Markus Semm

Sonne denken
Entwurf zu einer Historischen Heliologie

EINLEITUNG

Die Aufgabe ist, Sonne zu denken. (Ich lasse den Artikel absichtlich beiseite). Denken, das heisst zunächst negativ: Sonne wird in dieser Studie weder Objekt wissenschaftlicher Forschung sein, noch wird sie mythisch beschworen werden.

Denn was geschieht im einen und im anderen Fall?

1. Sonne als Objekt der Forschung

Hier kommt unser gelber Zwergstern der Leuchtkraftklasse fünf entweder als Energielieferant, als Prototyp der Energiegewinnung oder als Modell zum Bau der Wasserstoffbombe in den Blick. Diese Dinge sind jedermann bekannt. Der Physiker C. F. von Weizsäcker, der selbst 1938 ein Referat über die Umwandlung der Elemente in der Sonne hielt, schreibt später:

„Historisch haben die astrophysikalischen Theorien über Kernprozesse in der Sonne in der Tat zur Erfindung der Wasserstoffbombe beigetragen”[1]

Die Physik denkt Sonne nicht, sondern nutzt sie.

2. Beschwörung von Sonne

Martin Heidegger, damals Rektor der deutschen Universität Freiburg, hielt am 24. Juni 1933 auf dem Universitätsstadion eine kurze Rede zur Sommersonnenwende. Der Feuerspruch lautete:

„Die Tage fallen – unser Mut steigt / Die Tage fallen – dem Dunkel und der Härte des Winters entgegen, / unser Mut steigt – das Dunkel zu brechen und der kommenden Härte mannhaft standzuhalten. / Feuer! Sage uns: Ihr dürft nicht blind werden im Kampf, sondern Ihr müsst hell bleiben für das Handeln. / Flamme! Dein Lodern künde uns: Die deutsche Revolution schläft nicht, sie zündet neu umher und erleuchtet uns den Weg, auf dem es kein Zurück mehr gibt. / Die Tage fallen – unser Mut steigt. / Flammen zündet! Herzen brennt!”[2]

Zündende Flammen, brennende Herzen: Man kennt die Folgen des unumkehrbaren Weges der Deutschen.

Was entnehmen wir den beiden angeführten Punkten? Antwort: Dass sowohl der erforschende als auch der beschwörende Bezug zu Sonne gefährlich ist. Wir wissen nicht, warum das so ist. Die Gefahr, die im einen wie im anderen Bezug an den Tag kommt, ist in ihrer Tatsächlichkeit einfach hinzunehmen. Allgemein können wir sagen: Das radikal getätigte Entbergen (in den Modi: Erforschen und Beschwören) von Sonne birgt Gefahren. Diese Gefahren entstehen dadurch, dass die Entbergungskraft des Menschen Sonnenkraft auf Erde anwesen lässt. Oder anders: Dass im Umkreis des menschlichen Daseins auf Erde entborgene Sonne Wirklichkeit wird.

Man fragt sich nun, ob nicht auch der denkende Bezug zu Sonne Gefahren birgt. Gilt nicht für jeden solchen Versuch, was Georges Bataille im Vorwort zu La Part Maudite (1949) sagt:

„Es ist gewiss gefährlich, wenn man die kalte wissenschaftliche Forschung bis zu einem Punkt treibt, wo ihr Gegenstand einen nicht mehr gleichgültig lässt, sondern einen vielmehr versengt. Das Sieden, das ich untersuche und das den Erdball bewegt, ist auch mein Sieden. So kann das Objekt meiner Untersuchung nicht mehr vom Subjekt geschieden werden, genauer noch: vom Subjekt auf seinem Siedepunkt.”[3]

Zwei Fragen stellen sich: a) was versteht Bataille unter dem Sieden des Erdballs und b) wie kommt er dazu, sich selbst als ‘Subjekt auf dem Siedepunkt’ in die Untersuchung miteinzubeziehen? Erst durch Klärung dieser Fragen wird möglicherweise die auftauchende Gefahr verständlich werden.

a) Bataille vertritt eine energetische Weltsicht. Sein Projekt einer Ökonomie im Rahmen des Universums (L’économie  à la mesure de l’univers) versucht den Bezug von Erde und Sonne im Rahmen einer allgemeinen Energiebilanzierung zu denken. Er stösst dabei auf die unbezweifelbare (auch naturwissenschaftlich gesicherte) Tatsache, dass für den biosphärischen Energiehaushalt der Erde beinahe vollständig die Sonne aufkommt (zu ca. 99%). Das Leben auf der Erde verdankt sich der verschwenderischen Energieabgabe des Zentralgestirns unseres Sonnensystems. Er schreibt zunächst zur Ökonomie:

„Der Reichtum ist wesentlich Energie: die Energie ist Grund und Zweck der Produktion. Die Feldpflanzen, die wir anbauen, und die Tiere, die wir züchten, sind Energiesummen, die die Landarbeit verfügbar gemacht hat. Wir nutzen, wir verzehren diese Tiere und Pflanzen, um die Energie zu erlangen, die in der Gesamtheit unserer Arbeiten verausgabt wird.”

Die Frage nach der Herkunft der von uns umgesetzten Energie (d.h. des Reichtums) beantwortet Bataille so:

„Die grünen Teile der Pflanzen des Festlands und des Meeres bewirken die unaufhörliche Aneignung eines bedeutenden Quantums der Lichtenergie der Sonne. Auf diesem Wege erzeugt und belebt uns das Licht, die Sonne, und bringt unsere Überschüsse hervor. ...
Praktisch, aus dem Gesichtspunkt des Reichtums betrachtet, zeichnet sich die Sonnenstrahlung durch ihren einseitigen Charakter aus: sie verliert sich ohne Berechnung, ohne Gegenleistung. Die Sonnenökonomie gründet auf diesem Prinzip.” [4]

Das Faszinierende an den Überlegungen Batailles ist die Zusammenschau der sonst meist getrennt analysierten Himmelskörper Sonne und Erde. Indem er das organische Leben als Produkt des Zusammenspiels von Erde und Sonne fasst und darin primär den von der Sonne induzierten Energieüberschuss findet, kann er der beschränkten irdischen Ökonomie seine allgemeine Sonnenökonomie entgegenstellen. Folgerichtig werden in seinen ökonomischen Analysen nicht Verteilungsprobleme und Mangelbehebung thematisiert, sondern die Notwendigkeit der schliesslichen Verschwendung des Reichtums. Das durch Sonne induzierte Sieden des Erdballs entäussert sich immer wieder durch explosionsartiges Verströmen des gestauten Überschusses. Er schreibt:

„Zu einem gegebenen Zeitpunkt, wenn das Wachstum des Systems seine Grenze erreichen wird, wird die aufgefangene Energie nicht anders können, als ihren Lauf wiederaufzunehmen und sich verlieren. Der Sonnenstrahl, der wir sind, findet am Ende die Natur und den Sinn der Sonne wieder: er muss sich verschenken, sich ohne Berechnung verlieren. Ein lebendes System wächst, oder es verschenkt sich grundlos.”

b) Damit ist die Konsequenz der pan-energetischen Weltanschauung ausgesprochen und die Rede vom ununterscheidbaren Sieden – des Erdballs, des Subjekts – motiviert. Die Gefahr des Versengens entsteht, weil Bataille auf der Spitze der allgemeinen Ökonomie dazu getrieben wird, Sonne sich im Menschen wiederfinden zu lassen und diesen als solaren Imitator zum Rückgeber des empfangenen Sonnenenergieüberschusses stilisiert. Ziel und Höhepunkt der Bataille’schen Sonnenökonomie ist entsprechend nicht: Sonne zu denken, sondern: Sonne zu sein. Von hier aus ist der Satz gesagt:

„ Es ist gewiss gefährlich, ... „ (s.o.)

Unsere Aufgabe aber ist, Sonne zu denken. Entsprechend sind wir gezwungen, neben dem erforschenden und dem beschwörenden nun auch den imitierend-identifizierenden Zugang zu Sonne auszuschliessen.

