Walter Tydecks

 

Baudelaire und die poetische Kraft religiöser Bilder

– Baudelaire und die Alten

Auswahl: Die kleinen Alten (aus Die Blumen des Bösen), Die Verzweiflung der Alten (II), Der alte Gaukler (XIV), Die schöne Dorothea (XXV) (aus Pariser Spleen)

Einführungstext für den Literaturkreis von 50plus aktiv an der Bergstraße am 9.9.2015

Charles Baudelaire (1821-1867) wuchs in Paris eine Generation nach der Französischen Revolution auf. Er erlebte ähnlich wie der 22 Jahre ältere Balzac (1799-1850) und der gleichaltrige Flaubert (1821-1880) die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und war innerlich zerrissen zwischen der Beteiligung an den sozialrevolutionären Bewegungen 1848 einerseits und der Sehnsucht nach der früheren katholischen Geborgenheit andererseits, die angesichts der neuen neuen, rein auf dem Geld beruhenden Verhältnisse neue Anziehungskraft gewann. Mit Balzac und Flaubert gilt er als Begründer der modernen Literatur, deren Kritik sich nicht mehr vor allem auf die Kirche, sondern auf die neuen bürgerlichen Verhältnisse richtet. Sie lesen sich auch heute noch ebenso modern wie zu ihrer Zeit. In der Beschreibung der neuen Verhältnisse sind sie Realisten, im Gefühl des Verlustes einer vergangenen Welt Romantiker.

Baudelaire war eine auffallende Gestalt und ist vor allem durch seinen Gedichtband Blumen des Bösen (1857) berühmt geworden. Als er 6 Jahre alt war, starb sein 68-jähriger Vater Joseph-François Baudelaire (1759-1827), ein Pfarrer, der in der Französischen Revolution 1793 zum Jakobiner geworden war und später ein an Kunst und Literatur interessierter hoher Verwaltungsbeamter wurde. Ein Jahr nach seinem Tod heiratete Baudelaires Mutter Caroline Archimbaut-Dufays (1793-1871) Jacques Aupick (1789-1857). Er hatte unter Napoleon 1813 an den Schlachten von Lützen, Bautzen, Dresden und Leipzig teilgenommen und machte ab 1818 eine neue militärische Karriere, durch die er unter anderem an der Niederschlagung des Aufstandes der Seidenweber 1831 in Lyon und eines Aufstandes 1839 in Paris beteiligt war und zum General befördert wurde. Baudelaire akzeptierte ihn nie, und es kam bis zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Baudelaire stürzte sich in das Leben eines verschwenderischen Dandy und der Boheme. Ab 1842 Aufsehen erregende Liaison mit der aus Haiti gekommenen Schauspielerin und Tänzerin Jeanne Duval (1820-1862), die er später in den Jahren ihrer lang währenden Syphilis-Krankheit unterstützte. 1844 wurde er wegen seines ausschweifenden Lebens von seiner Mutter und seinem Stiefvater entmündigt, 1845 Selbstmordversuch. 1846 und 1847 erste literarische Veröffentlichungen, in der Erzählung Fanfarlo eine gelungene Selbstdarstellung und Huldigung an seine Geliebte Duval. 1848 auf den Barrikaden der Revolution, wo er mit dem Gewehr in der Hand und dem Ruf aufgetreten sein soll »Tötet General Aupick!«. Zugleich Übersetzer von Edgar Allan Poe, dem er in Europa zum Durchbruch verhalf (und dadurch in Rückwirkung auch in Amerika). Mit seinen Berichten über die Ausstellungen des Pariser Kunstsalons erwarb er sich den Respekt und die Freundschaft von Künstlern wie Daumier und Manet, doch gelang es ihm nie, sich aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu befreien. Neben finanziellen Problemen litt er zunehmend an den Folgen des Drogenkonsums und der Syphilis. Nach einem Schlaganfall wurde er von seiner Mutter betreut und starb 1867, erst 46 Jahre alt. Anerkennung als maßgeblicher Begründer der modernen Literatur fand er erst nach seinem Tod.

