Walter Tydecks

 

Prädikate und Position eines Dinges

– Fußnote / Zusatz zum Beitrag Sphäre des Begriffs und Logik der Sphäre

Nachdem Kant zwischen Begriffsanalyse und Erfahrung unterschieden hat, äußert er sich grundsätzlich zur Seinsanalyse. Er lehnt konsequent nicht nur den ontologischen Gottesbeweis ab, sondern alle Versuche, aus der Analyse eines Begriffs auf die Existenz des jeweiligen Dings zu schließen, worauf sich der Begriff bezieht. Er bezeichnet das Sein als Position eines Dinges:

»Sein  ist offenbar kein reales Prädikat, d.i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.« (KrV, B 626).

Siehe hierzu auch Heidegger Kants These über das Sein sowie die Interpretation durch Picht. Picht versteht den Ausdruck ‘Position’ »abgeleitet von ponere – setzen, stellen, legen. [...] Es ist die Setzung des Denkens, die thesis, 'der Satz'.« (Picht, Von der Zeit, S. 57) Nach seiner Interpretation will Kant sagen, dass das Sein der Dinge nur eine Setzung durch die Vernunft ist.

»Was man alsbald vergessen hat, ist die wirkliche Grundthese von Kant: dass nämlich das so verstandene 'Sein' seinerseits nicht etwa durch eine Setzung, sondern durch eine Entgegensetzung bestimmt ist. Es unterscheidet sich unaufhebbar von dem, was die Dinge an sich 'sind'. Deshalb hat Kant das gesetzte Sein auf die bloße Sphäre des Erscheinens eingeschränkt. Daraus ergibt sich, dass auf der anderen Seite vom intelligiblen Wesen des Subjekts, nämlich von seiner Freiheit, nun nicht mehr gesagt werden kann, dass es ist. Deshalb verwandelt sich für das Denken des 19. Jahrhunderts, insbesondere für den Marxismus, alles, was nur die Sphäre des Subjektes angeht, in einen bloßen Überbau.« (Picht, Von der Zeit, S. 59)

Diese weitreichenden Thesen verdeutlichen die Tragweite der Aussage von Kant. Mit der Position eines Dinges ist nach Picht die transzendentale Topik gemeint, d.h. »die Stelle, welche wir einem Begriffe entweder in der Sinnlichkeit, oder im reinen Verstande erteilen« (KrV, B 324). Wichtig ist für Picht, dass die Setzung, ob ein Ding als seiend gilt oder nicht, nur durch die Vernunft erfolgt und nicht durch die Dinge selbst. Daher spricht er von einer Entgegensetzung. Die Dinge an sich setzen sich gewissermaßen durch ihre eigene Existenz, und diese Setzung entzieht sich der menschlichen Vernunft. Die menschliche Vernunft bewegt sich dem gegenüber in einem Raum, den sie frei gestalten kann. Die Vernunft entscheidet durch eine Setzung, was ihr als existierend, als möglich, als Einbildung, Mythos, Traum, Kunst oder bloße Rhetorik, als Sinnestäuschung oder etwas anderes gilt. Für Kant ist es weder möglich, aus der bloßen Sinnlichkeit heraus eine solche Entscheidung zu treffen, noch kann der Verstand aus der Begriffsanalyse auf das Sein schließen. Da bleibt es Aufgabe der Vernunft, durch eine Setzung eine Entscheidung zu treffen. Das ist ihre Freiheit, zugleich verbunden mit der Gefahr, sich zu irren und eine falsche Setzung zu treffen. (Diese Deutung kann sich auf Aristoteles berufen, der ebenfalls den topos in zweierlei Sinn verstanden hat: Als Ort der Dinge in der Physik und als Ort der Worte in der Topik.)

Werden die Setzungen der Vernunft als Entgegensetzungen verstanden, dann besteht die Möglichkeit, sie mit weiteren sinnlichen Erfahrungen zu überprüfen und wenn nötig zu revidieren. Idealerweise folgert die Vernunft aus ihren Setzungen Voraussagen, die sich bestätigen oder widerlegen lassen. Das gilt nicht nur für die Naturwissenschaft, sondern auch für jedes von praktischer Vernunft geleitete Handeln, das auf bestimmten Annahmen beruht, die eintreten oder nicht eintreten. Nur sich selbst gegenüber kann sich die Vernunft nicht an einer Entgegensetzung messen. Sie kann sich nicht aufteilen und zugleich von innen und von außen sehen. So verstehe ich Pichts Aussage zum Überbau. Es bleibt an dieser Stelle offen, mit welchem Bild es zu beschreiben ist, wenn das Denken sich selbst, d.h. die Denkbestimmungen zur Sache macht, und hierfür das Bild der Entgegensetzung nicht möglich ist.

