Walter Tydecks

 

Stoner und die (Willens-)Freiheit

Notizen für den Literaturkreis von 50plus aktiv an der Bergstraße am 8.4.2015

Der Roman Stoner (1965) von John Williams (1922-1994) ist eine Tragödie vergleichbar den Stücken von Sophokles oder Shakespeare.
Stoner kam 1910 aus armen Verhältnissen auf dem Land an die Universität und wurde dort Literaturwissenschaftler in mittleren Hochschul-Positionen. Sein Thema waren die mittelenglische Literatur und der Einfluss der antiken Tragödie auf Shakespeare. So nennt er Donatus, einen vorchristlichen Rhetoriker des 4. Jahrhunderts. Grammatik bedeutet für Stoner nicht nur Satzbau oder Syntax, sondern auch Etymologie, Analogie, Metaphorik (S. 37, 170).

Was bedeutet also der Name William Stoner? Wilhelm ist zusammengesetzt aus Wille und Helm (Schutz), also jemand, der mit seinem Willen jemanden schützt oder dessen Wille unter einem Schutz steht.

Stoner
– jemand, der steinigt, Steine erhebt und damit jemanden tötet
– jemand, der Stein für Stein eine Mauer baut, »walls with stone«
– jemand, der gelegentlich Hasch oder andere Drogen nimmt, ein Kiffer, »stoned«
– ein »wrongdoer«, Delinquent, Fehler, »Sand im Getriebe«
(Quellen: Michael Sperber: Williams' Stoner: Guilt, Shakespeare, Sisyphus, and the Non-Thriving Survivor, Juni 2014; Link und Memidex)

Freiheit. Unter den zahlreichen Freiheitsbegriffen seien 3 hervorgehoben:
– Handlungsfreiheit, sowohl die Freiheit, Gelegenheiten ergreifen zu können wie auch die Fähigkeit zum Rückzug in der Not. Bürgerliche Freiheit, die dem Vertragsrecht, dem Wahlrecht etc zugrunde liegt. Das gilt für Stoner nur bedingt. Er ist häufig wie gelähmt und fühlt sich in seinem Handeln keineswegs frei.
– Freie Entscheidung zwischen Gut und Böse. Das ist die jüdisch-christliche Bedeutung. Gott hat den Menschen so geschaffen, dass jeder Mensch in seinem Leben in Situationen kommt, in denen er sich frei und bei klarem Bewusstsein für Gut oder Böse entscheiden kann und muss. Stoner lehnt diese Bedeutung ausdrücklich ab, wenn er gegenüber der »würdevollen Haltung der Antike« über die »Bitterkeit, die Angst, den kaum verhüllten Hass, dem er bei einigen der späteren christlich-lateinischen Dichter begegnete«, staunte (S. 55).
– Frei die Absurdität des Lebens annehmen zu können (Camus), der Stein des Sisyphos (siehe den Hinweis bei Michael Sperber)

Während aber Camus Sisyphos als einen glücklichen Menschen sieht, erscheint mir bei Stoner der Begriff Glück nicht angemessen. Hier kommt bei Camus katholisches Denken durch, das Stoner fremd ist. Wie wird in Stoner das Wort “frei” gebraucht?

Freiheit in Stoner
– Der häufigste Gebrauch ist ganz banal: freie Zeit, freier Nachmittag, frei etwas zu tun, Muße. Das kannten seine Eltern nicht, die den ganzen Tag auf dem Acker verbringen mußten. Wenn sie abends »eine knappe Stunde zwischen Abendbrot und Bett« Zeit hatten, war meistens der einzige Laut, den man hören konnte, »das Räkeln eines müden Körpers auf einem harten Stuhl oder das leise Knarren eines Pfostens« (S. 9).
– Nach seiner "Erweckung" durch das 73. Sonett von Shakespeare über die Vergänglichkeit des Menschen fühlt sich Stoner der Zeit enthoben, frei »sich von außen zu sehen« (S. 22).
– Empfänglich für die Schönheit, Entdeckergefühl in der Wissenschaft (S. 37f).
– Akademische Freiheit (Ausführungen von Masters, seinem Studienfreund, S. 40ff). Fast aggressiv gegenüber den anderen Menschen, die »draußen im Schmutz« arbeiten müssen, die »armen Dreckskerle der Welt« (S. 43) (»those on the outside, in the muck, the poor bastards of the world«).
– Herausforderung: Lomax, der Widerspieler von Stoner an der Universität und vielleicht auch im Privatleben, hatte die Freiheit früher kennengelernt, als er gegenüber den Kränkungen, denen er als Krüppel ausgesetzt war, eine innere Freiheit gewinnen musste, »weshalb dieses Wissen in höherem Maß ein Teil von ihm geworden war, als es für Stoner galt« (S. 127).
– Geniekult. Stoner wendet sich gegen romantische Ideen, wonach einem Genie wie Shakespeare ihre Fähigkeiten wie von allein, aus freien Stücken zufällt. Vertreter des Geniekults ist Walker, der ebenfalls verkrüppelte Zögling von Lomax (S. 180). Gegen den Geniekultur tritt Katherine Driscoll auf, die Geliebte von Stoner.
– Liebe als »ein Akt der Menschwerdung, ein Zustand, den wir erschaffen und dem wir uns anpassen von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick, durch Willenskraft, Klugheit und Herzensgüte« (S. 246). Es gibt für Stoner keine abstrakte Willensfreiheit. Die Willenskraft muss zusammengehen mit Klugheit und Herzensgüte.
– Angesichts des Todes wird der Geist frei (S. 340). Stoner lässt sein Leben und seine Wünsche an sich vorbeiziehen. »Er wusste, was er gewesen war« (S. 348).