Wie lässt sich das Anliegen seiner Gedichte, Kurzprosa und Essays in wenigen Worten zusammenfassen? Er schrieb in seinen Tagebüchern: »Den Bilderkultus glorifizieren (meine erste, meine einzige, meine uranfängliche Leidenschaft)« (Baudelaire Mein bloßgelegtes Herz, S. 111). So wie ich ihn verstehe, hat für ihn der mit dem Niedergang des Christentums verbundene Verlust prägender Bilder zu einer Orientierungslosigkeit des Menschen geführt, die den meisten noch gar nicht bewusst geworden ist, da oberflächlich vieles so weiter läuft wie gewohnt. Es bedarf eines poetischen Blicks, das Neue zu entdecken, das im Alltag in den Großstädten entsteht. Neue Bilder voller religiöser Kraft können für Baudelaire nicht in theologischen Studien oder im Elfenbeinturm des Poeten entstehen, sondern er vergleicht sich mit einem Lumpensammler, der durch die Stadt zieht und dort die Schätze entdeckt, die zwar offen zutage liegen, aber nur einem poetischen Blick sichtbar werden. Hier meidet er bewusst die großen Salons und Zirkel der neuen bürgerlichen Elite, die ihm dank der Beziehungen seines Stiefvaters offen gestanden hätten, sondern begibt sich unter Künstler, in die Armenviertel und die bohemehafte Halbwelt.

Beispiele vergangener religiöser Bilder sind der brennende Dornbusch, das Kreuz oder in heidnischen Zeiten der Eichenbaum oder der Nabel (omphalos) der Orakelstätte in Delphi. Diese Bilder haben für Baudelaire heute ihre Wirkung verloren. Weder spottet er über sie noch ruft er sie an. Vielmehr ist mit ihrem Verlust eine existenzielle Leere entstanden, die er im Gedicht Die Blinden beschreibt: »Die Augen, draus entflohn das Licht, das gottgeschenkte / erheben sie, als ob sie in die Ferne sähn, / Zum Himmel«.

Zu seinen Vorbildern zählen E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine und Edgar Allan Poe, aber auch die Indianergeschichten von Cooper (1789-1851), dessen Lederstrumpf 1823-1841 erschienen ist. Im Vorwort seiner Übersetzung der Erzählungen von Poe schreibt er:

»Dieser wunderbare, dieser unsterbliche Instinkt zum Schönen ist es, der uns die Erde und ihre Schauspiele als eine gedrängt zusammenfassende Darstellung, als ein Abbild des Himmels erscheinen lässt. [...] Vermittels der Poesie und durch sie hindurch, vermittels der Musik und durch sie hindurch erblickt die Seele die Glanzbezirke, die hinter dem Grab sich breiten, [...] eines im Augenblicke sogar auf dieser Erde hier sichtbar gewordenen Paradieses.« (Baudelaire, Weiteres über Edgar Poe [1857], S. 170f)

Anders als der Schlechte Glaser, der es wagt, ohne »farbiges Glas, rosa, rotes oder blaues, Zauberglas, Paradiesglas ... durch die Viertel der Armen zu gehen« (Pariser Spleen, S. 7, 9, 37), vertraut er seiner poetischen Kraft, an den dunkelsten Stätten die verborgene Schönheit zu entdecken, die Blumen des Bösen. Er möchte nicht mit billiger Kunst zu ihnen gehen. Aber sie waren sicher nicht seine Leser. Er konnte ihnen höchstens durch die Art seines Auftretens seine Zuneigung zeigen und einem anderen Publikum berichten, was er dort gesehen hatte.

Er sucht eine völlig neue Art von Themen. Drei wichtige Beispiele sind das Lachen, die Lesbierinnen und die Alten.