Hegel ist dagegen überzeugt, dass es dem Denken möglich ist, in Übereinstimmung mit der Sache zu kommen. Er vertraut darauf, dass es im Geist eine übergreifende Übereinstimmung der Natur und des Denkens gibt. Am deutlichsten wird daher Hegels Kritik an Kant beim Urteil des Begriffs. Hegel bezeichnet als Urteil des Begriffs, was Kant Urteil der Modalität genannt hat (das Urteil, dass etwas möglich, wirklich bzw. notwendig ist). Während für Kant das Sein lediglich eine Position des Dinges ist, die von der Vernunft gesetzt wird, ist Hegel überzeugt, dass das Denken mit dem Urteil des Begriffs eine Beziehung des Gegenstands zu seinem Sollen herstellen kann. Das klingt eigenartig und wird verständlich, wenn als das Sollen einer Sache gemeint ist, was sie von ihrer eigenen Natur aus sein soll. Das Sollen einer Sache ist die entelecheia im Sinne von Aristoteles, das ist dasjenige, wohin etwas sich gemäß seiner eigenen Bestimmung und Natur entwickeln will und soll.

»Erst im jetzt zu betrachtenden Urteil (dem Urteil des Begriffs, t.) ist seine Beziehung auf den Begriff vorhanden. Dieser ist darin zugrunde gelegt und, da er in Beziehung auf den Gegenstand ist, als ein Sollen, dem die Realität angemessen sein kann oder auch nicht. – Solches Urteil enthält daher erst eine wahrhafte Beurteilung; die Prädikate gut, schlecht, wahr, schön, richtig usf. drücken aus, daß die Sache an ihrem allgemeinen Begriffe als dem schlechthin vorausgesetzten Sollen gemessen und in Übereinstimmung mit demselben ist oder nicht.« (HW 6.344)

Das ist ein Grundgedanke der Hegelschen Philosophie. Er findet sich bereits in der Begriffslehre für die Oberklasse von 1809-10:

»Das eigentliche Urteilen über einen Gegenstand ist das Vergleichen seiner Natur oder wahren Allgemeinheit mit seiner Einzelheit oder mit der Beschaffenheit seines Daseins, das Vergleichen dessen, was er ist, mit dem, was er sein soll.« (Hegel, Begriffslehre für die Oberklasse § 168, HW 4.54f, zitiert bei Lau, S. 285)

Hegel kann sich auf Platon und Aristoteles berufen, wie Picht in seinem Kommentar zu Aristoteles' De Anima gezeigt hat. Das Denkvermögen ist ein Werkzeug (organon) des Menschen als denkendem Lebewesen. Nach Platon und Aristoteles gilt für jedes organon, dass es seine Aufgabe nur dann erfüllen kann, wenn es sich schon von seiner Anlage her in innerer Übereinstimmung mit demjenigen befindet, das es bearbeitet. Picht nennt als Beispiel die Sonnenhaftigkeit des Auges, von der Platon und Goethe sprechen. Das Auge kann nur deswegen die Sonne erkennen, weil es seinerseits schon sonnenhaft ist (Picht, Anima-Kommentar, S. 326 mit Bezug auf Platon Staat 508B und Goethe Zahme Xenien). Übertragen auf das Denkvermögen bedeutet das, dass das Denkvermögen nur deswegen etwas erkennen kann, weil es in den Grundzügen mit dem Erkannten übereinstimmt. Daher kann aus einer Selbsterkenntnis des Denkvermögens auf die Grundzüge des Erkannten geschlossen werden.

Schelling hat sofort gesehen, dass Hegel damit auf einen Freiheits-Begriff kommt, der sich vom jüdisch-christlichen Freiheits-Begriff unterscheidet. Für Hegel entsteht Freiheit, wenn es dem Denken gelingt, in Übereinstimmung mit der Sache zu kommen. Das Denken wird frei, wenn es ihm gelingt, sich frei in seinem Element zu bewegen. Die Sphäre des Begriffs ist für Hegel »das Reich der Subjektivität oder der Freiheit« (HW 6.240). Es gibt für ihn hier keine Unterscheidung in Gut und Böse, zwischen der entscheiden zu können für Schelling der »reale und lebendige Begriff« der Freiheit ist. Die von Hegel gemeinte Freiheit ist aus Sicht von Schelling »ein bloß formeller Begriff« der Freiheit. (Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 352. Diese Schrift wurde 1809 unter dem unmittelbaren Eindruck der Phänomenologie des Geistes veröffentlicht.)

Um diese Frage weiter zu führen, ist auf Hegels Ausführungen zum Werkzeug-Charakter einzugehen, die er in der Wissenschaft der Logik dem Kapitel über Chemismus und das Medium folgen lässt. Dort geht es um die Frage, wie aus dem mechanischen und chemischen Denken das organische Denken hervorgeht. Anders als Kant sieht Hegel keine Gegenüberstellung zwischen mechanischem und organischen Denken, sondern sieht sie vermittelt durch einen Schluss, den das chemische Denken ermöglicht. Darauf ist in einem weiteren Beitrag näher einzugehen.

Literatur

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971 (zitiert als HW); Link

Martin Heidegger: Kants These über das Sein
in: Martin Heidegger: Wegmarken, Frankfurt 1996, S. 445-480 [1961]

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787) (zitiert als KrV)

Chong-Fuk Lau: Hegels Urteilskritik, München 2004

Georg Picht: Aristoteles' »De Anima«, Stuttgart 1992

Georg Picht: Von der Zeit, Stuttgart 1999

Friedrich Wilhelm Josef Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit
in: Schellings sämmtliche Werke, Stuttgart und Augsburg 1860, Bd. VII [1809]

2014

 


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