, das von dem
vernünftigen Lebewesen seit Jahrhunderten auf dieser Erde ausgeht. Die
Vermutung drängt sich auf, daß es einer Sonnennarkose erlegen ist.
Nichts wäre dann für es wichtiger, als noch einmal zu versuchen, Sonne zu
denken.
Zürich 2006, msemm@dplanet.ch