Walter Tydecks

 

Zur Wirkungsgeschichte des Don Juan von Molière

Notizen für den Literaturkreis von 50plus aktiv an der Bergstraße am 8.7. 2015

Religiöse Erbauungsliteratur: Die Figur des Don Juan entstand im 16. Jahrhundert und trägt Züge einer religiös motivierten Kritik an einem schwelgerischen Lebensstil, der andere Menschen als Mittel zur Befriedigung der eigenen Lust- und Machtgefühle sieht. Siehe bei Molière die Kritik des Vaters an seinen Sohn Don Juan und als Strafe die "Höllenfahrt" Don Juans am Ende des Stücks. Molière lässt es sich jedoch nicht nehmen, im letzten Akt Erbauungsliteratur dieser Art als Heuchelei zu kritisieren.

Bürgerliche Kritik am Adel: Und Moliére wendet dies in eine Kritik am Adel, dem ein solches Verhalten dank seines gesellschaftlichen Standes möglich ist. Siehe die Szene mit den Bauernmädchen. Das lässt sich unschwer übertragen auf Verhaltensweisen einiger Mächtiger heute wie zum Beispiel Dominique Strauss-Kahn.

Libertinage: Ursprünglich war der Libertin ein freigelassener Sklave oder Kriegsgefangener. Später bezeichneten sich Freigeister als Libertins, weil sie sagen wollten, dass sie aus dem Gefängnis einer einengenden Moral oder Religion ausgebrochen sind. Molière sympathisiert durchaus mit dieser Richtung – und manche sehen in seinem Don Juan einen Vorläufer von Voltaire –, kritisiert aber zugleich, wenn sich daraus ein selbstgefälliges Verhalten ergibt, das er vor allem bei den Höflingen in Versailles sieht. Sie haben ihre frühere Stellung verloren. Statt politisch, ökonomisch oder militärisch frei agieren zu können, beschränken sie sich auf ein angepasstes libertäres Leben am Hof und lassen den Unmut über ihre Situation an Tiefergestellten aus. Molière spottet, dass sie sich in ihren amourösen Eroberungen wie ein neuer »Alexander der Große« fühlen, der nun jedoch Frauen statt Länder und Städte erobert und alle Rivalen aus dem Feld schlägt. Siehe auch die Szene, als Don Juan einen Armen erpressen will, Gott zu verfluchen. Molières Zeitgenossen verstanden sofort, gegen wen das gerichtet war, und ließen daher diese Szene als erste streichen.

Don Juan ist bei Molière bewusst zwiespältig angelegt. Später wurden entweder seine positiven oder seine negativen Züge hervorgehoben.

Erfülltes Leben. Mozart und Kierkegaard. Spätestens mit der Oper Don Giovanni (1787) ist Don Juan in einen Rang erhoben worden, der auf seine Art der Faust-Figur entspricht. Die zeitgenössische Kritik tobte: Er vereinige »all das Vernunftwidrige, Abentheuerliche, Widersprechende und Unnatürliche in sich, was nur immer ein poetisches Unding von einem menschlichen Wesen zu einem Opernhelden qualificieren kann« (Rezension 1790, zitiert nach Zimmermann, S. 4). Dagegen waren die Romantiker begeistert, so bereits 1813 E.T.A Hoffmann in der gleichnamigen Novelle und ihm folgend der dänische Philosoph und Begründer des Existenzialismus Kierkegaard.

Kierkegaard sieht in Entweder / Oder (1843) in Don Juan eine Figur, die vollendet die ästhetische Lebensweise verkörpert. Mit Ästhetik ist jedoch nicht wie heute der oberflächliche schöne Schein gemeint, sondern ein Leben in Sinnenfreude und Sinneslust. Don Juan vermag sich völlig dem jeweiligen Augenblick hinzugeben und in ihm aufzugehen. Er achtet gerade nicht auf die äußere Erscheinung der Frauen und die Mode, sondern vermag in jeder Frau den Zug zu treffen, der im gemeinsamen Zusammensein einen Augenblick des Glücks ermöglicht. Sein Leben ist der kindlichen Unschuld zu vergleichen, befindet sich vollständig in der Unmittelbarkeit und ist sowohl frei von jeder Besonnenheit wie auch von irgendeiner Berechnung. Don Juan denkt an nichts anderes als was er gerade erlebt. Sowie er beginnt, über diesen Zustand nachzudenken und sich dessen bewußt zu werden, schlägt die Ästhetik in Ethik um. Das ist im Don Juan die Frage nach der Ehe.