Lachen

Das Lachen ist für Baudelaire sicher zuerst ein Bild, wie lachende Menschen aussehen und auf andere wirken. Ein lachender Mensch macht sich lustig auf Kosten anderer oder weil er etwas nicht versteht. Für das Christentum war das Lachen eine Art Überheblichkeit gegenüber der Schöpfung Gottes (Gottes Werke werden ausgelacht und mit ihnen Gott, der sie geschaffen hat). Andere kritisierten umgekehrt am Lachen die blinde Zustimmung zu allem Bestehenden. Baudelaire sieht in seinem 1855 veröffentlichten Essay Vom Wesen des Lachens das Böse im Lachen, das verachtende, höhnische Lachen, die aufgesetzte und eingeübte Freude, künstlichen, leeren Überschwang. Niemand lacht von sich aus über das eigene Ungeschick oder den eigenen Versprecher. Aber gerade im Lachen zeigt sich für Baudelaire die existenzielle Situation des Menschen: Wer über andere lacht, will die eigene Verzweiflung überspielen, dass er nicht im irdischen Paradies lebt, denn »dort würde den Menschen keine Mühsal drücken und sein Gesicht wäre schlicht und einfach« (Baudelaire, Vom Wesen des Lachens, S. 230).

Eine solche Haltung erreichen vielleicht einige Weise, die sich »durch die kontemplative Unschuld ihres Geistes der Kindheit nähern« (ebd., S. 242). Kinder lachen spontan auf, wenn sie Freude über etwas Neues oder Ungewohntes empfinden. Baudelaire spricht dann von Lächeln und nicht vom Lachen. Das kann verglichen werden mit dem archaischen Lächeln der vor-klassischen Götter. Erst seit dem Christentum erscheinen Venus, Pan oder Herkules als lächerliche Figuren vergangener Zeiten (ebd., S. 245).

Warum erschrickt in Die Verzweiflung der Alten das Kind, wenn die Alten ihm zulächeln? Warum heißt es vom alten Gaukler, »er lachte nicht, der Arme! Er weinte nicht, er tanzte nicht, er machte keine Faxen«. Er hat sich zurückgezogen vom Treiben des Jahrmarkts. Baudelaire geht so weit, diese Art von Komödie auch Moliére vorzuhalten – und Voltaire sowieso – und möglicherweise bei Moliére und am Hof des Sonnenkönigs den Ursprung der modernen Unterhaltungsindustrie zu sehen, während Rabelais, Callot, E.T.A Hoffmann und die frühe aus England kommende Pantomime für ihn gelungene Beispiele wahrer Komik sind (ebd., S. 251ff). Baudelaire will einen ganz neuen Blick gewinnen auf Gestalten wie den Verführer, eingebildeten Kranken, Geizigen, Tartuffe oder Intriganten.

Lesbierinnen

Wie lebt es sich in einer Welt, in der das ungezwungene Lachen vergeht, wie geht es dort den Kindern und der Liebe? Ursprünglich waren die Gedichte der Blumen des Bösen angekündigt worden unter den Titeln Limbus oder Lesbierinnen. Limbus war der Ort am Rande der Hölle, in den die antiken Dichter und die kleinen Kinder kommen, die noch nicht getauft werden konnten. Von ihnen will Baudelaire sprechen und ihnen sein Werk widmen. Aber Lesbierinnen? Für Baudelaire gab es auf Lesbos vergleichbar der Kindheit ein letztes Mal »das Lächeln, das heitere Strahlen«, »über Himmel und Hölle helllachend die Liebe«, »das wilde Gelächter« (im gleichnamigen Gedicht in Blumen des Bösen), noch zu Zeiten von Platon, als die Dichterin Sappho dort lebte. Doch besteht für Baudelaire kein Zweifel, dass auch die lesbische Liebe eine Gestalt des Bösen ist, ein Ausflucht, wenn heute nach den Möglichkeiten der lesbischen Liebe gesucht wird, die längst ebenso wie die antike Welt untergegangen ist. Die lesbische Liebe widerspricht den Grundsätzen der biologischen Arterhaltung wie den christlichen Glaubenssätzen, aber Baudelaire erhebt den Lesbierinnen gegenüber keine Vorwürfe, sondern sieht in ihrem Verhalten etwas, wie sie geradezu heroisch nach einer Antwort auf die gesellschaftlichen Fragen in der heutigen Zeit suchen.