Was aber bleibt dann noch? Erweist sich die gestellte Aufgabe nicht als undurchführbar?

ABER WIR SIND JA SCHON AN DER ARBEIT, SONNE ZU DENKEN!

Oder war das Thema unseres kurzen kritischen Weges denn nicht Sonne? Und: Stellten wir nicht fest, dass die Gefährlichkeit der verschiedenen Zugänge zu Sonne in der Einseitigkeit und Unmittelbarkeit ihrer Bezugnahmen liegt? Würde dann nicht die Aufgabe des Denkens darin bestehen, statt selber Sonne zu entbergen, die Vielzahl der möglichen Bezüge als Ereignisse des Entbergens von Sonne zu verstehen? Das Denken wäre dann in die Geschichte verwiesen. Die Aufgabe, Sonne zu denken, müsste sich als Historische Heliologie vollziehen.

Damit fangen die Schwierigkeiten erst richtig an. Denn stand die Untersuchung eben noch in der Gefahr einer allzu grossen Nähe zu Sonne, so taucht jetzt des Problem auf, dass sie sich nicht in totaler diskursiver Vermittlung völlig von ihr entfernt. Wer einmal die Idee einer historischen Heliologie gefasst hat, sieht sich bei seinen Nachforschungen alsbald vor eine kaum überschaubare Stoffmasse von Darstellungen aus den verschiedensten Wissensgebieten gestellt. So wie die Physikgeschichte ihre Version der kopernikanischen Wende hat[5], so hat die Theologiegeschichte die ihre[6]; so wie die Ägyptologie ihren Fokus auf die Solarmythologie der alten Ägypter richtet[7], so findet die Philosophiegeschichte in Griechenland die Anfänge der Lichtmetaphysik[8]. Bald beginnt man daran zu zweifeln, ob eine historische Heliologie als allgemeine und wissenschaftliche Heliologie überhaupt durchzuführen ist. Ist das Feld nicht zu weit? Lässt sich dieses weite Feld noch in verantwortbarer Weise überblicken?
   Die institutionalisierten Wissenschaften hätten ihre Antwort schnell gegeben. Neben der Skepsis, die sie der Idee überhaupt entgegenbringen würden, hätten sie noch vor Beginn des Projekts ihr paralysierendes Urteil darüber gesprochen: unwissenschaftlich!

Aber hat sich das wirkliche Denken je von der Beschränktheit einzelner Wissenschaften und ihren Methoden gängeln lassen?

Doch droht eine weitere Gefahr. So ist der einzige mir bekannte Ansatz einer historischen Heliologie der Versuchung erlegen, eine Verfallsgeschichte zu erzählen. Karl Kerényi, ein Freund der griechischen Mythologie, hält am 5. August 1943 auf der Eranos-Tagung in Ascona einen Vortrag mit dem Titel ,Vater Helios’. Nach der Anrufung Hölderlins und dem Hinweis auf den Verlust der göttlich-sonnigen Welt Griechenlands wird die Gegenwart mit ihrer Rumpf-Sonne Thema: es bleibe ‘ein für sich leuchtender und wärmender Himmelskörper übrig, kein Gott Helios mehr’ – und dann erzählt Kerényi folgende Geschichte:

„In diesen Zustand sind wir stufenweise gekommen. Die Sonne wurde zunächst aus der umgrenzenden und bestimmenden Peripherie einer Welt, wo sie oben das Ur-Augenlicht für alle Augen und unten im Unsichtbaren der zeugende Urvater war, in den Mittelpunkt gerückt. Das geschah durch Platon. Er war es, der sie im Prinzip dorthin versetzte: als das Abbild des höchsten Guten, der überweltlichen Quelle des Seins. Sodann leuchtete Helios, bereits im 3. Jahrhundert v. Chr., infolge der Entdeckung Aristarchs von Samos, des antiken Vorläufers des Copernicus, auch als Mittelpunkt der Welt der Astronomen auf. Doch die Sonne war auch damals noch eher eine Gottheit als die blosse Grundgegebenheit eines heliozentrischen Himmelsbildes. Aristarchs Entdeckung drang in der antiken Welt nicht durch. Sie bewegte sich allzu sehr in der Ebene der reinen Theorie. Der Sonnengott behauptete seine Stellung viel mehr im Mittelpunkt eines wahren, lebendigen Weltgewebes, bis er einem anderen Gotte weichen musste: dem mit der Welt nie verwobenen, absoluten Gott des Christentums.
    Es ist ein seltsames Schauspiel der Religionsgeschichte, wie dann auch der Gott der Christen sich Elemente der im Kult ausgedrückten Sonnenmythologie aneignet, um den gleichen Mittelpunkt einnehmen zu können. Die Sonne wurde erst dadurch von der ihr gebührenden Stelle ver-rückt und zu einer schwer zu behandelnden Grösse. Christliche Dichter, Theologen und Heilige versuchten sie zu beschwichtigen und klug, ja mit
brüderlichem Sinne einzuordnen. Dämonisiert wurde sie nur ausnahmsweise, am Rande des Christentums, wo man sich ihrer Macht noch mehr ausgesetzt fühlte. In den Mittelpunkt kehrte sie in der Neuzeit, ihrer Göttlichkeit völlig entkleidet, zurück: nicht mehr in ein Gewebe, sondern in ein gottverlassenes System. Diese neue heliozentrische Ordnung, die sich letzten Endes als nur eine unter unzähligen anderen erwies, hat für ihren Menschen, den heutigen, so wenig Göttliches in sich, dass sie sogar von den Kirchen, eben als Schöpfung des unverwobenen Gottes, anerkannt werden kann.”[9]

Man mag diesem Geschichtsbild Einseitigkeit vorwerfen. Man mag innerlich immer wieder ein Aber! gegen die Erzählung Kerényis vorbringen wollen. Was Kerényi dennoch vor allen anderen Ansätzen auszeichnet, ist, dass er seine Bevorzugung deklariert. Man glaube nur ja nicht, dass der Physikgeschichtler nicht insgeheim in den Keplerschen Planetengesetzen und der Entdeckung der Kernprozesse in der Sonne, der Theologiegeschichtler in der Konstantinischen Wende, der Ägyptologe in der Verehrung von Re die eigentlichen und wahren Bezüge zu Sonne ansetzten. Insgeheim, sage ich, denn ihre kluges Schweigen ist nur die Angst, sie könnten gegen den selbstauferlegten Imperativ der Wertfreiheit in den Wissenschaften verstossen. Aber so kommen wir nicht weiter! – möchte man ihnen zurufen, denn die historische Heliologie hat eine tragische Geschichte zu erzählen und die Wahrheit liegt nicht in einer einseitig eingenommenen Position, sondern in den Kämpfen um die Wahrheit von Sonne – deren Ergebnis wir im übrigen sind.

Das ist nun zu zeigen.

Doch wo einsetzen? Bei den alten Ägyptern? Bei den Griechen? Gar bei den Sonnenkulten, die auf allen Kontinenten ihre Spuren hinterlassen haben? Nein. Historische Heliologie, wie sie hier verstanden wird, erhält ihre Schärfe und Erkenntniskraft nur, wenn es ihr gelingt, unserer eigenen Epoche ihre Herkunft aufzuzeigen. Sofort stösst man auf die Stichworte ‘Heliozentrismus’ und ‘Kopernikanische Revolution’ – und sieht sich abermals vor eine Unmenge an Literatur gestellt, die in philosophie-, kosmologie-, kultur-, theologie- und literaturgeschichtlicher Weise das Thema abhandeln.