Bei der Ehe geht es für Kierkegaard nicht darum, moralisch das ausschweifende Leben zu verurteilen und in geordnete Bahnen zu lenken, sondern eine neue Qualität in der Beziehung zu einem anderen Menschen zu finden. Anders als beim rein ästhetischen Abenteuer nehmen die liebenden Partner sich erst in der Ehe als eigenständige Personen wahr, die über den Augenblick der Liebe hinaus Bestand und ihre jeweils eigene Geschichte haben. Sie sehen einander nicht mehr ausschließlich im Sonnenschein der Verliebtheit, sondern als eigene individuelle Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen. Beide werden durch diese Erfahrung ebenso zu neuen Menschen wie sie sich bereits im Moment des Verliebens verwandelt hatten. Sowohl die ästhetische wie die ethische Erfahrung ist eine Erschütterung des Menschen, die ihn völlig außerhalb der üblichen Zeit erhebt. »Dies ist das Glückliche, ... die hohe Zeit in der geschichtlichen Zeit« (Kierkegaard). Don Juan spürt das, als er Elvira wieder begegnet und den tiefen Ernst wahrnimmt, mit dem sie sich für ein Leben im Kloster entscheidet und ihm verzeiht. Er verliebt sich daher fast neu in sie und steht auf der Schwelle zur Ethik der Ehe.

Für Kierkegaard sind die Lebensweisen der Ästhetik und Ethik Beispiele für unterschiedliche existenzielle Grundsituationen, in denen sich der Mensch befinden kann. Das geht für ihn so weit, dass er in Don Juan den Menschen buchstäblich in einem anderen Geistes-Zustand sieht. Während sich normalerweise der Geist des Menschen im Medium der Sprache bewegt und mit ihr auszudrücken versteht, bewegt sich Don Juan im Medium der Musik und geht völlig in ihr auf. Schon in den frühesten Don Juan Stücken aus Spanien stellt er sich als derjenige vor, »der keinen Namen hat«. Es gibt weder ein Wort noch einen Namen, das ihn treffend charakterisieren könnte. Sein Verhalten lässt sich nur wie eine musikalische Melodie verstehen, die den Hörer in einen anderen Zustand der Ergriffenheit versetzen kann. Für Kierkegaard war es ein Glücksfall, dass dieser Stoff einem Komponisten wie Mozart in die Hände fiel, der gleichermaßen das Ideal von Don Juan wie das Ideal der Musik zu komponieren vermochte. Don Juan verführt nicht in berechnender Weise die Frauen, sondern sie lassen sich mitreißen von seiner Begeisterungsfähigkeit. Jede spürt, wie in seiner Gegenwart ein innerer Zug in ihr erwacht und auflebt. Sie erleben mit ihm eine Hohe Zeit und werden ihr Leben lang an ihn denken. Kierkegaard will zeigen, dass sie in diesem Moment im Grunde ein religiöses Erlebnis erfahren, und dass im Weiteren jeder Mensch von der Ästhetik über die Ethik zur Religion geführt wird, sofern er sich nicht verhärten lässt und innerlich frei bleibt.

Nietzsche kannte Kierkegaard nicht, aber sein Dionysos teilt unverkennbar Züge des Don Juan. Im Weiteren hat Nietzsche die Don-Juan-Figur jedoch spöttischer gesehen. So wie bei Molière der Don Juan ein Adliger ist, der niemals mehr ein Feldherr wie Alexander der Große werden wird und sich daher in erotischen Abenteuern Ersatz suchen muss, so müssen später diejenigen, die auf dem Feld der erotischen Abenteuer nicht mithalten können, auf anderen Gebieten nach Ersatz suchen. In diesem Sinn spricht Nietzsche in der Aphorismensammlung Morgenröte (1881) in Eine Fabel vom »Don Juan der Erkenntnis«, der in wissenschaftlichen Erkenntnissen sein Glück sucht.