Guys Frauen auf dem Balkon

Constantin Guys (1802-1892) Frauen auf dem Balkon, 1860
Baudelaire sucht die neue Kunst nicht in der akademischen Tradition oder bei ausgebildeten Malern, sondern in den für seine Zeit neuen Medien. Daher war für ihn Constantin Guys (1802-1892) der typische Vertreter der modernen Malerei, ein autodidaktischen Aquarellmaler, dessen Illustrationen in der 1842 in London gegründeten Illustrated London News veröffentlicht wurden, dem führenden Blatt auf diesem Sektor. Baudelaire vergleicht sie mit seinen eigenen Prosagedichten, die »in solchen illustrierten Publikationen wie der Revue de Paris und Arséne Houssayes L'Artiste« erscheinen (Westerwelle, S. 143).
Quelle: wikiart, dort auch eine Auswahl weiterer Zeichnungen

Für Baudelaire ist die lesbische Liebe Ausdruck einer religiösen Suche, ein typisches Phänomen der Großstädte und unserer Zeit. Erstaunlicherweise hat vor allem dieses Thema in späteren Arbeiten über Baudelaire besondere Aufmerksamkeit gefunden. Offenbar hat er hier eine Frage berührt, für die bis heute kaum die treffenden Worte gefunden sind. Walter Benjamin und Julia Kristeva bieten in ihren Arbeiten über Baudelaire soziologische und psychoanalytische Erklärungen an.

Benjamin (1892-1940) hat mit seinen Arbeiten über Baudelaire wesentlich zu dessen Wirkung beigetragen. Für ihn ist die lesbische Liebe eine Großstadterscheinung, seit die Frau in den industriellen Produktionsprozess einbezogen wird und »ihre spezifische Weiblichkeit gefährdet wurde« (Benjamin, S. 163). »In der Prostitution der großen Städte wird das Weib selber zum Massenartikel.« (Benjamin, S. 164) Das Gegenstück der gewollten Unfruchtbarkeit der Frau, die nicht mehr Mutter werden will oder kann, ist die Impotenz des Mannes (S. 159), aus der seine perversen Phantasien entspringen. Damit ist nicht die sexuelle Impotenz gemeint, Zeichen fehlender oder nachlassender Jugendlichkeit, sondern die schwindende Produktivität des Mannes bei der Arbeit, bei der seine körperliche und mentale Leistungsfähigkeit keine Chance mehr hat gegen die von ihm selbst geschaffenen Industrieprozesse. Die überlieferten Bilder der Arbeit des Mannes im Schweiße seines Angesichts und der Mühsal der Frau bei Schwangerschaft und Gebären verlieren ihre Bedeutung, wenn heute nicht nur die Arbeit, sondern auch das Zur-Welt-Bringen von Kindern an Retorten delegiert werden kann. Phantasien und Bilder der Liebe koppeln sich davon ab und suchen in der Figur der Lesbierinnen einen neuen Bezugspunkt, eine reine Liebe ohne den Kampf der Geschlechter und Generationen.

Die Philosophin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva (* 1941) erlebt die schwindende Produktivität des Mannes in ihrer psychoanalytischen Praxis als »Misere unserer Bindungen an unsere gefallenen Väter« (Kristeva, S. 307). Ihre Patienten berichten, wie schwer es ihnen fällt, sich von der Mutter zu lösen und ohne das Vorbild einer vom Vater erlebten Liebe einen Partner zu finden. Mit der Auflösung der christlich bestimmten Vater- und Mutterrolle gehen auch die mit ihnen verbundenen Bilder verloren, die Heilige Familie, die Mutter aus Sicht des Kindes als unkörperliche heilige Jungfrau Maria, und der Vater mit seiner Güte und Sicherheit nach dem Bild des Schoßes Abrahams (vgl. Kristeva, S. 360). Das entzieht dem Kind den schützenden Raum für seinen ursprünglichen Narzißmus, von dem aus es später zu stabilen, glücklichen Bindungen fähig wird. Für Kristeva erlitt Baudelaire aufgrund seiner persönlichen Geschichte eine vor allem in seinen Tagebüchern dokumentierte persönliche Krise, weswegen er schon früh die in der Moderne mit der Liebe und Sexualität verbundenen Ängste und Mythen beschreiben konnte.

