Walter Tydecks

 

Die Sphäre des Begriffs und die Logik der Sphäre

Vortrag beim 30. Internationalen Hegel Kongress, Wien 23.-26. April 2014

erschienen in: Andreas Arndt, Brady Bowman, Myriam Gerhard, Jure Zovko (Hg.): Hegel-Jahrbuch, Band 2016, Heft 1, Berlin/Boston 2017, Seiten 447-452,

Einleitung

Ich freue mich sehr, in Wien über Logik sprechen zu können. Von Deutschland aus gesehen ist Wien die Grenze zur Weite und Wildheit des Ostens, und die Stadt der Musik. Für mich ist es die Stadt Schuberts und das »Ungargassenland«, von dem Ingeborg Bachmann in ihrem Roman Malina sprach.

Mit diesem Beitrag soll gezeigt werden, wie sich von Kant zu Hegel ein Perspektivwechsel der Logik anbahnt, die nicht mehr von den einzelnen Begriffen und ihren Verknüpfungen ausgeht, sondern von den Eigenschaften der Sphäre, in der die Begriffe ihren Ort haben. Es könnte eine Ablösung endlicher, diskreter Kalküle durch ein Feld des Logischen erfolgen, das formal als Verallgemeinerung differenzierbarer Mannigfaltigkeiten von der mathematischen Physik auf die Sphäre der Begriffe dargestellt werden kann. Dort sind Wirkungsprinzipien aufzustellen, die die von Kant eingeführten Maximen fortführen. Sphäre des Begriffs, das ist in Wien ohne Frage auch mit Wittgenstein und dem Wiener Kreis verbunden, sowie der abstrakten Physik etwa eines Boltzmann.

Der Ausdruck »Sphäre des Begriffs« geht auf Kant zurück. Nach Widerlegung aller Trugschlüsse der reinen Vernunft will Kant ihre Aufgabe neu definieren. Die Vernunft verrennt sich, wenn sie »über das Feld möglicher Erfahrungen hinausführen will« und bekommt als einzige Aufgabe, »dem Verstande sein Feld (zu bereiten)« (KrV, B 670, B 685). Dies Feld wird mehr oder weniger synonym als »Sphäre des Begriffs« oder als »Horizont« bezeichnet. »Man kann einen jeden Begriff als einen Punkt ansehen, der, als der Standpunkt eines Zuschauers, seinen Horizont hat, d.i. eine Menge von Dingen, die aus demselben können vorgestellet und gleichsam überschauet werden« (KrV, B 686).

In diesem Beitrag sollen drei Eigenschaften der Sphäre des Begriffs entwickelt werden, die auseinander hervorgehen:

(1) Die Sphäre ist gekrümmt. Diese Einsicht geht auf Kant zurück und wird von Hegel in der Reflexionslogik vertieft.
(2) Die Sphäre ist von flüssiger Natur. Sie hat eine eigene Materialität, die von Hegel als Medium bezeichnet und mit dem Wasser verglichen wird.
(3) Das Medium ist verborgen in seiner Transparenz und Krümmung, deren singuläre Punkte sich dem Sichtbaren entziehen. Es erscheint jedoch in Eigenschwingungen, deren Klänge, Aufleuchten und Resonanz zu spüren sind. Wo ließe sich besser über die Musik und die Musikalität der Sphäre des Begriffs sprechen als in Wien?

Am Begriff des Mediums wird sich zeigen, wie sich bei Kant und Hegel zwei Wege trennen: Entweder wird mit Kant davon ausgegangen, dass sich die Sphäre des Begriffs aus Worten der Philosophie zusammensetzt, die anders als die Zeichen der Mathematik »niemals zwischen sicheren Grenzen« stehen (KrV, B 756) und sich um einen für den Menschen unsichtbaren focus imaginarius krümmen (KrV, B 672). – Oder es wird umgekehrt mit Hegel angenommen, dass der Mensch im Denken und damit in der Bewegung seiner Begriffe sein Medium selbst schaffen und den Begriffen volle Objektivität verleihen kann. Das Medium ist für Hegel in seinem Verständnis der »Sphäre des Begriffs« [1] der entscheidende Durchgangspunkt, um mit dem absoluten Wissen ein Wort zu erreichen, das »sich vollkommen durchsichtig ist und bleibt« (HW 6.550).

Die Sphäre des Begriffs entsteht aus disjunktiven und hypothetischen Urteilen

(a) Kant führt die Sphäre des Begriffs mit dem disjunktiven Urteil ein. Aus disjunktiven Urteilen wie z.B. ›die Rose ist rot oder gelb oder blau ...‹ entsteht der Möglichkeitsraum, welche Merkmale einer Sache zugeschrieben werden können [2]. Der Möglichkeitsraum ist das Äußere, die Gesamtheit der Zustände, die Oberfläche des Begriffs [3]. Dem entspricht der Lösungsraum in der Mathematik und der Zustandsraum in der Quantenmechanik [4]. Kant sieht den Trugschluss des disjunktiven Urteils darin, dass angenommen wird, dass sich innerhalb der Gesamtheit der Merkmale auch die Realität (die Existenz) befindet. Er lehnt den ontologischen Gottesbeweis ab und schließt die Realität aus der Sphäre eines Begriffs aus [5]. Das Sein ist für ihn kein Prädikat innerhalb der Sphäre des Begriffs, sondern die Position des Begriffs und seiner Sphäre [6]. Damit eröffnet er die Möglichkeit, auch Begriffe einzuführen, die keine Realität haben, sondern nur Setzungen innerhalb des Denkens sind. Zum Beispiel schließen sich in der Physik Welle und Teilchen gegenseitig aus, aber jeder dieser Begriffe hat seine eigene Sphäre und die Physik kann sich frei entscheiden, ob und wie sie mit solchen Begriffen arbeiten will.

(b) Aus hypothetischen Urteilen nach dem Muster ›wenn p dann q‹ entstehen Schlussketten, was aus einem gegebenen Begriff gefolgert werden kann. Damit entstehen im semantischen Netz aller Begriffe Verwandtschaften: Zwei Begriffe sind miteinander verwandt, wenn der eine aus dem anderen oder beide wechselweise auseinander gefolgert werden können [7] . In diesem Sinn kann als Sphäre des Begriffs die Gesamtheit aller mit diesem Begriff verwandten Begriffe verstanden werden. Ähnlich den Übergangswahrscheinlichkeiten in der Physik können Verwandtschaften gewichtet werden: Manche Begriffe lassen sich einfacher und logisch strenger auseinander folgern, bei anderen ist das nur in bestimmten Situationen möglich. Die Verwandtschaften der Begriffe lassen sich im Sinne von Hegel als Wahlverwandtschaften verstehen [8] .

Die Sphäre des Begriffs ist gekrümmt

Lokal ist die Sphäre eben. Der Verstand glaubt, von seinem Punkt aus alles wie in einer Ebene sehen zu können. Er möchte idealerweise einen einzigen Begriff finden, von dem aus alles erschlossen werden kann. Diese Vision wurde für Kant durch zwei Ereignisse erschüttert: Mit der kopernikanischen Wende zeigte sich die Relativität des Standorts, als das geozentrische Weltbild zugunsten des heliozentrischen Weltbildes verlassen werden musste. Möglicherweise noch wichtiger war die Einführung des Begriffs der negativen Größen in die Weltweisheit. Mit ihnen wurde klar, dass es Entgegensetzungen von Begriffen geben kann, wobei der eine Begriff die negative Größe des anderen ist. Beide sind einander gleichwertig und können nicht aufeinander zurückgeführt werden. Es genügt, an die von Kant genannten Beispiele zu erinnern wie Osten und Westen, Anziehung und Abstoßung, hin und zurück, Soll und Haben.

Liegen einander entgegengesetzte Begriffe vor, dann kommt es in ihrer gemeinsamen Sphäre zu Indifferenz- und Gleichgewichtspunkten [9], an denen sie sich gegenseitig neutralisieren. An diesen Stellen entsteht eine Unbestimmtheit, die lokal nicht aufzulösen ist. Sie müssen als Extremwerte (Krümmung, Feldstärke) eines umgebenden Feldes bestimmt werden. Kant konnte auf Beispiele aus der neuzeitlichen Mathematik und Physik zurückgreifen und sie auf die Betrachtung der Sphäre des Begriffs übertragen.

Ohne weitere Erläuterung schreibt er, dass die Sphäre des Begriffs »nicht etwa eine unbestimmbar-weit ausgebreitete Ebene« ist, sondern die Eigenschaft einer »Krümmung« hat (KrV B 790).