Man merkt bald: So wie der blosse Wille zur kulturgeschichtlichen Literatur dem Thema unangemessen ist, so bleibt auch eine Übung in wissenschaftlicher Argumentation ausserhalb dessen, was mit dem Kopernikanischen Umsturz zu denken ist. Warum ist das so? Warum genügt es vor dem Problem der Kopernikanischen Wende nicht, weder zitatenreich zu fabulieren, noch sich ‘ernsthaft mit dem Thema auseinander zusetzen’, noch sich abzuwenden und eine religiöse Nische aufzusuchen? Weil zutrifft, was Wolfgang Philipp in seinem wichtigen Buch zum Werden der Aufklärung einmal sagt:

„Eines sei gleich an dieser Stelle angefügt. Nach ihrem sachlichen Gehalt ist die Kopernikanische Erschütterung auch das Schicksal unserer Gegenwart - ...”[10]

Die historische Heliologie hat sich vorgenommen, dieses Schicksal zu analysieren. Sie beginnt (A.) mit der Bestimmung der Mächte, die die Kopernikanische Entdeckung zum Ereignis werden liessen, wird dann (B.) versuchen, das Ereignis in sich selbst zu denken, um  mit einem kurzen Blick auf die Folgen (C.) zu schliessen.


A. Die Vorbereitung

Zwei Mächte lassen sich im Vor- und Umfeld des Kopernikanischen Ereignisses ausmachen: Eine gefestigte Institution und ein drängendes Treiben, – die katholische Kirche und die Bewegung der Renaissance[11].

1. Zur Kirchengeschichte

Der Umschlag, der das Christentum von einer randständigen Religionsgemeinschaft zu einer weltgeschichtlichen Grösse werden liess, ist an den Namen des römischen Kaisers Konstantin I. (306-337; Reg.-Zeit) geknüpft. Dieser Kaiser, der von seinem Vater Constantius Chlorus  zunächst die Verehrung des römischen Sonnengottes Sol invictus übernahm, erzählt dem römischen Schriftsteller Laktanz die Begebenheiten vor seiner siegreichen Schlacht gegen seinen Widersacher Maxentius so:

„[Konstantin] sagte, er habe um die Mittagszeit, als der Tag sich schon neigte, mit eigenen Augen am Himmel über der Sonne das aus Licht gebildete Siegeszeichen des Kreuzes gesehen, und dazu eine Schrift: Durch dieses siege [toÚtń n…ka; Eusebius von Cäsarea: hoc signo vinces]. Schrecken überkam bei diesem Anblick ihn und das ganze Heer, das ihm auf seinem Zug folgte und des Wunders ansichtig wurde. Weiter berichtete er, er habe hin- und herüberlegt, was diese Erscheinung bedeuten sollte. Während er so herumgrübelte und lange nachdachte, sei die Nacht hereingebrochen. Im Schlafe sei ihm der Christus Gottes mit dem Zeichen, das sich am Himmel gezeigt hatte, erschienen und habe befohlen, eine Nachbildung des Zeichens, das er am Himmel gesehen hatte, anzufertigen und es in der Schlacht gegen die Feinde als Schutz zu gebrauchen.”[12]

Konstantin I. typisiert in seinem Bericht Sonne in den Gott der Christen um. Der Triumph in der Schlacht an der Milvinischen Brücke in Rom (28. Okt. 312) ist und gilt deshalb als der grösste aller kleinen Kairoi in der christlichen Heilsgeschichte. Aus den Verfolgten und kaum Geduldeten wird jetzt die Gruppe jener, in deren Zeichen ein römischer Kaiser Triumphe feiert. Mit der Konstantinischen Wende beginnt für die Christenheit die Geschichte ihrer Reichskirche. Dabei ist das Werden des Christentums zur staatstragenden Religion in einen umfassenden diskurstheologischen Prozess eingebettet, der die römische Sonnenfrömmigkeit und  -verehrung durch die Sol-Christologie zu überbieten trachtet. Die positiven christologischen Bezugnahmen auf Sonne, die sich bis ins zweite Jahrhundert zurückverfolgen lassen, brechen sich im dritten und vierten Jahrhundert Bahn. In einer ‘Aufmunterung an die Griechen’ (Protreptikos pros Hellenas) des Klemens von Alexandrien wird deutlich gemacht:

„Menandros scheint sich also geirrt zu haben, wo er sagt:
Dich Sonne, muss man ehren als den höchsten Gott,
Durch den man sehen kann der anderen Götter Schar.
Denn auch die Sonne wird uns nie den wahren Gott zeigen können, sondern dies kann nur der heilbringende Logos, der die Sonne der Seele
ist (Š de LÒgoj Š Ųgi»j, Ój estin ¼lioj yucÁj); durch diese Sonne allein, wenn sie im Innern in der Tiefe des Geistes aufgegangen ist, wird das Auge der Seele erleuchtet.”[13]

Dieses Zitat zeigt sehr gut die Überbietungsstrategie der christologischen Rede: Gefordert wird erstens ein Abzug der Aufmerksamkeit von der äusseren Sonne, zweitens wird ein allein heilbringender Logos ins Spiel gebracht und drittens wird die Metaphorisierung von Sonne bis zur Wendung von der ‘Sonne der Seele’ vorgetrieben. Generell lässt sich sagen, dass sämtliche Anstrengungen der Sol-Christologie auf dem Prinzip beruhen, die vorgefundene sonnenkultische Bedeutungskraft von Sonne zu interiorisieren und auf den Stifter ihrer Religion zu übertragen. Dazu Ernst Cassirer:

„Die geschichtliche Wirksamkeit und der geschichtliche Sieg des Christentums war geradezu daran gebunden, dass es die Grundanschauungen der heidnischen Sonnen- und Lichtverehrung in sich aufzunehmen und in sich zu verwandeln vermochte.”[14]

Erst die endgültige und vollständige Metaphorisierung von Sonne – etwa in Christustiteln wie ‘Sonne der Gerechtigkeit’ (Mal 3,20) – vermochte es, in perfekter Ergänzung zu den äusseren Erfolgen Konstantins, auch die frommen Herzen für sich zu gewinnen.

Im übrigen gingen die Kirchenväter in ihrer Degradation von Sonne sehr weit. In Anlehnung an den Schöpfungsbericht – dort wird die Sonne erst am vierten Tage erschaffen – heisst es bei Ambrosius von Mailand:

„Nur Geschöpf ist also die Sonne, darum ist sie auch dienstbar.”[15]

Oder Origenes, der die christologische Rede von der Sonne der Gerechtigkeit zum Topos verfestigte, führt anlässlich der alttestamentlichen Stelle Josua 10,12 – Josua zu Jesus umtypisierend – aus:

„Mein Jesus hiess also die Sonne stillstehen – nicht nur damals, sondern viel mehr noch bei seiner Ankunft. Wenn wir Krieg führen gegen unsere Feinde, ... dann steht uns die Sonne der Gerechtigkeit unablässig bei, ...”[16]

Sonne, zur christologischen Metapher geworden, ist nun dienstbares Geschöpf, steht auf Befehl still und ist zuständig für das Kriegsglück.

Noch einen Schritt weiter geht Aurelius Augustinus (354-430). Bei ihm wird die Sonnenmetaphorologie auf einen Diskurs hin durchbrochen, der mit einem doppelten Sonnenbegriff operiert. In seinem Kommentar zum Evangelium des Johannes bricht er Sonne in zwei Teile: einen natürlichen und einen geistigen.