Stoner war in eine tragische Situation geraten. Seine Eltern wünschten ihm das Beste und sind dennoch unfähig, den Weg zu verstehen, den er geht. Er sieht, welchen Schmerz er ihnen antut, obwohl er das nicht will. In dieser schicksalhaften Begegnung erscheint das Gesicht des Vaters wie ein Stein (darauf macht aufmerksam Alex Pabarcius: Book Review Dezember 2013; Link). Im englischen Original klingt es weit deutlicher und härter als in der deutschen Übersetzung (S. 33f):

»Stoner tried to explain to his father what he intended to do, tried to evoke in him his own sense of significance and purpose. He listened to his words fall as if from the mouth of another, and watched his father's face, which received those words as a stone receives the repeated blows of a fist. [...]
His mother was facing him, but she did not see him. Her eyes were squeezed shut; she was breathing heavily, her face twisted as if in pain, and her closed fists were pressed against her cheeks. With wonder Stoner realized that she was crying, deeply and silently, with the shame and awkwardness of one who seldom weeps.« (S. 33f)

Aus dieser Erfahrung wurde er der, der er war: Bisweilen gelähmt, bisweilen von größter innerer Wahrheit und Freiheit.

Nachtrag, einige andere Themen vom Treffen am 8.4.2015

Stoners Ehefrau Edith war in gewisser Weise neidisch und eifersüchtig auf Stoner und sein Verhältnis zu ihrer gemeinsamen Tochter Grace. Aber sie hat ihn doch irgendwo geliebt. Das zeigt sich, wie sie aufblüht, als sie ihn in der Phase seiner Affäre glücklich sieht, statt eifersüchtig zu werden. Hatte Ediths Vater sie sexuell missbraucht, und rühren daher ihre Hysterie, ihr gestörtes Verhältnis zur Sexualität und ihr Besitzanspruch der Tochter gegenüber? Das bleibt offen. Ihr Vater hatte sich einen Sohn gewünscht und sie wahrscheinlich abgelehnt. Zwischen ihren Eltern herrschte ein sehr kaltes Verhältnis.

Als sich Stoner in Edith verliebt, steht er in der Tür und sieht vor sich das Bild einer schönen, gut gekleideten, auf einer Party gewandt auftretenden Frau und wird sich seiner eigenen Unbeholfenheit bewusst (S. 63). Nur wenig später steht umgekehrt sie im Türrahmen, als er ihren Eltern vorgestellt wird. »Sie sahen sich an, als würden sie sich nicht wiedererkennen« (S. 67).

Kleinliche Intrigen und Kampf um Status und Anerkennung an der Universität. Während Lomax und Walker im Grunde absteigen, als sie von der Elite-Universität Harvard in die Provinz kommen, steigt Katherine Driscoll auf an ein »angesehenes College für Geisteswissenschaften in Massachusetts« (S. 313) und kann in einem renommierten Universitätsverlag veröffentlichen.

Hat sich Stoner aus der Realität in eine entfernte Gedankenwelt zurückgezogen, und sich daher auf die mittelenglische Literatur spezialisiert? Ich vermute, dass er gerade deswegen die Canterbury Erzählungen von Chaucer und andere Texte aus einer Zeit ausgewählt hat, in der das Landleben gesellschaftlich bestimmend war, weil er sich in ihnen in seiner persönlichen Realität besonders klar angesprochen sieht. (Ergänzung: Das erklärt allerdings nicht sein Interesse an Grammatik. Instinktiv zieht ihn etwas in eine vorchristliche Lebenswelt und deren Kultur, ohne sich je ausdrücklich mit dem Christentum oder der neuzeitlichen Kultur auseinanderzusetzen.)

Ist im Grunde unwichtig, ob Lomax ein Krüppel ist, und geht es eigentlich um Macht? Für mich hat Williams mit Bedacht Krüppel auftreten lassen und sieht sich in der Tradition von Shakespeare. Der hatte im Gegensatz zum überlieferten Theater Zwerge und seltsame Gestalten auf die Bühne gebracht. Das blieb in der Geschichte des Theaters nahezu einmalig. In den Missgeburten zeigt sich etwas Besonderes. Sie müssen auf besondere Weise mit dem Leben fertig werden. Stoner findet keinen Weg, damit klar zu kommen. Er sieht sich der Gefahr ausgesetzt, dass seine Kritik an Lomax als herablassendes Verhalten gegenüber einem Krüppel kritisiert werden kann. – Wie ist zu verstehen, als Lomax am Ende der Party Edith in aller Öffentlichkeit küßt – »Edith fuhr ihm mit der Hand leicht ins Haar« (S. 127) –, obwohl sie sonst ein eher gestörtes Verhältnis zur Sexualität und zu Männern hat? Findet Edith für einen Moment in ihr früheres offeneres Verhalten zurück, bevor sie Stoner kennenlernte, und erkennt Lomax intuitiv, was hier geschieht, während Stoner im Grunde nicht versteht, was vor sich geht, oder sich nur einreden will, es handele sich um »den keuschesten Kuß, den er je gesehen hat«? Später wird wiederum kolportiert, dass Lomax für Katherine »eine lautere und ehrenwerte Liebe hegte« (S. 289).

Die Schilderung des Sterbens von Stoner geht sehr nahe und ist in der Literatur wohl nur mit dem Tod des Iwan Iljitsch von Tolstoi vergleichbar.

Zitiert nach der Taschenbuchausgabe München 2014 (dtv) in der Übersetzung durch Bernhard Robben sowie der amerikanischen Paperback-Ausgabe New York 2006 (New York Review Books Classics). Alle Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Übersetzung.


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