In der Literatur habe ich nur bei Georg Picht einen Deutungsansatz gefunden. Er sieht die zugrundeliegende Bewegung in der Zeit und – um es bewusst paradox zu formulieren – den Horizont der Sphäre des Begriffs seinerseits im Horizont der Zeit. Das möchte ich aufgreifen und fortführen. Alle Urteile sind zeitliche Prozesse. Während des Urteilens vergeht Zeit. Die Urteile übernehmen nicht nur die Eigenschaften der Zeit (Beharrlichkeit, Kausalität, Wechselwirkung), sondern für die Gesamtheit der Urteile gelten auch die Eigenschaften des Bewegungsverlaufes der Zeit. Weil die in Zyklen verlaufende Zeit gekrümmt ist, ist auch die innerhalb des Horizonts der Zeit liegende Sphäre des Begriffs gekrümmt. Sie übernimmt deren zyklische Wiederholungsschleifen. Das ist die Ursache, weswegen in der Sphäre des Begriffs wiederkehrende Regeln und Algorithmen gefunden werden können, mit denen unendliche Progressionen von Schlussketten und Aufzählungen von Möglichkeiten vermieden werden. Das bedeutet, dass die Eigenschaften der Urteile und Schlüsse, ihre Notwendigkeit und Wiederholbarkeit, nicht innerhalb der Sphäre des Begriffs begründet sind, sondern in einem außer ihnen liegenden Punkt, den Kant focus imaginarius nennt. Mit der Krümmung wird gegenüber der eindimensionalen inneren Richtung innerhalb der Urteile und Schlüsse eine höhere Potenz erreicht, deren Grund dem Verstand verschlossen bleibt, ohne die er sich aber ins Uferlose verlieren würde [10] [11] .

Hegel greift diesen Gedanken auf. Er zeigt, wie die Lehre vom Sein in Indifferenzen zwischen dem Substrat und seinen Zuständen mündet, worauf die Reflexionslogik eine Antwort gibt. Dort werden bei Hegel nicht nur die Entgegensetzungen bestimmter positiver und negativer Größen betrachtet, sondern die Entgegensetzung des an sich Positiven und an sich Negativen. Wird der Gegensatz in dieser Weise auf die Spitze getrieben, dann kommt es zum »rastlose(n) Verschwinden der Entgegengesetzten« in der »Null«, in der eine neue Bewegung in den Grund erfolgt, die Hegel als »Untergang« bezeichnet [12]. An dieser Stelle soll die Bemerkung genügen, dass Hegel damit eine neue Bewegungsrichtung konstituiert sieht, die senkrecht zur Achse der aufeinander verweisenden Entgegensetzung des Positiven und Negativen steht. Während Kant und Picht die Krümmung der Sphäre des Begriffs aus der diese Sphäre umfassenden, gekrümmten Zeit erklären, sieht Hegel die einander Entgegengesetzten auf einer Oberfläche liegen, die ihr Zentrum in ihrem gemeinsamen Grund hat. (Siehe dazu ausführlicher den Beitrag zu Hegels Begriff des höheren Widerspruchs.)

Das Flüssigsein (Fluidität) des Mediums

Wenn die Sphäre des Begriffs gekrümmt ist, muss sie von einem Stoff erfüllt sein, der sich krümmen kann. Wird eine Krümmung rein geometrisch beschrieben, dann ist dies Bild dennoch eben und nicht gekrümmt. Das geometrische Bild kann auf einer ebenen Buchseite, Wandtafel oder an einem Bildschirm dargestellt werden. Es  zeigt  nur eine Krümmung. Die Krümmung entsteht erst, wenn es einen materiellen Zusammenhalt [13] gibt, der sich krümmt. Die Fähigkeit, sich krümmen zu können, kann als Flüssigsein (Fluidität) bezeichnet werden. Schelling sprach vom Band. Das Band mit seiner flatternden Beweglichkeit ist ein anderes Bild für die Eigenschaft, dass sich etwas krümmen kann.

Der sich krümmende Stoff wird als Medium bezeichnet. Sowohl Kant wie Hegel hatten den faszinierenden Gedanken, dies Medium aus einer Betrachtung der Figuren der formalen Logik abzuheben. Der gesuchte Stoff ist das Medium, in dem Begriffe durch Urteile und Schlüsse miteinander verknüpft und auseinander entwickelt werden. Im elementarsten Fall war mit dem Medium nur ein vermittelnder dritter Begriff gemeint, der terminus medius, mithilfe dessen von einem Begriff auf einen anderen geschlossen werden kann [14] [15] . Schon Kant ging darüber hinaus, als er nicht nur für jeden einzelnen Schluss nach dem vermittelnden Begriff fragte, sondern übergreifend in der Zeit das »Medium aller synthetischen Urteile« sah [16]. Darauf bezieht sich Picht in seiner Deutung.

Hegel kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Bereits in der Phänomenologie des Geistes bezeichnet er metaphorisch das Erkennen als das Medium, in dem das Licht der Wahrheit aufscheinen kann [17] [17b]. In der Begriffslogik entwickelt er nahezu mathematisch einen Grenzübergang, der von den einzelnen Verknüpfungen der Urteile und Schlüsse zum Medium führt, in dem sich die Unendlichkeit aller Verknüpfungen darstellen lässt. [18] . Dies Medium ist für ihn die Sprache, die er ausdrücklich mit dem Wasser vergleicht, d.h. dem Medium, in dem die chemischen Reaktionen erfolgen. [19] [20] [21].

Mit der Flüssigkeit des Wassers ist das maßgebliche Bild gefunden, um die Materialität der Sphäre des Begriffs zu erkennen. Das Medium stellt einen übergreifenden Zusammenhalt her, ohne den alle Versuche, Begriffe miteinander zu verknüpfen, im Leeren hängen bleiben würden und haltlos blieben. [22] [23].

Die Verborgenheit und der Klang des Mediums

Das Medium der Sphäre des Begriffs und seine Bewegungen sind kaum zu erkennen, da sie sich auf charakteristische Weise verbergen. Das ideale Medium ist transparent, d.h. durchsichtig und nicht für sich erkennbar, und es ist auf eine Weise gekrümmt, deren Fluchtpunkte sich dem Blick entziehen.

(a) Transparenz. Die Sphäre des Begriffs soll erstens in dem Sinn transparent sein, dass vom Standort des Begriffs aus alles klar und deutlich zu sehen ist, was mit ihm verwandt ist. Und sie soll zweitens in dem Sinn transparent sein, dass die zusammenhaltende Wirkung, d.h. die Materialität des Mediums sich selbst gewissermaßen unsichtbar macht, so wie idealerweise eine völlig lichtdurchlässige Glas-, Wasser- oder Luftschicht nicht ihrerseits zu sehen ist, sondern alles unverfälscht durchscheinen lässt. Es war daher eine der ersten und größten Leistungen der Philosophie, sich dieses verborgenen Zusammenhangs bewusst zu werden und die Erkenntnisse des Denkens entsprechend zu relativieren. Das Medium bewegt sich in einem Wechselspiel von Hell und Dunkel [24].

(b) Die Erkenntnis der Transparenz muss immer wieder neu gegen wissenschaftliche Erfolge verteidigt werden, die glauben, den Sachen endgültig nahe gekommen zu sein. Doch die wissenschaftlichen Erfolge stoßen ihrerseits grundsätzlich in innere Paradoxien. Beim Aufbau umfassender Weltbilder lässt sich nie die Existenz von Singularitäten ausschließen. Das sind Punkte, in deren Umgebung das Medium so stark gekrümmt ist, dass sie nach außen unsichtbar werden. Das Tückische ist, dass das vom jeweils lokalen Standort der Begriffe nicht erkennbar ist, denn lokal erscheint alles flach und eben. Erst aus einer Gesamtübersicht ist zu schließen, dass prinzipiell die Existenz von Löchern nicht ausgeschlossen werden kann. Siehe dazu die Diskussion des Locharguments, die seit Einstein und Hilbert geführt wird und keine Lösung gefunden hat [25]. In der Konsequenz bedeutet das, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Informationen im Medium endlich sein muss, denn andernfalls würden die Singularitäten zu einer völligen Auflösung des Mediums führen. Ihre Wirkung kann nur dadurch eingegrenzt werden, dass sie sich in Zonen befinden, die von anderen Gebieten aus unerreichbar sind oder in ihren Wirkungen vernachlässigbar bleiben. Das bedeutet, dass das Medium an diesen Stellen undurchdringlich und die volle Transparenz nicht einzuhalten ist.

(c) Resonanz. Letztlich können die Transparenz und Singularitäten nur indirekt erschlossen werden aus übergreifenden Resonanzen, die in der Sphäre des Begriffs auftreten. Dies ist keineswegs nur ein kosmologisches Phänomen, wenn etwa die Existenz eines Schwarzen Loches aus den Bewegungen der Himmelskörper in seiner Umgebung erkannt wird, sondern wurde von Hegel für die Logik entdeckt. Er wollte mit dem spekulativen Satz die starren Sätze aufbrechen und zum Schwingen bringen. Sie sollen nicht einzeln widerlegt oder in ihrer Beschränktheit kritisiert werden, sondern sie werden auf eine Art und Weise gegeneinander gestellt, dass sie in Bewegung geraten und einen Ton erzeugen. Sie beginnen zu schwingen. »Der Rhythmus resultiert aus der schwebenden Mitte und Vereinigung beider.« [26] [27] [28]. Jeder Begriff enthält einen Grundton, in dem das mit ihm Ein- und Ausgegrenzte zu hören, aber nicht mehr zu begreifen ist. An dieser Stelle geht für mich Philosophie in Poesie über.