„’Ich bin das Licht der Welt’(Joh. 8,12). Und vielleicht sagt auch wohl einer bei sich selbst: Ist etwa Christus der Herr die Sonne, die durch Auf- und Untergang den Tag bewirkt? Denn es hat nicht an Häretikern gefehlt, welche dies meinten. Die Manichäer hielten dafür, dass diese mit den Augen des Fleisches wahrnehmbare Sonne, die nicht bloss für die Menschen, sondern auch für die Tiere öffentlich zum Sehen hingestellt ist, Christus der Herr sei. Aber der rechte Glaube der katholischen Kirche verwirft ein solches Phantasiegebilde und erkennt darin eine teuflische Lehre. ... Glauben wir nicht, der Herr Jesus Christus sei diese Sonne, die wir aufgehen sehen im Osten und untergehen im Westen, auf deren Fortgang die Nacht folgt, deren Strahlen durch eine Wolke verdunkelt werden, die in einer bestimmten Bewegung von einem Orte zum anderen wandelt; dies ist nicht Christus der Herr. Nicht ist Christus der Herr die Sonne, die gemacht ist, sondern diejenige, durch den sie gemacht ist (non est Dominus Christus sol factus, sed per quem sol factus est).”[17]

Man kann eine solche Rede nicht ernst genug nehmen. In der Abwehr der manichäischen Häretiker[18] geht bei Augustinus die Überbietungsstrategie der Sol-Christologie in die Phase des absurden Überziehens ein. Man mag für seine Intervention vor dem Hintergrund der Zustände Roms seiner Zeit Verständnis aufbringen, man mag einem Dualismus von Fleisch und Geist zuneigen, aber man wird kaum mehr mitmachen wollen, wenn gesagt wird, dass Sonne durch Christus gemacht ist. Heliologiehistorisch ist mit dieser Rede ein Extrem erreicht: Sie nimmt Motive der griechischen Naturphilosophie auf (Anaxagoras These: Sonne sei lediglich ein Stein), sie greift auf die alttestamentliche Figur Gottes als Creator mundi zurück und verknüpft die beiden Stränge in der Gewissheit, dass der Heilsbringer Christus das wahre Licht der Welt ist. Ein Jahrtausend lang hatte dieses welt- und heilsgeschichtliche Amalgam die Plausibilität auf seiner Seite.

Seiende Sonne? Ach, was wollt ihr? Wir Christen nähren uns von Wort, Leib und Blut unseres Herrn, leuchten mit ihm aus uns selbst in unserer Kirche und benötigen eure Sonne nicht! Oder wie es Ambrosius einmal sagt:

„Ob diese Sonne grösser ist als die Erde, oder nur einen Fuss in die Breite misst, ob der Mond mit fremdem oder mit eigenem Licht erstrahlt? Das zu wissen bringt keinen Nutzen, nicht zu wissen keinen Schaden. Euer Wohl ist in Gefahr: das Heil nämlich eurer Seelen.”[19

 

2. Zur Bewegung der Renaissance

Es gibt zahlreiche Darstellungen zur Renaissance. Die Aufmerksamkeit des Heliologen hat sich auf dasjenige zu richten, was man als die ‘Sonnenmetaphysik’ (H. Blumenberg) oder den ‘Sonnenkult’ (W. Philipp) der Renaissance bezeichnet. Tatsächlich beginnt die Neuzeit mit einer neuen Zuwendung zu Sonne. So wie die Blumen ausserhalb der Kirchenmauern alljährlich neu und frisch ihre Pracht entfalten und ihren Duft verströmen, so geschieht im Italien des 14./15. Jahrhunderts den Menschen eine neue Öffnung von Welt. Der christologische Zirkel wird durch einen platonisch inspirierten liebenden Blick auf das Seiende im Ganzen aufgebrochen. Man höre zur Einstimmung Marsilio Ficino:

„Die göttliche Vernunft gewährt den niedern Körpern nur das Leben gleichsam als Wärme, den vorzüglicheren auch die Wahrnehmung gleichsam als Licht, den vorzüglichsten überdies den Intellekt gleichsam als Leichtigkeit ... Der göttliche alles durchdringende Strahl ist also, aber lebt nicht in den Steinen, lebt, aber glänzt nicht in den Pflanzen, glänzt in den Tieren, aber ohne in sich reflektiert zu werden und in sein Quelle zurückzukehren. Im Menschen ist er, lebt, glänzt und wird in sich reflektiert”.[20]

Ob es Neuplatonismus ist? Ob die Lichtmetaphysik des Proklos Pate gestanden hat? Ob die Sonnenstrahltheologie des Areopagiten dahinter steht? Mag alles sein – aber vor allem ist es im eminenten Sinne gesehen. Die Natur schlägt in der Renaissance ihr Auge wieder auf, der Mensch blickt wieder um sich, Sonne ist wieder Quelle – ganz unmetaphorisch – des alles durchdringenden göttlichen Strahls der dem Stein die Wärme, der Pflanze das Leben, dem Tier das blickende Glänzen und dem Menschen die Leichtigkeit des Geistes schenkt.

Fünf Jahre vor seinem Tod publiziert Ficino die uns hier interessierende kleine Schrift De Sole (1494). Ein Vorabexemplar sendet er an den Grafen von Württemberg nach Deutschland. Da er von einem befreundeten Contemplator caeli, Martinus Uranius[21], nur Gutes über den deutschen Grafen gehört hat, will er ihm  sein Liber de Sole als Geschenk über einen weiteren Freund zukommen lassen. Der Begleitbrief wirft nicht nur ein Licht auf Ficinos Abhandlung, sondern zeigt auch, welche Art von Kommunikation zu dieser Zeit in Europa zwischen Denken und Macht möglich war:

„Marsilio Ficino aus Florenz sendet Eberhard dem Älteren, Grafen von Württemberg und Mömpelgard, seine herzlichsten Grüße.
Unser Martinus Uranius, das heißt "der Himmlische" (id est caelestis), in Wahrheit aber ein Betrachter der Himmelskörper (re vera caelestium contemplator), hat in einem langen Gespräch mit mir erörtert, daß Du zweifelsfrei unter allen deutschen Fürsten so hervorragst wie die Sonne zwischen den Gestirnen. Durch diese Loblieder, gleichsam durch den Glanz Deiner Tugenden entflammt, habe ich Dir schon vor längerer Zeit jenes Briefchen geschrieben als Unterpfand meiner fürwahr gewaltigen Liebe für Dich [Brief v. 28. Juni 1492; darin ein platonisierendes Lob des wahren Fürsten]. Es ist jedoch kein unermeßliches Pfand, wie es angemessen wäre. Damit ich es also Deiner höchsten Würde wie auch meinem Verlangen entsprechend bedeutend reicher mache, schicke ich jetzt der Sonne Deutschlands selbst die Sonne des Platon und des Dionysios, um durch ihren Glanz meine wunderbare Liebe für Dich ringsumher bekanntzumachen (ad ipsum Germaniae solem nunc Platonicum et Dionysiacum solem mitto mirum in te amorem nostrum splendore passim declaraturum). Wie aber Merkur die Geschenke des Phoebus dem Geist der Menschen bringt, so möge Johannes Streler, für mich sozusagen ein zweiter Merkur, zu Euch dieses phoebeische Geschenk von mir bringen. Du wirst also mit Freude lesen, phoebeischer Fürst, was über den Vergleich der Sonne mit Gott (comparatione solis ad Deum) teils Platon und Dionysios Areopagita dargelegt haben, teils ich übersetze und kommentiere. Lebe glücklich in diesem Schatten des Lebens, um hernach schließlich eine ewige Sonne zu genießen (Vive felix in hac umbra vitae post hanc sole tandem perpetuo fruiturus). Leb wohl.”[22]

Ficino geizt nicht mit der Nennung von Sonne. Man wird geradezu von einem entflammten Solarenthusiasmus sprechen können. Und wenn schliesslich verkündet wird, dass uns nach der kurzen schattigen Strecke des Lebens der Genuss einer ewigen Sonne erwartet, wird man sich fragen: Ist das noch christlich gedacht? Die Befürchtung, dass dem nicht so ist, hat Ficino selber empfunden und deshalb seiner Schrift einige Worte an den Leser vorangestellt. Er weist auf den allegorischen und anagogischen Charakter seiner Abhandlung hin: Nicht soll sie als eine Kette von dogmatischen Argumenten, sondern als inspiriertes Lob von Sonne aufgenommen werden. ‘Die Musen disputieren niemals mit Apoll, sie singen’ (Non disputant unquam cum Apolline Musae, sed canunt. Cap. I).