Für die auf Freud zurückgehende Psychoanalyse ist Don Juan ein Gefangener des Ödipus-Komplexes, der in der Vielzahl der von ihm verführten Frauen erfolglos die Mutter sucht, den Vater mordet und sich am Ende wie in der klassischen Tragödie dem Wirken der höheren Mächte in Gestalt des Komtur (bzw. steinernen Gastes) beugen muß. Sein Diener Sganarelle (Leporello) ist das in einem Doppelgänger verkörperte schlechte Gewissen (so Otto Rank Die Don-Juan-Gestalt, 1924 mit zahlreichen Hinweisen auf Mythologie und Literatur). Diese Deutung hat sich nach meinem Eindruck im 20. Jahrhundert weitgehend durchgesetzt. – Er wird bisweilen auch als verkappter Homosexueller gesehen oder als jemand, der mit seiner Verführungskunst souverän den Genußtrieb steuern und den Todestrieb zurückdrängen kann, hierbei jedoch alle anderen Menschen bloß in Figuren seines Spiels drängt.

Camus hat sich sicher stark mit Don Juan identifiziert. Er fühlte sich zur Ehe unfähig und hatte auf Frauen eine ähnliche Ausstrahlung wie Don Juan. Er widmet ihm im Der Mythos von Sisyphos (1942) ein eigenes Kapitel. Don Juan hat sich für Camus bewusst gegen eine Ethik der Qualität entschieden und verfolgt stattdessen eine Ethik der Quantität, die von ständig neuen Eroberungen lebt und stolz auf die Zahl der erfolgreich bestandenen Abenteuer ist. Das Besondere des Don Juan ist für Camus, dass er nicht einfach in die Leere eines solchen Lebens verfällt, sondern sich ihrer bewusst wird. Dadurch wird Don Juan für Camus zum Muster einer absurden Gestalt. Don Juan erkennt den Widerspruch seiner Lebensweise, aber er verharrt in ihr, was für Camus eine bewußte Entscheidung für die Absurdität ist. Das macht für ihn die Faszination des Don Juan aus.

Nach 1945 haben diese Ideen an Glaubwürdigkeit verloren. Don Juan ist kein Thema der Philosophie mehr, sondern wird zumindest vorerst nur noch von Schriftstellern dargestellt, die Don Juan auf das Maß eines durchschnittlichen und mit sich selbst unzufriedenen Menschen zurückführen wollen. Desillusionierung macht sich breit und ist nach meiner Überzeugung die Kehrseite des Niedergangs der Religion. Sprach Kierkegaard von der »hohen Zeit« der Liebe, so zeigt 1964 Peter Härtling in seinem ersten Roman Niembsch oder Der Stillstand am Beispiel des Dichters Nikolaus Lenau einen Don Juan, der fast gegen seinen Willen in diese Rolle gedrängt wurde und in ihr verkümmert. 40 Jahre später ist aus ihm in der bisher aktuellsten Neugestaltung Don Juan de la Mancha oder die Erziehung der Lust von Robert Menasse (2007) ein Ritter von der traurigen Gestalt geworden. Für Menasse ist die Welt übersexualisiert, wenn selbst Mineralwasser mit Fotos halbnackter Frauen angepriesen wird. Männer und Frauen sehen sich wachsendem Leistungsdruck ausgesetzt, wie kleine Don Juans agieren zu müssen, was den offenen Blick auf die jeweiligen Partner versperrt und am Ende auch die Lust auf Sex vergällt. Übrig bleibt der allgegenwärtige schnoddrige und unzufriedene Ton der Werbung und der Medien.

Literaturhinweise

Jürgen Grimm: Molière, Stuttgart 1984

Otto Rank: Die Don Juan-Gestalt, Wien 1924; Link

Jörg Zimmermann: Don Juan als philosophisches Paradigma: Kierkegaard – Nietzsche – Camus
in: Frank Göbler (Hrsg.): Don Juan. Don Giovanni. Don Żuan. Europäische Deutungen einer theatralen Figur. Tübingen und Basel 2004, S. 55-81; Link


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