Durch Rhythmus und Metrum kommen die verschiedenen Sätze in Wechselwirkung miteinander. Kein Begriff kann mit seinem Standort beanspruchen, von sich aus alles übersehen zu können.

Positiv verstanden lässt sich die Resonanz des Mediums deuten als Kommunikation, ohne die die Sphäre des Begriffs weder zu konstruieren noch zu erhalten ist. Die Resonanz ist die Eigenschaft, die der Kommunikation zugrunde liegt und ihr Gelingen ermöglicht. Jedes gute Gespräch entwickelt eine Eigendynamik, die über das hinausgeht, was jeder zuvor für sich allein hätte denken können. Wer glaubt, sich ihr entziehen oder über sie stellen zu können, wurde von Kant mit fast groben Worten als »Cyclop« und »einäugiger Egoist der Wissenschaft« abgekanzelt [29] [30]. Jeder Begriff und seine Sphäre müssen kommunizierbar und dem freien Gespräch zugänglich sein. Josef Simon sprach daher von der »kommunikativen Deutlichkeit« der Sprache der Philosophie, die an die Stelle einer letztgültigen, starren Deutlichkeit der Ideen tritt [31] .

Schlusswort

Wer das missachtet, sei an die Warnung von Sokrates erinnert, beim direkten Blick in die Sonne geblendet zu werden [32]. In dieser Gefahr sehe ich die Philosophie von Hegel. Sein Denken droht sich absolut zu setzen. Die Philosophie bedarf eines Anderen, von dem sie ihre Kraft erhalten kann.

Daher möchte ich schließen mit einem Auszug aus Die wunderliche Musik von Ingeborg Bachmann:

»Was ist dieser Klang, der dir Heimweh macht?
Wie kommt's, daß du in deinen Todesstunden wieder nach der Nachtigall rufst? [...] Und die Nachtigall sagt: 'Tränen haben deine Augen vergossen, als ich das erstemal sang!' So dankt sie dir noch, der du zu danken hast, denn sie vergißt es dir nie. [...]
Was ist dieser Akkord, mit dem die wunderliche Musik ernst macht und dich in die tragische Welt führt, und was ist seine Auflösung, mit der sie dich zurückholt in die Welt heiterer Genüsse? Was ist diese Kadenz, die ins Freie führt? [...]
Was hörst du noch, weil du mich nicht hören kannst, wenn die Musik zu Ende ist?
Was ist es?!
Gib Antwort!
»Still!«
Das vergesse ich dir nie.«

 


 

Anmerkungen

[1] Sphäre des Begriffs bei Hegel

Hegel versteht die drei Teile der Wissenschaft der Logik als drei Sphären. Das zeigt sich bereits in seiner »Allgemeinen Einteilung des Sein«:

»Nach der ersten Bestimmung teilt das Sein sich gegen das Wesen ab, indem es weiterhin in seiner Entwicklung seine Totalität nur als eine Sphäre des Begriffs erweist und ihr als Moment eine andere Sphäre gegenüberstellt« (HW 5.79f, ähnlich auch HW 5.121)

In diesem Sinn sind die Sphäre des Seins und die Sphäre des Wesens zwei Sphären des Begriffs, bevor dann in der subjektiven Logik oder Lehre des Begriffs die Sphäre des Begriffs für sich betrachtet wird.

Die Sphäre des Begriffs wird gegenüber den Sphären des Seins und des Wesens als die höhere Sphäre angesehen, wie explizit eine Formulierung im Kapitel über das kategorische Urteil zeigt: »Die Substanz aber, in die Sphäre des Begriffs erhoben, ist das Allgemeine« (HW 6.392).

Diese Aufteilung in drei Sphäre wird innerhalb der Begriffslogik an entscheidender Stelle zitiert, wenn Hegel den zweiten Abschnitt einleitet, der über die Objektivität handelt. Dort findet sich wiederum in der Mitte das Kapitel über den Chemismus, in dem Hegel seinen Begriff des Mediums entwickelt.

»Es sind, wie bereits erinnert worden, schon mehrere Formen der Unmittelbarkeit vorgekommen, aber in verschiedenen Bestimmungen. In der Sphäre des Seins ist sie das Sein selbst und das Dasein, in der Sphäre des Wesens die Existenz und dann die Wirklichkeit und Substantialität, in der Sphäre des Begriffs außer der Unmittelbarkeit als abstrakter Allgemeinheit nunmehr die Objektivität« (HW 6.406, siehe auch HW 6.312).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass für Hegel die Sphäre des Begriffs das Gebiet ist, von dem die Wissenschaft der Logik handelt, nicht mehr und nicht weniger. Damit übernimmt er grundsätzlich den Anspruch von Kant, dass mit der Sphäre des Begriffs die Vernunft dem Verstand das Feld bereitet. Er weicht jedoch an entscheidender Stelle von Kant ab, wenn er entgegengesetzt zu Kant das Dasein, die Existenz und die Objektivität innerhalb des Sphäre des Begriffs sieht. Aus Sicht von Kant verfällt er damit dem transzendentalen Schein. Siehe dazu auch die Anmerkung [6] zu Kants Unterscheidung in Prädikate und Position eines Dings.

Eine ähnliche Einschätzung der Philosophie von Hegel vertritt Picht:

»In Hegels 'Phänomenologie des Geistes' hat jede Gestalt des Bewußtseins ihren Horizont. Aber durch dessen Negativität wird sie über sich hinausgetrieben, bis das Bewußtsein schließlich einen Punkt erreicht, 'auf welchem es seinen Schein ablegt, mit Fremdartigem, das nur für es und als ein Anderes ist, behaftet zu sein, oder wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird' (HW 3.81). Dann ist es ein Wissen ohne Horizont. Es ist ein unendliches, ein absolutes Wissen« (Picht, Von der Zeit, S. 86).

»Das Herauslösen des Absoluten aus der Zeit, also die 'Ewigkeit' des Absoluten, enthüllt sich als transzendentaler Schein, sobald das Denken sich genötigt sieht, Bewegung in das Absolute eindringen zu lassen. Deshalb hat kein Hegel-Interpret ernsthaft versucht, seine 'Logik' wirklich als das Sich-selbst-Darstellen der ewigen Gedanken Gottes aufzufassen. Man las dieses Werk immer als das, was es ist: die unter bestimmten, unwiederholbaren geschichtlichen Bedingungen möglich gewordene, geniale Leistung eines professor aus Berlin. So durchsichtig ist der transzendentale Schein, von dem man sich doch so gerne blenden ließ! Aber die wahre Größe von Hegels Philosophie kommt erst heraus, wenn man sie aus dem Bann dieses Scheins befreit. Ihr Erfahrungsgehalt ist nicht das Sich-selbst-Begreifen des Absoluten, sondern die Negativität alles Geschichtlichen« (Picht, Von der Zeit, S. 405).

[2] Sphäre des Begriffs und disjunktives Urteil bei Kant

Kant führt sein Verständnis der Sphäre des Begriffs im »Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe« mit der Urteilstafel ein. Nachdem er die Urteilstafel aufgestellt hat, geht er in mehreren »Verwahrungen« gegen mögliche Missverständnisse auf die Frage der Unendlichkeit beim Urteilen ein. Mit der Sphäre des Begriffs ist nicht einfach die Zusammenfassung einer endlichen Anzahl von Auswahlmöglichkeiten gemeint, wie z.B. alle Farben, die eine Rose annehmen kann, sondern eine unendliche Menge von Möglichkeiten, von denen empirisch nur ein endlicher Ausschnitt bekannt sein kann. Mit der Sphäre des Begriffs wird ein Sprung vollzogen, der von einer endlichen Erfahrung zu einer unendlichen Menge führt, der Sphäre, und formal dem Induktions-Axiom in der Mathematik entspricht.

Nicht ohne Bedacht wählt Kant als Beispiel für das unendliche Urteil, dass die Seele nichtsterblich ist. Mit diesem Urteil wird der Schluss vorbereitet, dass der Mensch die Unendlichkeit überschauen kann, weil seine Seele nichtsterblich ist.