Ficino eröffnet seinen Vergleich von Sonne und Gott mit dem Hinweis auf die väterliche Qualität von Sonne. Indem der grosse unerschöpfliche Leuchter rundherum sein Licht verschenkt ist er zweifellos der Herr, der Regent und Leiter aller himmlischen Dinge (Sol tanquam manifestus coeli Dominus omnia prorsus coelestia regit, et moderatur. Cap. III). Aber auch der irdischen. So wie Sonne im Frühling die Natur zu Leben erweckt, so ist sie auch – vermittelt über Mond – zuständig für die Geschehnisse rund um die Geburt des Menschen (Cap. V). Vieles wußten die Alten. Ficino zitiert eine orphische Hymne: ‘Die Sonne ist ewiges Auge, das alles sieht’ (Sol oculus aeternus omnia videns), verweist auf die Ägypter, auf Proclus, Iamblichus und Moses. Sie alle, sagt er, hätten Sonne aus verschiedenen Gründen gleichsam als Herrscher in die Mitte der Welt gesetzt (Solem quasi Dominum omnes in mundo medium, quamvis ratione diversa, collocaverunt). Die alten Naturphilosophen nannten Sonne das Herz des Himmels (Physici veteres, Solem cor coeli, nominaverunt. Cap. VI), Plato den sichtbaren Sohn des Guten selbst (Plato ... Solem ipsius boni conspicuum filium nominavit. Cap. IX). Und was schuf Gott zuerst? Moses antwortet: Licht. Richtig, sagt Ficino, aber es ist ebenso deutlich, daß die Schöpfung in sechs Tagen vollendet wurde, Gott am siebten Tage ruhte, die Woche mit dem Sonntag beginnt und deshalb die Schöpfung entsprechend unter der Macht von Sonne, bzw. sie unter ihrer Führung eingeleitet wurde (Si enim Deus mundum sex quidem diebus absolvit, et septimo conquievit, nimirum ab ipso Solis die, id est, potestate solari, mundi videtur auspicatus exordia. Cap. X). Nichts in der Welt kommt der Trinität näher als Sonne (Nihil in mundo divinae trinitati reperitur Sole similius. Cap. XII). Erstens liegt in ihr eine unermeßliche und für uns undurchdringliche Fruchtbarkeit (Vater), zweitens ein aus ihr ausströmendes wesensgleiches natürliches Licht (Sohn) und drittens eine beiden gemeinsame wärmende Kraft (Geist).

Dann folgt das dreizehnte und letzte Kapitel von De Sole. Ficino eröffnet es mit einer Szene, die einen ägyptisierten Sokrates vorführt: Dieser hätte oft des Morgens, bewegungslos wie eine Statue, den Sonnenaufgang begrüßt, vielleicht von einem phoebischen Dämon geführt. Doch hätte die Aufmerksamkeit des Sokrates selbstverständlich nicht der sichtbaren Sonne gegolten – deren Bewegung und Wirkungen er schon lange sowohl mathematisch als auch physikalisch begriffen hätte – sondern dem in sich ruhenden Vater dieses aufgehenden Lichts. Dasselbe sage Jacobus: ‘Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, vom Vater des Lichts, bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis’ (Jak. 1,17). Und deshalb sei Sonne nicht Gott. Denn weil der unbewegte Zustand gleichsam Prinzip, Lenkung und Ziel der Bewegung, ja vollkommener als jede Bewegung sei, könne Gott, der selbst Prinzip, Ziel und Lenker von allem ist, nicht beweglich sein – die Sonne aber sei fortwährend in Bewegung (Cum status tanquam principium et rector finisque motionis, sit omni motu perfectior, certe Deus ipse principium et rector omnium, mobilis esse non potest. Sol autem est assidue mobilis. Cap. XIII). Mit dem Hinweis auf die beschränkte Mächtigkeit von Sonne – ihr Licht könne beispielsweise Erde nicht durchdringen und werde von Mond aufgehalten – beschliesst Ficino seine Abhandlung. Nachdem Sonne während zwölf Kapiteln sukzessive mit Attributen des Göttlichen versehen wurde, bricht die Divinisierung im dreizehnten und letzten Kapitel abrupt ab. Hauptargument: Da Gott als Prinzip und Herrscher selbst unbewegt sein müsse, Sonne sich aber fortwährend in Bewegung zeige, kann Gott und Sonne nicht dasselbe sein.

Man mache sich klar: Würde gefunden, daß die Bewegung von Sonne nur eine scheinbare ist, sie vielmehr als Ruhende in der Mitte eines Systems von Planeten sich befindet, müßte das dreizehnte Kapitel von De Sole anders lauten. Die aufgebaute Spannung würde am Ende nicht vom Negativbescheid Sonne sei nicht Gott gebrochen werden können, sondern würde in die Frage ausmünden, ob sie es nicht doch sei.

Vor der Konsequenz, diese Frage angehen zu müssen, standen Kopernikus und dann auch Kepler.


B. Das Kopernikanische Ereignis

Nicolaus Kopernikus wurde am 19. Februar 1473 in Thorn geboren. Im Wintersemester 1491/92 immatrikuliert er sich in Krakau an der Artistenfakultät; dort erhält er Unterricht im Trivium von Grammatik, Stilistik und Logik und im Quadrivium von Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Besonders das letztgenannte Fach stand zu jener Zeit in Krakau in hoher Blüte. Ohne Abschluß verläßt Kopernikus Krakau und schreibt sich im Herbst 1496 in Bologna ein (Jura). Seine weiteren Stationen in Italien sind: Rom, Padua, Ferrara. 1506 kehrt er zurück ins Ermland. Hans Günter Zekl, dessen lesenswertem Vorwort[23] ich diese Informationen entnehme, meint, dass Kopernikus bei seiner Rückkehr aus Italien seine Grundidee bereits gefasst und mit Argumenten und Berechnungen unterlegt habe. Welche Grundidee ist gemeint?

Wir reden heute noch von den Planeten. Das Wort ‘Planet’ ist griechischer Herkunft und stammt vom Verb plan£w, ich führe irre, ab. Die Benennung einer besonderen Sorte von Himmelskörpern als Planeten geht auf die Beobachtung zurück, dass diese sich gegenüber den Sternen des Fixsternhimmels in ungeregelter, scheinbar planloser, irrender Weise bewegen. Bei Ptolemäus (87-150) werden die Planeten in den Büchern IX-XIII des Almagest[24] mit einer Vogelschar verglichen, die in freiem Rhythmus koordinierte Bewegungen ausführt. Für Kopernikus ist daraus ein Monstrum geworden:

„... es ergeht ihnen so, wie wenn einer von verschiedenen Stellen aus Hände, Füße, Haupt und andere Glieder, zwar in schönster Ausführung, aber nicht nach dem Vergleichsmasstab eines Körpers gemalt, hernähme, die wechselseitig überhaupt nicht sich entsprächen, so daß ein Ungeheuer (monstrum) eher als ein Mensch sich daraus zusammensetzte.”[25]

Kopernikus löst (grundsätzlich) das Planetenproblem. Vor seinen Prinzipien löst sich die Unordnung der Wandersterne – zu denen nun auch die Erde gehört – in eine wohlgeordnete Harmonie von sonnenumkreisenden Himmelskörpern auf. Platonisch-systemtheoretisch gesprochen rettet er die Phänomene (sóxein t¦ fainÒmena), indem er ihre Komplexität auf das wahre Prinzip reduziert: ihren kreisförmigen Umlauf um die Sonne. So verwundert es nicht, daß an entscheidender Stelle in De revolutionibus die Rede des demonstrierenden Mathematikers hymnische Züge annimmt:

„Inmitten alles dessen [den Revolutionen von Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter und Saturn] aber thront die Sonne (In medio vero omnium residet Sol). Wer denn wollte in diesem wunderschönen Heiligtum (pulcerrimo templo) diese Leuchte an einen anderen, besseren Ort setzen als dem, von wo aus sie das Ganze gleichzeitig erhellen kann (totum simul possit illuminare)? Zumal doch bestimmte Leute sie durchaus treffend Lampe der Welt (lucernam mundi), andere ihren Sinn (mentem), andere ihren Lenker (rectorem) nennen. Trismegistos nennt sie sichtbaren Gott (visibilem deum), die Elektra des Sophokles die Alles-Schauende (intuentem omnia). So wirklich, wie auf königlichem Thron sitzend, lenkt die Sonne die um sie herum tätige Sternfamilie (Ita profecto tamquam in solio regali Sol residens circumagentem gubernat astrorum familiam)”[26]