In der Kurzprosa kommen die Lesbierinnen nicht mehr vor, doch ist die Schöne Dorothea ein Beispiel für ein neues Bild der Frau, das Baudelaire nach dem Vorbild von Jeanne Duval gestaltet hat, seiner Geliebten und Muse.

Die Alten

Was steht in der modernen Gesellschaft am Ende eines Lebens? Baudelaire kannte noch die Alten aus der Generation seines Vaters und beschreibt sie mit der gleichen Liebe und der gleichen Desillusionierung, wie er an die glücklichen Jahre der Kindheit zurückdenkt, in der sein Vater noch lebte.

Die Verzweiflung der Alten. Die Alten wenden sich einem Kind zu, werden jedoch abgewiesen. Es ist unklar, ob sie im Alter so hässlich geworden sind, dass das Kind Angst vor ihnen hat, oder ob das Kind spürt, dass dies nur eine künstliche Geste ist, mit der sie den Altersunterschied überbrücken und ihr eigenes Alter vergessen machen wollen. Es heißt, sie nähern sich »in der Absicht, ihm kindlich-unbefangen zuzulächeln«.

Baudelaire zeigt, was heute verloren geht: Von der Mühsal der Arbeit und der Sorge um die Angehörigen, von den Schrecken und Freuden der Geschichte gezeichnete Menschen. In der eigenen Lebenserfahrung nicht nur von der Geschichte getroffen zu werden, sondern diesen Schock – wahrscheinlich sogar gegen den eigenen Willen – ausdrücken und zeigen zu können. So wie er Die kleinen Alten in Paris sah, waren sie »Spukgestalten« (monstres) und die Frauen haben im Alter ihre Weiblichkeit verloren. Er spricht von ihnen in der männlichen Form des Plural (ils). Und doch sind sie liebenswert. Sie bewahren ein inneres Leuchten und werden wieder den Kindern ähnlich, und brauchen daher auch nur noch kleine Särge wie sie für Kinder angefertigt werden.

Und wie ein heiliges überbleibsel tragen
sie bei sich ein säckchen mit blumen und schnörkeln bestickt.
...
Ihr trümmer! ihr schwestern! mir verwandte scharen!
Ich nehme feierlich abschied von euch jeden tag.
Wo seid ihr morgen · ihr Even von hundert jahren
Auf denen Gottes entsetzliche klaue lag?

Delacroix Chios Alte Frau

Eugéne Delacroix (1798-1863) Massaker von Chios, 1824 (Auszug)
»Auf mehreren (Bildern von Delacroix, t.) findet man – ich weiß nicht durch welchen beständigen Zufall –, eine Gestalt, die trostloser, erschlaffter ist als die anderen, in der sich alle Schmerzen rings gedrängt wiederholen; so die knieende Frau mit hängendem Haar auf dem ersten Entwurf der Kreuzfahrer in Konstantinopel; so auf dem Gemetzel von Chios die Alte, die so verfallen und runzlig ist« (Baudelaire Salon 1846 in Gesammelte Schriften Bd. 4, S. 46).
Quelle: Wikipedia

Nachtrag: Notizen vom Gespräch im Literaturkreis

Spontaner Eindruck der Teilnehmer nach der Baudelaire-Lektüre: Polare Gegenüberstellungen, schon im Titel Blumen des Bösen. Resigniert, negativ, bitterböse, traurig. Baudelaire beschreibt eine andere Zeit und gebraucht viele ungewohnte Ausdrücke, damals war es so negativ. Geht unter die Haut. Präzise Sprache. Schwierig, erschreckend, was war das für eine Zeit, die Natur tritt anders als sonst in der Lyrik ganz in den Hintergrund. Depressiv, die Vergnügungen im Zirkus werden geradezu diffamiert, aber eine sehr starke Sprache, dennoch im Ganzen zu einseitig.