»Eben so müssen in einer transzendentalen Logik  unendliche Urteile  von  bejahenden  noch unterschieden werden, wenn sie gleich in der allgemeinen Logik jenen mit Recht beigezählt sind und kein besonderes Glied der Einteilung ausmachen. Diese nämlich abstrahieret von allem Inhalt des Prädikats (ob es gleich verneinend ist) und sieht nur darauf, ob dasselbe dem Subjekt beigelegt, oder ihm entgegengesetzt werde. Jene aber betrachtet das Urteil auch nach dem Werte oder Inhalt dieser logischen Bejahung vermittelst eines bloß verneinenden Prädikats, und was diese in Ansehung des gesamten Erkenntnisses für einen Gewinn verschafft. Hätte ich von der Seele gesagt, sie ist nicht sterblich, so hätte ich durch ein verneinendes Urteil wenigstens einen Irrtum abgehalten. Nun habe ich durch den Satz: die Seele ist nicht sterblich, zwar der logischen Form nach wirklich bejahet, indem ich die Seele in den unbeschränkten Umfang der nicht sterbenden Wesen setze. Weil nun von dem ganzen Umfange möglicher Wesen das Sterbliche einen Teil enthält, das Nichtsterbende aber den andern, so ist durch meinen Satz nichts anders gesagt, als daß die Seele eines von der unendlichen Menge Dinge sei, die übrig bleiben, wenn ich das Sterbliche insgesamt wegnehme. Dadurch aber wird nur die unendliche Sphäre alles Möglichen in so weit beschränkt, daß das Sterbliche davon abgetrennt, und in dem übrigen Umfang ihres Raums die Seele gesetzt wird. Dieser Raum bleibt aber bei dieser Ausnahme noch immer unendlich, und können noch mehrere Teile desselben weggenommen werden, ohne daß darum der Begriff von der Seele im mindesten wächst, und bejahend bestimmt wird. Diese unendliche Urteile also in Ansehung des logischen Umfanges sind wirklich bloß beschränkend in Ansehung des Inhalts der Erkenntnis überhaupt, und in so fern müssen sie in der transzendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den Urteilen nicht übergangen werden, weil die hierbei ausgeübte Funktion des Verstandes vielleicht in dem Felde seiner reinen Erkenntnis a priori wichtig sein kann« (KrV, B 96-98).

Kant führt das an dieser Stelle nicht weiter aus, sondern spricht direkt von der »unendlichen Sphäre alles Möglichen« (KrV, B 97). Da es ihm hier um die »bloße Verstandesform« aller Urteile unabhängig von ihrem Inhalt geht, entwickelt er sein Verständnis der Sphäre des Begriffs formal aus dem disjunktiven Urteil:

»Endlich enthält das disjunktive Urteil ein Verhältnis zweier, oder mehrerer Sätze gegen einander, aber nicht der Abfolge, sondern der logischen Entgegensetzung, so fern die Sphäre des einen die des andern ausschließt, aber doch zugleich der Gemeinschaft, in so fern sie zusammen die Sphäre der eigentlichen Erkenntnis ausfüllen, also ein Verhältnis der Teile der Sphäre eines Erkenntnisses, da die Sphäre eines jeden Teils ein Ergänzungsstück der Sphäre des andern zu dem ganzen Inbegriff der eingeteilten Erkenntnis ist, z. E. die Welt ist entweder durch einen blinden Zufall da, oder durch innre Notwendigkeit, oder durch eine äußere Ursache. Jeder dieser Sätze nimmt einen Teil der Sphäre des möglichen Erkenntnisses über das Dasein einer Welt überhaupt ein, alle zusammen die ganze Sphäre. Das Erkenntnis aus einer dieser Sphären wegnehmen, heißt, sie in eine der übrigen setzen, und da gegen sie in eine Sphäre setzen, heißt, sie aus den übrigen wegnehmen. Es ist also in einem disjunktiven Urteile eine gewisse Gemeinschaft der Erkenntnisse, die darin besteht, daß sie sich wechselseitig einander ausschließen, aber dadurch doch  im Ganzen  die wahre Erkenntnis bestimmen, indem sie zusammengenommen den ganzen Inhalt einer einzigen gegebenen Erkenntnis ausmachen« (KrV, B 98f, vgl. auch B 112f).

Abschließend bleibt anzumerken, dass das disjunktive Urteil in doppelter Weise gebraucht wird. Die Urteilstafel mit ihrer Aufzählung aller Urteile ist ihrerseits ein disjunktives Urteil (›Urteile sind allgemein oder besonders oder ... oder disjunktiv oder problematisch oder ...‹) und enthält im Innern als eins der Urteile das disjunktive Urteil. So hat Kant die Sphäre des Begriffs mit dem disjunktiven Urteil in mehrfacher Hinsicht kunstvoll selbstbezüglich vorbereitet.

[3] Gesamtheit aller Zustände eines Substrats

Hegel betrachtet das disjunktive Urteil erst in der Begriffslogik, aber es gibt in der Lehre vom Sein einen wichtigen Vorläufer. Die Lehre des Seins ist im Ganzen entsprechend der Kategorientafel und damit der ihr zugrundeliegenden Urteilstafel von Kant aufgebaut. Allerdings beginnt Hegel nicht mit der Quantität, sondern der Qualität. Auf Quantität und Qualität folgt bei ihm das Maß, mit dem er die Kategorien der Relation und der Modalität aus der Urteilstafel von Kant aufnimmt. Innerhalb der Kategorie der Relation steht bei Kant das disjunktive Urteil. Hegel übersetzt die Relation in die Wahlverwandtschaften: Zwei Dinge stehen in Relation zueinander, wenn sie wahlverwandt sind, d.h. im Beispiel chemischer Stoffe, wenn sie miteinander reagieren können. Die Wahlverwandtschaften können wiederum in verschiedenen Zuständen auftreten, denen ein gemeinsames Substrat zugrundeliegt. Das wichtigste Beispiel ist das Wasser mit den Zuständen Eis, Flüssigkeit und Dampf. Chemische Stoffe reagieren sehr unterschiedlich miteinander, wenn sie in Eis, Flüssigkeit oder Dampf gelöst sind, und auch innerhalb des flüssigen Wassers gibt es Unterschiede abhängig von der Temperatur des Wassers.

Die Gesamtheit der Zustände eines Substrats wird von Hegel jedoch nicht als Sphäre des Substrats bezeichnet, sondern als »formelle Totalität« und »bloße Ordnung« (HW 5.445). McTaggart führt hierfür den Begriff der Oberfläche (surface) ein, den Hegel jedoch nicht gebraucht (McTaggart, Chapter 99). Die Zustände bilden die Oberfläche des Substrats. Formal entspricht dem Verhältnis des Substrats zu seinen Zuständen ein disjunktives Urteil: ›das Substrat S kann sich im Zustand P oder Q oder ... befinden‹.

[4] Lösungsraum in der Mathematik und Zustandsraum in der Quantenmechanik

In der Mathematik wird der Lösungsraum rein formal definiert. Er umfasst die Gesamtheit der Lösungen einer Aufgabe. Es bleibt offen, ob und welche Lösungen tatsächlich existieren. Zum Beispiel umfasst der Lösungsraum der Aufgabe, einen Kreis mithilfe von Lineal und Zirkel in ein Quadrat umzuwandeln, alle Ketten von Konstruktions-Schritten, mit denen diese Aufgabe gelöst werden kann. Lange war unklar, ob der Lösungsraum leer ist – also keine Lösung existiert –, oder ob es genau eine oder endlich viele oder sogar unendlich viele verschiedene Lösungswege gibt. Diese Frage blieb solange ungeklärt, bis Evariste Galois (1811-1832) die Fragestellung umkehrte und nach den Eigenschaften des Lösungsraums und der Lösungswege fragte. Mit diesem Ansatz konnte er zeigen, welche Eigenschaften jeder Lösungsweg haben muss und warum es keinen Lösungsweg geben kann, der diese Eigenschaften hat. Damit hat er eine Methode gefunden, Fragen der Berechenbarkeit und Lösbarkeit zu beantworten, ohne einzelne Lösungswege analysieren zu müssen. Dieser Methodenwechsel kann als die größte Umwälzung der Mathematik seit Euklid angesehen werden und hat von einer Mathematik, die an bestimmten Aufgaben orientiert war, zu einer Struktur-Mathematik geführt.

Nach diesem Vorbild wurde auch die Physik umgewälzt, und hier ist insbesondere der Physiker Ludwig Boltzmann (1844-1906) zu würdigen. Es werden nicht mehr einzelne beobachtete Bewegungsverläufe beschrieben und möglichst allgemein dargestellt, sondern es wird ein Zustandsraum entworfen, der rein formal alle Möglichkeiten enthält, die ein bestimmtes physikalisches Objekt annehmen kann. Es wird nicht gefragt, mit welchem Bewegungsverlauf ein physikalisches Objekt diesen Zustand erreichen kann, sondern es wird die Gesamtheit aller Zustände betrachtet, die bestimmten Eigenschaften genügen. Daher werden auch solche Zustände zugelassen, die innerhalb der klassischen Mechanik als »verboten« galten, da kein Weg beschreibbar war, wie ein Objekt in diese Zustände gelangen kann. Solche Wege kennt die Quantenmechanik nicht und spricht bei Übergängen in diese Zustände von »Tunneleffekten«. Statt die Wege zu betrachten, wie von einem Zustand in einen anderne gelangt werden kann, werden Eigenschaften des Raums aller möglichen Zustände betrachtet. Auf dieser Ebene liegen die Erkenntnisse von Boltzmann, die seither das physikalische Denken prägen.