Damit ist das dreizehnte Kapitel von Ficinos De Sole umgeschrieben[27]. Die unbewegt-residierende Leiterin des Alls ist Sonne. Aber entscheidend ist: Diese Umschrift der Abhandlung eines enthusiasmierten Renaissance-Philosophen geschieht vor dem Hintergrund jahrzehntelanger akribischer Forschungen! Kopernikus war kein Dichterphilosoph, sondern ein verdienter Mathematiker, von dem nicht umsonst Präzisierungen des Kirchenkalenders (Calendario Ecclesiastico) erwartet wurden[28]. Um so ungeheurer der Vorgang: In ihm treffen sich vorbereitende dichterische Motive mit dem Fund der Königin der Wissenschaften zur Sonnenhymnologie. Kopernikus wußte sehr gut, warum seine Entdeckung nicht für die Menge bestimmt war. Lange zögerte er, De revolutionibus zu schreiben und zu veröffentlichen. Die dem ersten Buch ursprünglich angehängte Übersetzung eines Briefes des Pythagoras-Schülers Lysis gibt davon Zeugnis[29]. Er scheute sich, seine Erkenntnis gemein zu machen. Aber die Welt griff danach – und der PÒlemoj brach aus.

Bereits im Jahre 1541 urteilt Melanchthon (1497-1560) aufgrund eines umlaufenden Gerüchts[30]:

„Es gibt da Leute, die glauben, es sei ein hervorragender Fortschritt, eine so absurde Behauptung zu verfechten wie dieser sarmatische[31] Astronom, der die Erde bewegt und die Sonne anheftet. Wahrlich, kluge Herrscher sollten die Frechheit der Geister zügeln!”

Oder man höre Martinus Luther in einer seiner Tischreden aus dem Jahre des Herrn 1539:

„Es ward gedacht eines newen Astrologi / der wollte beweisen / das die Erde bewegt würde und umbgienge / Nicht der Himel oder das Firmament / Sonne und Monde / Gleich als wenn einer auff einem Wagen oder einem Schiffe sitzt und bewegt wird / meinete / er sesse still und rugete / das Erdreich aber und die Beume gingen umb und bewegten sich. Aber es gehet jitzt also / Wer das will klug sein / der sol jm etwas eigens machen / das mus das aller beste sein / wie ers machet / Der Narr will die gantze kunst Astronomiae umbkehren / Aber wie die heilige Schrift anzeiget / so hies Josua die Sonne stillstehen / und nicht das Erdreich.”[32]

Man merkt auf. Wieder die Josua-Stelle. Zielsicher legt Luther den Finger auf den wunden Punkt: Wie kann, wenn Josua im Bund mit dem Herrn der bewegten Sonne den Stillstand befiehlt, diese unbewegt sein? Tatsächlich wird sich auch die katholische Kirche Roms in ihrem Kampf gegen den Kopernikanismus unter anderem auf die Josua-Stelle stützen, hat sie doch ihren Sieg – man erinnere sich – gerade durch die erfolgreiche Metaphorisierung und Indienstnahme von Sonne errungen. Christus ist die wahre Sonne durch die die sichtbare gemacht ist und Weisungen erhält – und nun taucht ein neuer Astrologi auf, der die Unbewegtheit und Zentralität des sichtbaren Gestirns behauptet.

Zwei Mächte, zwei Sonnen: der Befehlsempfangenden steht nun die Residierende gegenüber, der hinter der heiligen Schrift Verschwindenden und vor Gott Untergehenden steht die in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit nun Aufgehende gegenüber.

In der Narratio prima des Rheticus, einem Freund Kopernikus’ und Kommentator seines Werks, heißt es einmal:

„... daß die bewundernswerte und sowohl Gottes, des Baumeisters, wie dieser göttlichen Körper ganz würdige Symmetrie und Verflechtung der Bewegungen und Bahnen, ... rascher im Geiste (wegen der Verwandtschaft, die er mit dem Himmel hat) begriffen, als durch irgendeine menschliche Sprache geschildert werden kann; ...”[33]

Die übermenschliche Sprache, in der die Symmetrie der um die Sonne kreisenden Planeten allein und augenblicklich begriffen werden kann ist die Mathematik. Im zehnten Kapitel des ersten Buches von De revolutionibus sagt Kopernikus dasselbe:

„Alles das [gemeint sind die Umläufe der Planeten um die Sonne] ... werden wir im Fortschreiten, mit GOTTES Gnade, klarer als die Sonne selbst machen (ipso Sole clariora faciemus), wenigstens für Leute, die in der mathematischen Kunst sich auskennen (mathematicam saltem artem non ignorantibus).”[34]

Man achte genau darauf, was Kopernikus sagt. Er werde die Sache mit der Gunst Gottes klarer als die Sonne selbst machen. Lichtverbreitendes Werkzeug ist ihm dabei die Mathematik. Kopernikus ist zwar nur der von Gott begünstigte Mittler, der einem höheren Zeigen stattgibt, dennoch sagt er: Wir werden im Fortgang die Sache klarer als die Sonne ‘machen’ (faciemus). Zwischen Gott und Sonne spielt nun das Spiel der evidenten Demonstration. Nicht mehr ist es der geborene und gestorbene und wiederauferstandene Sohn Gottes der den Eigenschein von Sonne überbietet, sondern die mathematische Evidenz, die aus den Bewegungsgesetzen des Systems von Sonne hervorleuchtet.

Es ist Johannes Kepler, dem es vergönnt war, die im Sonnensystem wirkenden Gesetze zu präzisieren und zu vervollständigen. Waren bei Kopernikus die Planetenbewegungen noch einfache Kreise, so entdeckte Kepler – vor dem Hintergrund des genauen Datenmaterials Tycho Brahes – , daß die Planeten sich in Ellipsen bewegen (1. Keplersches Gesetz) und daß sie in gleichen Zeiten gleiche Radiensektoren beschreiben (2. Keplersches Gesetz). Beide Entdeckungen werden in dem 1609 erschienenen Werk Astronomia Nova präsentiert und betreffen Verhältnisse einzelner Planeten und ihrer Bewegungen um Sonne. Demgegenüber formuliert das 3. Keplersche Gesetz – im dritten Kapitel des fünften Buches von Harmonices Mundi (1619) eröffnet – eine Proportion, die zwischen verschiedenen Planetenumläufen gefunden werden kann. Nach ihm verhalten sich die ins Quadrat gesetzten Umlaufzeiten irgend zweier Planeten wie die Kuben ihrer mittleren Abstände zu einander[35]. Kepler beschreibt seinen Fund so:

„Am 8. März dieses Jahres 1618, wenn man die genauen Zeitangaben wünscht, ist sie [die wahre Proportion] in meinem Kopf aufgetaucht. Ich hatte aber keine glückliche Hand, als ich sie der Rechnung unterzog, und verwarf sie als falsch. Schliesslich kam sie am 15. Mai wieder und besiegte in einem neuen Anlauf die Finsternis meines Geistes, wobei sich zwischen meiner siebzehnjährigen Arbeit an den Tychonischen Beobachtungen und meiner gegenwärtigen Überlegung eine so treffliche Übereinstimmung ergab, daß ich zuerst glaubte, ich hätte geträumt und das Gesuchte in den Beweisunterlagen vorausgesetzt. Allein es ist ganz sicher und stimmt vollkommen ...”[36]

Das Gesetz der Planetenumläufe ist die Krönung der Astronomie Keplers. Der Jubel über die mathematische Stimmigkeit der gefundenen Proportion versetzt ihn, wie er selbst in der Vorrede zum fünften Buch der Harmonices Mundi ausruft, in ‘heilige Raserei’ (sacro furori), denn ihm ist

„... die volle Sonne einer höchst wunderbaren Schau aufgegangen (Sol ipse merus illuxit contemplationis admirabilissimae).”[37]