Übereinstimmend wurde ein positiver Ausweg vermisst. Den meisten war nicht bewusst, welche Lehre das Christentum früher vertreten hat, wie zum Beispiel zum Lachen. Das wird heute in den christlichen Kirchen nirgends mehr gepredigt, so sehr hat sie entweder ihre Überzeugungen geändert oder sich dem Zeitgeist angepasst. Es fiel sehr schwer, die religiöse Seite als solche zu verstehen. Starke Tendenz, alle Anforderungen in moralische Forderungen zu übersetzen: Wann darf man lachen, wann nicht? Was kann man tun, um so auszusehen, wie die Alten aussahen, weswegen Baudelaire sie geschätzt und geliebt hat? Ein gewisser Meinungsumschwung kam erst zustande, als am Ende nach dem intensiven Gespräch gemeinsam einige Gedichte aus den Blumen des Bösen gelesen wurden, auf Vorschlag eines Teilnehmers Stellvertretung und Die Kleinen Alten. Die Gedichte sprachen für sich selbst.

Stellvertretung

Du heiterer Engel, kennst du wohl die Angst,
die Scham, Gewissensbisse, Schluchzen, Sehnen,
und Nächte, die sich grauenvoll hindehnen,
wo du im Herzen wie zerknittert bangst?
Du heiterer Engel, kennst du wohl die Angst?

Du guter Engel, kennst du wohl das Hassen,
Die Gallentränen, Fäuste, die geballt,
Wenn laut der Rache Höllentrommel schallt,
Um unsere Kräfte herrisch zu erfassen?
Du guter Engel, kennst du wohl das Hassen?

Du heiler Engel, kennst du Fieberschauer,
Die murmelnd suchen nach den Sonnestrahlen,
Und wie Verbannte vor den Hospitalen
Sich müde schleppen längs der großen Mauer?
Du heiler Engel, kennst du Fieberschauer?

Du schöner Engel, kennst du faltige Haut,
Die furcht zu altern, grässliche Gedanken,
Wenn aus den Augen, draus wir gierig tranken,
Abscheu von unserer Verehrung schaut?
Du schöner Engel, kennst du faltige Haut?

Du seliger Engel, den das Licht umfließt,
David hätt sterbend Heilung sich erfleht
Vom Zauber, der von deinem Laib ausgeht,
Ich bitte, dass du ins Gebet mich schließt,
Du seliger Engel, den das Licht umfließt!

Quellen

Charles Baudelaire: Die kleinen Alten (aus den Blumen des Bösen), übersetzt von Stefan George; zeno.org

Anmerkung zur Übersetzung: »la griffe effroyable« wird meist verharmlosend übersetzt als »entsetzliche Hand« oder »entsetzlicher Finger«. Richtiger ist »Klaue«, »Pratze« oder »Kralle«.

Der französische Wikipedia-Eintrag zu Les Petites Vieilles gibt Hinweise auf die kunstvolle poetische Form dieses Gedichts. Es ist im Alexandriner-Versmaß geschrieben mit Beachtung der weiblichen und männlichen Reime und wählt eine ungewöhnliche Länge der 4 Strophen mit 9, 3, 3 und 6 Versen. Es ist Victor Hugo gewidmet.

Charles Baudelaire: Stellvertretung (aus den Blumen des Bösen)

im französischen Original Réversibilité, wörtlich ‘Umkehrbarkeit’, bisweilen mit dem Titel ‘Hingabe’ übersetzt, siehe auch die Übertragung durch Stefan George mit dem Titel XLV Anheimfall.

Charles Baudelaire: Pariser Spleen, Stuttgart 2008 (übersetzt von Kay Borowsky)

Charles Baudelaire: Gesammelte Schriften, Kempten, o.J., in Band 3: Weiteres über Edgar Poe, S. 141-178, Über das Wesen des Lachens, S. 223-266, im 2. Teil von Band 5: Tagebücher unter den Titeln Raketen und Mein bloßgelegtes Herz, in Band 6: Blumen des Bösen

Walter Benjamin: Charles Baudelaire, Frankfurt 1974

Roberto Calasso: Der Traum Baudelaires, München 2012

Julia Kristeva: Baudelaire oder über Unendlichkeit, Duft und Punk,
in: Julia Kristeva: Geschichten von der Liebe, Frankfurt 1989, S. 304-326

Karin Westerwelle (Hg.): Charles Baudelaire, Würzburg 2007


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