[5] Begriffsanalyse und Erfahrung der Realität

Kant unterscheidet sorgfältig zwischen der logischen Einteilung des Begriffs und der Realität. Jeder Begriff enthält im Innern eine logische Einteilung, wodurch die Sphäre dieses Begriffs umschrieben wird. Seine Realität dagegen kann nicht durch Begriffsanalyse, sondern nur durch Erfahrung gewonnen werden.

»Die logische Bestimmung eines Begriffs durch die Vernunft beruht auf einem disjunktiven Vernunftschlusse, in welchem der Obersatz eine logische Einteilung (die Teilung der Sphäre eines allgemeinen Begriffs) enthält, der Untersatz diese Sphäre bis auf einen Teil einschränkt und der Schlußsatz den Begriff durch diesen bestimmt. Der allgemeine Begriff einer Realität überhaupt kann a priori nicht eingeteilt werden, weil man ohne Erfahrung keine bestimmte Arten von Realität kennt, die unter jener Gattung enthalten wären« (KrV, B 605).

[6] Prädikate und Position eines Dinges

Siehe den separaten Text.

[7] Kant zum Prinzip der Affinität

Siehe den separaten Text.

[8] Substrat und Begriff, chemische Sphäre und Sphäre des Begriffs bei Hegel

Werden die Verwandtschaften zwischen Begriffen mit Hegel als Wahlverwandtschaften verstanden, dann entspricht die Sphäre des Begriffs unter diesem Aspekt der von Hegel in der Maßlogik eingeführten »chemischen Sphäre« und genauer der von ihm dort begründeten »bloßen Ordnung« der Verwandtschaften (HW 5.445).

Während Kant in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr von einer Affinität spricht, die zwischen den Dingen besteht, sondern für ihn nur die Vernunft in der Lage ist, eine Affinität zu setzen, gibt es für Hegel einen übergreifenden Geist, der sich sowohl im Materiellen wie im Denken zeigt. Daher kehrt Hegel zu der Position zurück, die Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft vertreten hat und schreibt in unmissverständlicher Deutlichkeit:

»In der chemischen Sphäre hat wesentlich das Materielle seine spezifische Bestimmtheit in der Beziehung auf sein Anderes« (HW 5.420).

Wie zahlreiche von Hegel aufgeführte Beispiele zeigen, ist mit der Beziehung das Reaktionsverhalten chemischer Stoffe gemeint, wie es in der Natur beobachtet und in Experimenten wie auch der chemischen Produktion technisch erzeugt werden kann. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Beziehungen (Wahlverwandtschaft, Affinität) zwischen den Dingen innerhalb der chemischen Sphäre abhängen vom jeweiligen Zustand, in dem sich die Stoffe befinden, siehe dazu Anmerkung [3]. Die chemische Sphäre ist die Gesamtheit des Substrats und seiner Zustände, der Wahlverwandtschaften und der Knotenlinien, entlang derer die Zustände ineinander umschlagen. Es ist offensichtlich, dass die chemische Sphäre »ähnlich aussieht« wie die Sphäre des Begriffs, aber Hegel betont ausdrücklich, dass das Substrat für ihn noch nicht der Begriff ist.

»Aber das spezifizierende Prinzip ist noch nicht der freie Begriff, welcher allein seinen Unterschieden immanente Bestimmung gibt, sondern das Prinzip ist zunächst nur Substrat, eine Materie, für deren Unterschiede, um als Totalitäten zu sein, d. i. die Natur des sich selbst gleich bleibenden Substrats in sich zu haben, nur die äußerliche quantitative Bestimmung vorhanden ist, die sich als Verschiedenheit der Qualität zugleich zeigt« (HW 5.445).

Die chemische Sphäre gehört für Hegel zur Sphäre des Seins und ist daher nur eine Seite der Sphäre des Begriffs. Aber sie befindet sich an dem Punkt, an dem sie übergeht in die Sphäre des Wesens und damit die Sphäre des Begriffs vervollständigt. Während für Kant die Vernunft in ihrer Freiheit dem Verstand die Sphäre des Begriffs bereitet, ist es für Hegel der Begriff selbst, der in seiner Bewegung in der Sphäre des Seins anhebt und schließlich in der Begriffslogik zu sich selbst kommt. Während Kant die Vernunft mit der Fähigkeit versehen sieht, die Sphäre des Begriffs zu setzen, ist für Hegel das begriffliche Denken der Mitvollzug der höheren Bewegung des Begriffs.

[9] Indifferenz und Gleichgewicht bei negativen Größen

Kant erläutert den Unterschied von Indifferenz und Gleichgewicht am Beispiel angenehmer und unangenehmer Gefühle (Lust und Unlust). Wenn angenehme und unangenehme Gefühle noch nicht klar unterschieden werden können und unbestimmt ist, was angenehm und was unangenehm ist, handelt es sich um Indifferenz im Sinne von Gleichgültigkeit. Anders ist es, wenn angenehme und unangenehme Gefühl bereits klar unterschieden sind, aber eine Handlung in gleichem Maß angenehme und unangenehme Folgen haben wird. Dadurch entsteht ein Gleichgewicht zwischen angenehm und unangenehm, in dem nicht entschieden werden kann, ob die Handlung begonnen werden soll oder nicht.

»Der Mangel der Lust so wohl als der Unlust, in so ferne er aus dem Mangel der Gründe hiezu herzuleiten ist, heißt Gleichgültigkeit (indifferentia). Der Mangel der Lust so wohl als Unlust, in so fern er eine Folge aus der Realopposition gleicher Gründe abhängt, heißt das Gleichgewicht (aequilibrium); beides ist Zero, das erstere aber [794] einer Verneinung schlechthin, das zweite eine Beraubung« (Kant, NG, AA 02: 181.22-27).

Ein anderes Beispiel sind die Kräfte. Wer weder Anziehung noch Abstoßung kennt, für den ist diese Unterscheidung gleichgültig. Wenn dagegen auf einen Körper aus zwei entgegengesetzten Richtungen zwei gleich starke, gegeneinander gerichtete Kräfte wirken, befindet er sich in einem Gleichgewicht.

[10] Die Uferlosigkeit der Metaphysik nach Kant

Picht vergleicht die Metapher von der Sphäre des Begriffs mit Ausführungen von Kant zur Uferlosigkeit in der 1790 posthum veröffentlichten Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik.

»Die Grenzbestimmung unserer Erkenntnis, also der Übergang von der unbestimmbaren Fläche der Erfahrungswissenschaft zur Konstruktion eines Modells des globus intellectualis [das Francis Bacon eingeführt hat, t.] wäre die Aufgabe der Metaphysik. Von dieser aber sagt Kant [...]: Sie ist ein uferloses Meer« (Picht, Von der Zeit, S. 67f).

Kant schreibt:

»Die Königliche Academie der Wissenschaften verlangt, die Fortschritte eines Theiles der Philosophie, in einem Theile des gelehrten Europa, und auch für einen Theil des laufenden Jahrhunderts aufzuzählen.

Das scheint eine leicht zu lösende Aufgabe zu seyn, denn sie betrifft nur die Geschichte, und wie die Fortschritte der Astronomie und Chemie, als empirische Wissenschaften, schon ihre Geschichtschreiber gefunden haben, die aber der mathematischen Analysis, oder der reinen Mechanik, die in demselben Lande, in derselben Zeit gemacht worden, die ihrige, wenn man will, auch bald finden werden: so scheint es mit der Wissenschaft, wovon hier die Rede ist, eben so wenig Schwierigkeit zu haben.

»Aber diese Wissenschaft ist Metaphysik, und das ändert die Sache ganz und gar. Dies ist ein uferloses Meer, in welchem der Fortschritt keine Spur hinterläßt, und dessen Horizont kein sichtbares Ziel enthält, an dem, um wieviel man sich ihm genähert habe, wahrgenommen werden könnte. [...] Denn Metaphysik ist ihrem Wesen, und ihrer Endabsicht nach, ein vollendetes Ganze; entweder Nichts, oder Alles. Was zu ihrem Endzweck erforderlich ist, kann also nicht, wie etwa Mathematik oder empirische Naturwissenschaft, die ohne Ende immer fortschreiten, fragmentarisch abgehandelt werden« (Kant, FM, AA 20: 259.12-24).

In der Metaphysik gibt es keine Fortschritte, denn sie  umfasst  nach ihrem eigenen Anspruch die Zeit und damit die Fortschritte. Es wird sich zeigen, dass es in diesem Meer nur eine innere Krümmung gibt. – Picht hat diesen Ansatz im weiteren Verlauf seines Werks Von der Zeit mit Heidegger kritisiert. Nach seiner Überzeugung liefert auch die Metaphysik nur Entwürfe, die innerhalb der menschlichen Geschichte und innerhalb des Horizonts des In-der-Zeit-Seins des Menschen stehen. Sie vermag sich nicht zu über-zeitlichen Begriffen aufzuschwingen. Wenn Hegel das dennoch versucht, kann ihm vorgehalten werden, eine neue Metaphysik zu gründen, die sich den seit Kant gestellten Fragen ausgesetzt sieht. Umgekehrt gibt es für die Hegelianer nach Hegel keinen Fortschritt mehr, sondern einen Stillstand der Philosophie. Sie kann sich darauf beschränken, das Werk Hegels zu interpretieren.