Und tatsächlich: Wie soll man dem Wahnsinn entgehen können, wenn plötzlich die von Sonne in ihrem System realisierten Verhältnisse im eigenen Kopf auftauchen? Deshalb fragt Kepler zurecht in einem Epilog zum fünften Buch der Harmonik: Was denn das für ein Geist (Mens) sei, der in Sonne ist? Nachdem der Epilogus de Sole die uns von Ficino und Kopernikus her bekannten Anrufungen und Preisungen von Sonne wiedergegeben hat, kommt es, ungefähr in der Mitte, zu folgenden Erwägungen:

„Wenn es gestattet ist, am Faden der Analogie (analogiae filo) das Labyrinth der Naturgeheimnisse (labyrinthos mysteriorum Naturae) zu durchstreifen, so dürfte, glaube ich, folgender Schluss nicht abwegig sein: Wie sich die sechs Sphären [Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn] zu ihrem gemeinsamen Mittelpunkt der ganzen Welt verhalten, so verhält sich der diskursive Verstand zur Vernunft (tÁj diano…aj ad tÕn noàn), wie diese Vermögen von Aristoteles, Plato, Proklus und den übrigen Philosophen unterschieden werden. Und wiederum, wie sich die von Ort zu Ort erfolgenden Umwälzungen der einzelnen Planeten um die Sonne zu der ohne eine Translation erfolgenden [durch die Sonnenflecken bezeugte] Umdrehung der Sonne in der Mitte des ganzen Systems verhalten, so verhält sich auch die Tätigkeit des diskursiven Verstandes zu der der Vernunft, die vielfältigen diskursiven Schlüsse zu der durchaus einfachen geistigen Erkenntnis (discursuum ratiocinationis multiplicium, ad intellectionem mentalem simplicissimam)”[38]

Der historische Heliologe steht hier vor dem Faktum einer präsentisch vorgetragenen Heliologie. Denn was tut Kepler? Er, der von Einsichten in die Harmonien des Sonnensystems herkommende Astronom, überträgt den Logos (im Sinne von Verhältnis) von Mitte und Umläufen, von Einfachheit und Vielfalt, von Sonne und Planeten auf die philosophische Rede vom Unterschied von noàj und di£noia, von Geist und diskursivem Verstand. Entscheidend dabei ist, daß Kepler als Heliologe auf die in der Philosophie gebräuchliche Unterscheidung stößt und sie zur Plausibilisierung der astronomischen Erkenntnis benutzt:

„Die Bewegungen der Planeten um die Sonne in ihrem Mittelpunkt und die Operationen des Schlüsse ziehenden Verstandes sind so sehr miteinander verbunden und verknüpft, daß sich das menschliche schlußweise Denken nie zu den richtigen Abständen der Planeten und zu allem, was davon abhängt, durchgearbeitet und nie eine Astronomie aufgestellt hätte (nunquam humana ratiocinatio ad verissima Planetarum intervalla, et ad caetera ab iis dependentia, fuerit misura, nunquam Astronomiam constitutura), wenn nicht die Erde, unser Wohnsitz, ihren jährlichen Kreis mitten zwischen den anderen durchlaufen und dabei einen Ort mit dem anderen, einen Posten mit dem anderen vertauschen würde.”[39]

So schließt sich der Kreis: Sonne läßt zunächst Planeten um sich kreisen; auf einem davon, dem dritten von ihr aus gesehen, finden sich verstand- und vernunftbegabte Lebewesen; diese beginnen sich über den Ort, den sie einnehmen, zunehmend zu orientieren; sie sammeln, ausgehend von ihrer Position zwischen den anderen Planeten, mühsam über Jahrhunderte hinweg astronomische Daten (Verstand) bis ihr Geist sie schließlich das Ganze überblicken läßt: Sonne läßt Planeten um sich kreisen – und auf einem davon befinden sie sich[40].

Wie läßt sich heliologiehistorisch das Keplersche momentum charakterisieren? Weder erforscht noch beschworen, weder imitiert noch metaphorisiert wird hier Sonne – sondern?

In einem Wort: gegrüßt.

Es ist das schönste Verhältnis, das einem Menschen zu Sonne beschieden ist, wenn er sie von Erde aus einfach grüßen darf. Dabei ist Keplers Gruß ein dankender Gruß,  denn Sonne hat ihm ja die Einsicht in ihre Harmonien gewährt! Er gibt nur zurück, was sie ihm gegeben – und es ist nicht verwunderlich...

„... wenn jemand, der aus dem Mischkrug des Pythagoras, ... einen etwas zu kräftigen Zug getan hat und dadurch warm geworden ist, durch die so überaus liebliche Harmonie des Chors der Planeten eingeschläfert wird und zu träumen anfängt: Auf die Planetenkugeln, die von Ort zu Ort rings um die Sonne wandern, sind die diskursiven oder schlußweise vorgehenden geistigen Vermögen verteilt. ... In der Sonne aber wohnt der einfache Intellekt, das Geistfeuer oder der Nus, die Quelle der Harmonie, wer immer dieser Geist sein mag (in Sole vero Intellectum simplicem, pàr noerÕn seu Noàn habitare, omnis Harmoniae fontem, quicunque ille sit)”[41]

Aber: Lässt sich denn über diesen Geist nicht doch etwas ausmachen? Wir, die wir auf Erde sind und die Gesetze unseres Sonnensystems gefunden haben, können wir nicht uns probeweise in die Mitte, an den Ort von Sonne versetzen? Kepler wagt das Gedankenexperiment:

„Denn wenn etwa ein Geist von der Sonne aus nach den Harmonien ausschaut (Nimirum si qua mens ex Sole prospicit Harmonias istas), so fehlen ihm die Hilfsmittel, die eine Bewegung oder ein Ortswechsel seines Wohnsitzes darbieten könnte, um damit die Kette von Schlüssen zu bilden, die zur Bestimmung der Planetenabstände notwendig sind. Er vergleicht also die täglichen Bewegungen der einzelnen Planeten nicht durch die Größe der in den Bahnen zurückgelegten Wege, sondern durch die an der Sonne auftretenden Winkel. Wenn er daher eine Kenntnis von der Größe der Sphären hat, so muß er diese notwendig a priori besitzen, ohne daß es mühevoller Schlüsse bedürfte (hanc illi oportet a priori inesse, sine ratiocinationum labore)”[42]

Noch für Ficino wäre der Gedanke eines solchen Platztausches völlig unmöglich gewesen. Jetzt aber drängt er sich geradezu auf. Da der Geist Einsicht in die Harmonien und Gesetze des Sonnenreiches genommen hat, scheint er in die Lage versetzt, versuchsweise den Platz von Sonne nicht nur einnehmen zu können, sondern zu sollen. Denn: gebührt dem Geistwesen Mensch nicht die vorzüglichste Position im System von Sonne? Jene Position, von der aus auf die herrschenden Gesetze nicht erst geschlossen werden muß, sondern von der aus sie augenblicklich überschaut und geregelt werden?

C. Die Folgen

Jetzt wandelt sich der Sinn dessen, was Kepler noch als Grund seines Sonnengrußes verstand: Aus der Feier der Einsicht in die Harmonie der Sphären wird die Handhabung einer rechnerisch einsetzbaren funktionalen Proportion.  Am Beispiel etwa des 3. Keplerschen Gesetzes erläutert bedeutet das: Es ist nicht mehr die Stimmigkeit der gefundenen Verhältnisse, die den pythagoreisch inspirierten Astronomen ins Schwärmen bringt, sondern jetzt dient typischerweise die zur Formel gewordene ‘Harmonie’ zur Berechnung des vierten Werts bei drei bekannten. Der Mensch in Position von Sonne und verfügend über die in ihrem System gefundenen Gesetze wird zum rechnerisch konstruierenden Experimentator, der durch den kontrollierten Einsatz bereits gefundener Gesetze immer wieder neue zu finden sucht. Es läßt sich leicht einsehen, daß der Eintritt des verstandesbegabten, schlüsseziehenden Lebewesens in die Position des überschauenden, apriorischen, ständig wachen Wissens einen Prozeß in Gang setzt, der nun seinerseits eine neue Art von ‘Fruchtbarkeit’ hervorbringt. Dieser Fruchtbarkeit will es (das Lebewesen) nun dienen und seine Müdigkeit, sein Schlaf oder sein Tod sind nur – zwar bedauerliche, aber verkraftbare – Ausfälle aus dem Prozeß der auf den Weg gebrachten Idee der mathematisch verfahrenden Wissenschaften.