Siehe hierzu auch die Anmerkung [15] zu Nikolaus von Kues.

[11] Deutung der Krümmung der Sphäre durch Picht

»Was ist die Krümmung des Bogens auf der Oberfläche der Sphäre unseres Denkens? Kant hat das in der Klammer durch eine Paranthese erläutert, die zunächst nur die Rätselhaftigkeit der hier gestellten Problems vor Augen führt: Die Krümmung des Bogens auf der Oberfläche unserer Erkenntnisse ist, wie er sagt, die 'Natur der synthetischen Sätze a priori (B 790). Wieso sind synthetische Sätze a priori gekrümmt?« (Picht, Von der Zeit, S. 70).

»Die synthetischen Sätze a priori, das heißt die Grundsätze der reinen Erfahrung, 'stellen also eigentlich die Natureinheit im Zusammenhange aller Erscheinungen unter gewissen Exponenten dar, welche nichts anders ausdrücken, als das Verhältnis der Zeit (so fern sie alles Dasein in sich begreift) zur Einheit der Apperzeption' (B 263). Die Grundsätze des reinen Verstandes sind demnach nichts anderes als die Regeln, nach denen das Verstreichen der Zeit und alles dessen, was in der Zeit sein Dasein hat, auf das verborgene Zentrum der Einheit der Apperzeption zurückbezogen werden können. So sind sie 'die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt'. Das Modell einer unendlichen Fläche, die stets den gleichen Abstand zu einem verborgenen Zentrum hat, ist die Kugel. Deshalb ist es die 'Natur synthetischer Sätze a priori, die Krümmung des Bogens auf der Oberfläche unseres Denkens zu bestimmen« (Picht, Von der Zeit, S. 71).

[12] Indifferenz, Gleichgewicht und Null in der Maß- und Reflexionslogik

Hegel führt in der Maßlogik aus, wie das Substrat indifferent gegenüber seinen Zuständen ist. Er erkennt, dass es zusätzlich zu den beiden von Kant genannten Möglichkeiten der Gleichgültigkeit und des Gleichgewichts eine weitere Möglichkeit gibt, wenn Indifferenz als Erhaltungsgröße verstanden wird. In diesem Fall ist die Indifferenz eine Summe, die im Ganzen unverändert bleibt, sich jedoch im Innern aus zwei Faktoren zusammensetzt, von denen der eine in dem Maße größer wird wie der andere kleiner wird und umgekehrt. Sie stehen im umgekehrten Verhältnis zueinander und erzeugen nach außen hin den Schein der Indifferenz.

In diesem Fall ergibt sich das Gleichgewicht nicht als labile Übereinstimmung zweier gegeneinander wirkender Größen, die sich zu Null saldieren, sondern das Gleichgewicht wird vorausgesetzt, und es bestimmt, dass in jedem Moment des Bewegungsverlaufs die inneren Faktoren der Indifferenz einander genau neutralisieren.

Die Summe ist indifferent gegen die Verteilung ihrer Faktoren. Hier ist an das Beispiel des Pendels zu denken, in dessen Bewegungsverlauf die Energie erhalten bleibt, während sich fortlaufend kinetische Energie in potentielle Energie umwandelt und umgekehrt.

»Jede der beiden Qualitäten, einzeln für sich genommen, bleibt gleichfalls dieselbe Summe, welche die Indifferenz ist: sie kontinuiert sich aus der einen Seite in die andere und wird durch die quantitative Grenze, die dabei in ihr gesetzt wird, nicht beschränkt. Hieran kommen die Bestimmungen in unmittelbaren Gegensatz, welcher sich zum Widerspruch entwickelt, was nun zu sehen ist« (HW 5.449).

Die eine kontinuiert sich in die andere bis die Bewegung wieder umgekehrt. Hier stehen im Ganzen beide Seiten noch »im Gleichgewicht« (HW 5.450).

Mit Kontinuierung und Umkehr gewinnt Hegel aus der Sphäre des Seins und seiner Kategorien neue Begriffe, die nicht mehr zu den Kategorien – den Denkbestimmungen der Sphäre des Seins – gehören, sondern sich als Reflexionsbegriffe erweisen, mit denen über die Kategorien reflektiert wird.

Damit gewinnt Hegel einen anderen Zugang zu den Reflexionsbegriffen als Kant. Hegel findet in den Übergängen der Kategorien ineinander den Punkt, an dem sie über die Sphäre des Seins hinausgehen und zu Reflexionsbegriffen führen. Für Kant ist dagegen die Reflexion eine übergeordnete Betrachtung, mit der es gelingt, sich nicht mehr innerhalb des Verstandes zu bewegen, sondern dessen Tätigkeit im Ganzen zu überschauen.

»Die  Überlegung  (reflexion) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu tun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen, sondern ist der Zustand des Gemüts, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können« (KrV, B 316).

Hegels neue Sicht auf die Reflexionsbegriffe war ihm nur möglich, weil es ihm gelungen ist, nicht nur von den Zuständen des Gemüts zu sprechen (wobei für Kant das »Gemüt« die Übersetzung von anima oder psyche ist), sondern auch innerhalb der in Kategorien gedachten Gegenstände unterschiedliche Zustände eines Substrats zu erkennen. Hegel hat alle einzelnen Elemente des großen Gedankengangs von Kant übernommen und in eine neue Ordnung gebracht.

Während Kant nach einem Schematismus sucht, mit dem die unterschiedlichen Ebenen der Kategorien und der Reflexionsbegriffe miteinander übereinstimmen und diesen in der Zeit findet, mit der sich sowohl die Kategorien der Relation wie die Reflexionsbegriffe verstehen lassen, sucht Hegel innerhalb der Kategorien nach den Begriffen, die überleiten in die Reflexionslogik. Das sind für ihn die Kontinuation und die Umkehr. Sie entstehen bei Betrachtung der inneren Faktoren der Indifferenz und werden im weiteren verstanden als das an sich Positive (die Kontinuation) und das an sich Negative (die Umkehr), das heißt für Hegel als Reflexionsbegriffe. Die Indifferenz zeigt bereits den Widerspruch, aber erst in der Reflexionslogik tritt er hervor. Dies Hervortreten des Widerspruchs ist für Hegel die Bewegung des Begriffs, die aus der Entgegengesetzung in den Grund führt und mit dem Grund die Sache hervortreten lässt, um die es geht.

»In der sich selbst ausschließenden Reflexion, die betrachtet wurde, hebt das Positive und das Negative jedes in seiner Selbständigkeit sich selbst auf; jedes ist schlechthin das Übergehen oder vielmehr das sich Übersetzen seiner in sein Gegenteil. Dies rastlose Verschwinden der Entgegengesetzten in ihnen selbst ist die nächste Einheit, welche durch den Widerspruch zustande kommt; sie ist die Null« (HW 6.67). – »Zunächst geht also der selbständige Gegensatz durch seinen Widerspruch in den Grund zurück« (HW 6.69). – »Der sich widersprechende selbständige Gegensatz war also bereits selbst der Grund; es kam nur die Bestimmung der Einheit mit sich selbst hinzu, welche dadurch hervortritt, daß die selbständigen Entgegengesetzten jedes sich selbst aufhebt und sich zu dem Anderen seiner macht, somit zugrunde geht, aber darin zugleich nur mit sich selbst zusammengeht, also in seinem Untergange, d. i. in seinem Gesetztsein oder in der Negation, vielmehr erst das in sich reflektierte, mit sich identische Wesen ist« (HW 6.70).

[13] syneches nach Parmenides

Nach Parmenides kann es nur ein Sein geben, wenn es ein inneres Zusammenhaltendes gibt. Heute wird Sein dagegen äußerst oberflächlich nur als »Vorhandensein« verstanden.

»Die Welt, der Raum, die Zeit: jedes dieser Worte verweist auf eine Einheit. Dank dieser Einheit bilden Raum und Zeit, wie wir sagen, ein Kontinuum. Dieser Begriff stammt von Parmenides, das griechische Wort heißt to syneches – das Zusammenhaltende. Was Parmenides 'das Seiende' nennt, das definiert er als das Eine, das Zusammenhaltende« (Picht, Anima-Kommentar, S. 382).

Picht bezieht sich auf Fragment 8 von Parmenides. Es ist nur als Zitat innerhalb des Kommentars von Simplikios zur Physik von Aristoteles überliefert:

»Als einzige Aussage des Argument-Weges bleibt: daß es ist; auf diesem Weg gibt es Zeichen sehr viele: daß unentstanden Seiendes und unzerstörbar ist, denn es ist ein Ganzes und Bewegungsloses und nicht erst noch zu Vollendendes; niemals war es, nie wird es sein, da es jetzt ist, alles zugleich, das Eine, kontinuierlich (suneches); denn welche Erzeugung wirst du für es suchen? Wie, woher könnte es wachsen?« (Parmenides, Fragment 8, in deutscher Übersetzung und griechischem Original verfügbar in Link)

Aristoteles hat diesen Begriff übernommen (Met. VII.11 1036b, Phys. V.3 227a) und ebenso Proklos in seinem Euklid-Kommentar (In Eucl., S. 278.9-9.2).

Doch das genügt nicht. Es muss zweitens hinzukommen, dass dasjenige, was als seiend erkannt wird, sich zeigt. Von dem, was sich nie zeigt, kann der Mensch nicht sagen, dass es ist.

»Da-Sein heißt: es ist von sich aus manifest, es präsentiert sich, es kann verifiziert werden. Deshalb setzt auch die moderne Naturwissenschaft voraus: Sein ist seinem Wesen nach Offenbar-Sein. Was heißt aber Offenbar-Sein? Wenn wir von Offenbar-Sein sprechen, denken wir notwendig den Horizont hinzu, in den hinein das Sein sich offenbart. Die Sphäre, in die hinein das sinnlich Wahrnehmbare sich manifestiert, kann die Physik heute beschreiben. Aber wie steht es mit dem Raum im Ganzen? Mit der Zeit im Ganzen? Wie steht es mit der Einheit von Raum und Zeit? Auch die moderne Physik setzt die Einheit von Raum und Zeit notwendig voraus« (Picht, Anima-Kommentar, S. 384). »So ist evident, daß man, wie Parmenides sagt, die Einheit des Seins nicht ohne das geistige Schauen, das heißt (nicht) ohne den Horizont finden kann, in den hinein es sich manifestiert. Das geistige Schauen des Menschen kann hier nicht gemeint sein, denn die Einheit der Welt manifestiert sich auch dort, wo Menschen nicht sind. Es kann nur das geistige Schauen Gottes sein« (ebd., S. 384). »So setzen wir voraus, daß der Mensch die Möglichkeit in sich trägt, an dem Anschauen Gottes, für das das Seiende sich manifestiert, zu partizipieren, und überall, wo das eintritt, gebrauchen wir das Wort 'Wahrheit'« (ebd., S. 385).

Siehe zu Parmenides ferner Anmerkung [24].

[14] Einführung des Terminus Medius bei Hegel

Hegel spricht in der Begriffslogik fortlaufend vom terminus medius. Erstmals wird er im Einleitungskapitel zur Schlusslehre gebraucht und an dieser Stelle mit dem Räumlichen verglichen.

»Der Ausdruck Mitte (medius terminus) ist von räumlicher Vorstellung hergenommen und trägt das Seinige dazu bei, daß beim Außereinander der Bestimmungen stehengeblieben wird. Wenn nun der Schluß darin besteht, daß die Einheit der Extreme in ihm gesetzt ist, wenn diese Einheit aber schlechthin einerseits als ein Besonderes für sich, andererseits als nur äußerliche Beziehung genommen und zum wesentlichen Verhältnisse des Schlusses die Nichteinheit gemacht wird, so hilft die Vernunft, die er ist, nicht zur Vernünftigkeit« (HW 6.353).

[15] Nikolaus von Kues »Über den Beryll« (1458)

Siehe den separaten Text.

[16] Zeit als Medium der synthetischen Urteile

In der einleitenden Passage über den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile versteht Kant die Zeit als das Medium, in dem die Synthesis zweier Begriffe entstehen kann:

»Also zugegeben: daß man aus einem gegebenen Begriffe hinausgehen müsse, um ihn mit einem andern synthetisch zu vergleichen: so ist ein Drittes nötig, worin allein die Synthesis zweier Begriffe entstehen kann. Was ist nun aber dieses Dritte, als das Medium aller synthetischen Urteile? Es ist nur ein Inbegriff, darin alle unsre Vorstellungen enthalten sind, nämlich der innre Sinn, und die Form desselben a priori, die Zeit« (KrV, B 194).

[17] Erkennen als Medium der Wahrheit

Hegel vergleicht in der »Vorrede: Vom wissenschaftlichen Erkennen« zur Phänomenologie des Geistes das Erkennen sowohl mit einem Medium wie mit einem Werkzeug. Ähnlich wie Aristoteles unterscheidet er ein aufnehmendes und ein gestaltendes Erkennen. Das aufnehmende Erkennen ist wie ein »passives Medium«, das gestaltende Erkennen wie ein Werkzeug.

»Oder ist das Erkennen nicht Werkzeug unserer Tätigkeit, sondern gewissermaßen ein passives Medium, durch welches hindurch das Licht der Wahrheit an uns gelangt, so erhalten wir auch so sie nicht, wie sie an sich, sondern wie sie durch und in diesem Medium ist.« (...) »Sie setzt nämlich Vorstellungen von dem Erkennen als einem Werkzeuge und Medium, auch einen Unterschied unserer selbst von diesem Erkennen voraus; vorzüglich aber dies, daß das Absolute auf einer Seite stehe und das Erkennen auf der andern Seite für sich und getrennt von dem Absoluten doch etwas Reelles [sei], oder hiermit, daß das Erkennen, welches, indem es außer dem Absoluten, wohl auch außer der Wahrheit ist, doch wahrhaft sei, – eine Annahme, wodurch das, was sich Furcht vor dem Irrtume nennt, sich eher als Furcht vor der Wahrheit zu erkennen gibt« (HW 3.68,70).

Im weiteren spricht Hegel vom Allgemeinen als Medium (HW 3.94-120,140-142,265,467-477, d.h. in den Kapiteln über sinnliche Gewißheit, Kraft und Verstand, das Gewissen und Gut und Böse). Sehr typisch:

»Die einfache sich selbst gleiche Allgemeinheit selbst aber ist wieder von diesen ihren Bestimmtheiten unterschieden und frei; sie ist das reine Sichaufsichbeziehen oder das Medium, worin diese Bestimmtheiten alle sind, sich also in ihr als in einer einfachen Einheit durchdringen, ohne sich aber zu berühren; denn eben durch die Teilnahme an dieser Allgemeinheit sind [94] sie gleichgültig für sich« (HW 3.94f).

[17b] Spiegelung bei Kant und Hegel nach Bruno Liebrucks

Gespräche mit Bernd Seestaedt im Anschluss an den Wiener Hegel-Kongress haben ergeben, dass der von Hegel in der Phänomenologie des Geistes gebrauchte Begriff des Mediums komplexer zu bestimmen ist.

Siehe hierzu den separaten Text.

[18] Grenzübergang vom Schluss zum Medium bei Hegel

Hegel betrachtet den Fall, wie der Schluss A – B – C (aus den beiden Prämissen A und B wird auf C geschlossen) fortlaufend genauer differenziert werden kann. Hegel sieht hier eine unendliche Progression.

»Die Forderung an die Prämissen lautet daher gewöhnlich, sie sollen bewiesen, d.h. sie sollen gleichfalls als Schlußsätze dargestellt werden. Die zwei Prämissen geben somit zwei weitere [362] Schlüsse. Aber diese zwei neuen Schlüsse geben wieder zusammen vier Prämissen, welche vier neue Schlüsse erfordern; diese haben acht Prämissen, deren acht Schlüsse wieder für ihre sechzehn Prämissen sechzehn Schlüsse geben, und so fort in einer geometrischen Progression ins Unendliche« (HW 6.362f).

Im Ergebnis dieses Grenzübergangs entsteht das Medium. Es trägt den Gedankengang. Es wird gewonnen über eine Unmittelbarkeit, die sich anfangs selbst nicht klar ist.

[19] Grenzübergang vom Mechanischen zum Chemischen in Hegels Jenenser Naturphilosophie

Siehe den separaten Text.

[20] Wasser und Sprache als Medium bei Hegel

Bereits in der Phänomenologie des Geistes wird deutlich, dass für Hegel Flüssigkeit und Lebendigkeit nahezu gleiche Bedeutung haben.

»Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus« (HW 3.12). »Das Leben in dem allgemeinen flüssigen Medium, ein ruhiges Auseinanderlegen der Gestalten wird eben dadurch zur Bewegung derselben oder zum Leben als Prozeß« (HW 3.141). (Siehe auch HW 3.196, 203-210, 246, 249, 265, 352, 490, 514, 518, 528, 532 sowie die Anmerkung zum Verhältnis von Herr und Knecht.)

In diesem Sinn will er in der Begriffslogik die überlieferte formale Logik aufgreifen und wieder verflüssigen, d.h. ihr ihre Lebendigkeit zurückgeben.

»Bei dem gegenwärtigen darf ich diese Nachsicht vielmehr aus dem entgegengesetzten Grunde ansprechen, indem sich für die Logik des Begriffs ein völlig fertiges und festgewordenes, man kann sagen verknöchertes Material vorfindet und die Aufgabe darin besteht, dasselbe in Flüssigkeit zu bringen und den lebendigen Begriff in solchem toten Stoffe wieder zu entzünden« (HW 6.243).