So drängt das Projekt etwa dazu, für die daran Teilnehmenden eine Scheidung von ego und ens so vorzunehmen, daß über die clara et distincta perceptio des epistemisch gedachten ego und der Operativität der Mathematik  auf die rein grössenhaft gedachte Ausdehnung des Letzteren zugegriffen werden kann (Descartes). Indem die Teilnehmenden richtig rechnen und sich der Arbeit an der Erweiterung des Wissens über die Gesetze der Natur anschließen, haben sie Anteil am Göttlichen (Deus ist jetzt Calculator).

Es ist Hegel, der das Keplersche ex Sole prospicere totalisiert und in eine Formel faßt. Zeitgleich mit der Veröffentlichung seiner Habilitation über die Planetenbahnen[43] schreibt er in der Differenzschrift:

„Für die Spekulation sind die Endlichkeiten Radien des unendlichen Fokus, der sie ausstrahlt und zugleich von ihnen gebildet ist; in ihnen ist der Fokus und im Fokus sie gesetzt. In der transzendentalen Anschauung ist alle Entgegensetzung aufgehoben, aller Unterschied der Konstruktion des Universums durch und für die Intelligenz und seiner als ein Objektives angeschauten, unabhängig erscheinenden Organisation vernichtet.”[44]

Der erste Teil des Zitats bindet Vernunft und Verstand (Sonne/Planeten) in ein Verhältnis von unendlichem Fokus und ausgestrahlt-rückstrahlender Endlichkeit (Reflexion) zusammen. Die Rede vom wechselweisen Gesetztsein von unendlichem Fokus und Endlichkeit nimmt dabei präzis den Befund auf, daß die Planetengesetze als Gesetze eines Systems entdeckt wurden. Die dann angezogene ‘transzendentale Anschauung’ ist lediglich der Titel für den erfolgreichen Positionsbezug: in ihr wird die Endlichkeit als apriorische Intelligenz gedacht.

Und als konstruierende.

Für den Heliologiehistoriker besteht deshalb kein prinzipieller Unterschied zwischen den experimentierenden Naturforschern, die, verfügend über ‘beständige Gesetze’, als ‘bestallte Richter’ die ‘Natur nötigen’ auf ihre Fragen zu antworten – wie Kant formuliert[45] –  und der Logik eines spekulativen Idealismus, die an ihrem Ende die Natur aus sich ‘entläßt’ (Hegel). In beiden Fällen ist das animal rationale in Position von Sonne aktiv – das eine Mal als tätiges, das andere Mal als denkendes[46].

Erkennt man diese Zusammenhänge, wird auch das eigentümliche Rasen verständlich, das von dem vernünftigen Lebewesen seit Jahrhunderten auf dieser Erde ausgeht. Die Vermutung drängt sich auf, daß es einer Sonnennarkose erlegen ist. Nichts wäre dann für es wichtiger, als noch einmal zu versuchen, Sonne zu denken.

Zürich 2006, msemm@dplanet.ch


[1] C. F. von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 1964, S. 160. – In einem neueren, von der Presse gelobten Buch zur Naturwissenschaft unter dem Titel Alles, was man wissen muss lautet der erste Satz zum Sonnensystem (da der Physiker über die Entstehung desselben orientiert ist): „Die Sonne ist aus Recyclingmaterial hergestellt.” 

[2] M. Heidegger, GA Bd. 16, Frankfurt a. M. 2000, S.131.

[3] G. Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie, München 2001, S. 36.

[4] ebd., S. 289ff.

[5] T. S. Kuhn

[6] W. Philipp

[7] J. Assmann

[8] W. Beierwaltes

[9] Der Vortrag bildet den ersten Teil der Publikation: Töchter der Sonne. Betrachtungen über griechische Gottheiten, Stuttgart 1997; hier: S. 15-17.

[10] In: Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957, S. 85.

[11] Die im 16. Jahrhundert anhebende Reformation tangiert den heliologiehistorischen Konflikt nicht. – Siehe aber unten (B.) die frühen Zitate von Melanchthon und Luther.

[12] Zitiert in: M. Wallraff, Christus verus sol – Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike, Münster 2001, S. 128.

[13] Wallraff, a.a.O., S. 50. – Menandros (341-293 v. Chr.); griechischer Dichter, Schüler des Theophrast.

[14] E. Cassirer, Philosophie d. symbolischen Formen II, S. 126.

[15] Wallraff, a.a.O., S.41.

[16] Wallraff, a.a.O., S.51. Wir kommen auf die Josua-Stelle zurück.

[17] Wallraff, a.a.O., S. 54.

[18] Der Manichäismus trat im Mittelmeerraum als ‘Kirche des heiligen Geistes’ auf; der persische Prophet Mani (216-275) galt als der von Christus im Johannes-Evangelium verheissene Paraklet.

[19] Adversus nationes, Liber II, Cap. 61.

[20] M. Ficini, Opera Omnia, Basel 1561, 231 (II 75). Zitiert nach: P. O. Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, Frankfurt 1972, S. 60.

[21] Martinus Prenninger aus Konstanz. Empfänger der ficinischen Schriften zu Jamblichus, Proclus und Synesius. Er stellte Ficino das Geburtshoroskop und taufte einen Sohn auf den Namen Marsilius.

[22] M. Ficino, a.a.O., S. 944.

[23] Zu: Nicolaus Copernikus, Das neue Weltbild, Hamburg 1990.

[24] Das Lehrbuch Mathematike Syntaxis des Ptolemäus. Spätere Abschriften des Werkes trugen den Titel Megiste Syntaxis, was als al-magisti in die arabischen Übersetzungen übernommen wurde und von dort als Almagest in den heutigen Sprachgebrauch überging

[25] Ebd., S. 73.

[26] Ebd., S. 137.

[27] Kopernikus besass die Schriften M. Ficinos.

[28] Siehe die Vorrede zu De revolutionibus

[29] A.a.O., S. 149-153. Heute als apokryph beurteilt.

[30] Der Commentariolus mit den Kop. Hypothesen war bereits seit ca. 1510 im Umlauf. De rev. erschien erst 1543.

[31] Das Land zwischen der Weichsel und der Wolga hiess in der Spätantike Sarmatien.

[32] Beide Zitate, a.a.O., S. LXIII.

[33] Ebd., S. 178.

[34] Ebd., S. 133.

[35] In der Formel: (Z1/Z2)2=(A1/A2)3; wobei Z1 die Umlaufzeit z.B. des Jupiters ist, Z2 z.B. diejenige des Uranus und A1 und A2 die mittleren Abstände der genannten Planeten zu Sonne.

[36] Zitiert in: Kepler, J. Hemleben, Reinbek b. Hamburg 1971, S. 85f.

[37] Ebd., S. 96.

[38] J. Kepler, Weltharmonik, übers. u. eingel. von Max Caspar, München 1939, S. 354.

[39] Ebd.

[40] Dieser Zirkel wird heute unter der Bezeichnung ‘anthropisches Prinzip’ verhandelt.

[41] Ebd., S. 355.

[42] Ebd.

[43] Hegel, Dissertatio Philosophica de Orbitis Planetarum (1801), Übers., eingel. und kommentiert v. W. Neuser, Weinheim 1986.

[44]  G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und des Schellingschen Systems der Philosophie (1801); in: TWA 2, S. 24f.

[45] I. Kant, Kritik d. reinen Vernunft, Vorrede, B XIV.

[46] Richtig hat Georg Picht bemerkt, dass die Naturwissenschaftler ‘Hegelianer’ werden müssten, wollten sie sich über sich selbst verständigen. In: G. Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte (Vorlesung 1973/74), Stuttgart 1989, S. 82f.

 

© Markus Semm 2006