In einer Art Grenzübergang will er aus den einzelnen Urteilen und Schlüssen zum Medium finden, das für sich kontinuierlich ist. Der Grenzübergang wird innerhalb der Betrachtung der einzelnen Urteilsformen vorbereitet. Hier zeigt sich, dass für ihn die Begriffe »flüssig« und »kontinuierlich« nahezu synonym sind. Im Kapitel über das negative Urteil spricht er von der »flüssigen Kontinuität des Begriffs und seiner Bestimmungen« (HW 6.321).

Daher ist es weit mehr als nur eine oberflächliche Metapher, wenn Hegel sowohl das Wasser wie die Sprache als Medium bezeichnet.

»Im Körperlichen hat das Wasser die Funktion dieses Mediums; im Geistigen, insofern in ihm das Analogon eines solchen Verhältnisses stattfindet, ist das Zeichen überhaupt und näher die Sprache dafür anzusehen« (HW 6.431).

In der Enzyklopädie wird explizit ausgesprochen, dass Flüssigkeit und Durchsichtigkeit wesentliche Eigenschaften der Idee sind.

»Für sich ist die absolute Idee, weil kein Ubergehen noch Voraussetzen und überhaupt keine Bestimmtheit, welche nicht flüssig und durchsichtig wäre, in ihr ist, die reine Form des Begriffs, die ihren Inhalt als sich selbst anschaut« (Enz. § 237, HW 8.388).

[21] Wasser als philosophischer Begriff bei Guzzoni

Obwohl Thales mit dem Bild des Wassers die Philosophie begründet hat, sind das Wasser und seine Erscheinungen und Merkmale seither kaum mehr ein Thema für die Philosophie. Das Wasser gilt als naturwissenschaftlicher Begriff. Ute Guzzoni möchte in ihrem Buch über das Wasser dieses gewissermaßen wieder als philosophischen Begriff rehabilitieren. Sie nennt zahlreiche Phänomene, die Beispiele sind, was es in einer Philosophie noch zu entdecken gibt, wenn sie versucht, nicht nur kristallklar zu denken, sondern wie das Wasser mal flüssig, mal trüb, mal im Nebel und mal an einer Quelle.

»Es gehört wesentlich zum Wasser, daß es sich an ihm selbst nicht ergreifen läßt. ... Als die spezifische 'Stofflichkeit' des Wasser kann gerade seine Formlosigkeit erscheinen, die eben das vermissen läßt, was wir sonst mit Stoff oder Materie assoziieren, eine massive Widerständigkeit, Bestimmbarkeit und Gestaltbarkeit. So entzieht es sich durch seine konkrete Unfaßlichkeit dem metaphysischen Zugriff« (Guzzoni, S. 12).

Sie gibt schöne Beispiele von der Tiefe der Meere, der Weite der Himmel über ihnen. Die rätselhafte Formulierung ›es gibt‹ bedeutet für sie das Hervorkommen an Quellen (Guzzoni, S. 87). Spiegelbilder und damit Reflexionen wurden ursprünglich auf der Oberfläche von tiefen Brunnen gesehen, über deren Rand sich der Betrachter beugt. Spiegelbilder wurden mit dem »Schatten der Seele gleichgesetzt« (Guzzoni, S. 95).

Flüsse. Zwar ist ›alles fließt‹ auch ein philosophischer Satz, aber für Guzzoni hat der Fluss für das Denken eine viel weiter gehendere Bedeutung: »Die Philosophie lässt sich nicht mehr in Sätze fassen, ich meine in Grund- und Leitsätze« (Guzzoni, S. 119). Sie wählt als Beispiele:

»'Das Selbe ist zu denken und hat zu sein' (Parmenides), – '›seiend‹ wird in vielfältigem Sinne gedacht/gesprochen' (Aristoteles); 'cogito ergo sum' (Descartes); 'die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit dre Gegenstände der Erfahrung' (Kant); 'die Identität ist die Identität der Identität und der Nichtidentität' (Hegel). [...] Fast könne man sagen, daß man, wenn man jeweils nur diesen einen Satz hätte, das Übrige ergänzen könnte« (Guzzoni, S. 119).

Solche Sätze sind heute nicht mehr möglich, auch nicht ›Es gibt kein Richtiges im Falschen‹ und ›Wahrheit ist werdende Konstellation‹ (Adorno), ›Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen‹ (Wittgenstein) oder ›Die Sprache ist das Haus des Sein‹ (Heidegger) (Beispiele zitiert nach Guzzoni, S. 119). Es gibt kein festes begriffliches Gefüge mehr.

»Nicht das logische Nacheinander, sondern eher ein spielerisches Miteinander der Gedanken, das seinen Ausdruck angemessener in einem breiten Tableau als in einer linearen Darstellung finden kann« (Guzzoni, S. 121).

Da bekommt das Zwischen eine größere Bedeutung, etwa der Regen als Zwischen von Erde und Himmel. Im weiteren gibt sie zahlreiche Beispiele vor allem aus Gedichten über Flüsse und Brücken und von Reisen rund um die Welt. Mit ihnen entsteht allerdings eine gewisse Beliebigkeit. Häufig werden japanische Haikus zitiert.

Während der Fluss mit Heraklit, das Meer mit Nietzsche und die Quelle mit Heidegger verbunden werden können, gibt es für Regen und Nebel weder in der Philosophie noch in der Literatur vergleichbare Äußerungen. Der Regen ist ein umfassender Zustand, der einen durch und durch durchnässen kann. Regen kann in unterschiedlichsten existenziellen Erfahrungen wahrgenommen werden, vom stechenden Eisregen bis zu einem sanften Frühlingsregen. Der Nebel taucht die Welt wie in einen anderen Zustand. Bäume und Menschen werden im Nebel einander fremd, Schiffe im Nebel.

[22] Logischer Aufbau der Welt (Carnap)

Mit dem Bild des Mediums ist eine Logik verlassen, die atomar aus einzelnen logischen Schlüssen konstruiert ist und daraus den Logischen Aufbau der Welt konstituieren will, wie es 1928 Carnap in Wien vertreten hat. Er wollte zeigen, dass sich aus den Elementarrelationen von Elementarerlebnissen ein Konstitutionssystem entwickeln lässt, das im Sinne der Mathematik des 19. Jahrhunderts »streng logisch« aufgebaut ist. Er benutzt Bilder, die dem Ausdruck Sphäre des Begriffs sehr nahekommen.

Grundlegend sind Aussagefunktionen, das sind Sätze wie zum Beispiel ›x ist Stadt von Deutschland‹. In solchen Sätzen treten Variablen auf wie in diesem Beispiel »x«. Die Gesamtheit aller x, die in einem Satz eingesetzt werden können und ihn »sättigen«, bezeichnet Carnap als Klassen. Die Klassen entsprechen damit den Lösungsräumen in der Mathematik.

Statt für eine gegebene Aussagefunktion alle Gegenstände zu finden, mit denen sie gesättigt wird, kann auch umgekehrt gefragt werden, ob es für zwei gegebene Gegenstände mindestens eine Aussagefunktion gibt, in deren Werteverlauf sie liegen. In diesem Fall sagt Carnap, dass die beiden Gegenstände »sphärenverwandt« sind:

»Wenn es eine Argumentstelle in einer Aussagefunktion gibt, für die die beiden Gegenstandsnamen zulässige Argumente sind«, dann gelten sie als »sphärenverwandt« (Carnap, § 29).

Alle sphärenverwandten Gegenstände bilden eine Gegenstandssphäre:

»Unter der  Gegenstandssphäre  eines Gegenstandes verstehen wir die Klasse aller mit ihm sphärenverwandten Gegenstände« (Carnap, § 29).

Das soll hier nicht weiter dargestellt werden. Es geht nur darum zu zeigen, wie Carnap in die Grundgedanken seines Konstitutionssystems einführt, das komplementär zur Sphäre des Begriffs bei Kant und Hegel aufgebaut ist. Für ihn sind alle Sätze, die sich nicht innerhalb des Konstitutionssystems entwickeln lassen, lediglich Scheinsätze. Daher gibt es für ihn keine übergreifenden Eigenschaften der Sphäre wie ihre Krümmung, Materialität oder Flüssigsein.

[23] Holistische Deutung Hegels durch Chong-Fuk Lau

Mit der durchgehenden Materialität der Sphäre des Begriffs ist ein holistischer Wahrheitsbegriff gefunden, dessen Wahrheit ebenso im Medium besteht wie in den einzelnen gefundenen Aussagen.

Diesen Gedanken entwickelt aus einer anderen Richtung Chong-Fuk Lau in seiner Darstellung der Hegelschen Urteilskritik. Er will zeigen, dass Hegel keine eigene Satz- oder Urteilsform anstrebt, die den gewöhnlichen Sätzen gegenübersteht, sondern innerhalb der üblichen Logik eine übergreifende Bewegung erkennt, die erst im Ganzen (holistisch) die von Hegel intendierte Logik ausmacht. Im Sinne von Kues, – den Lau jedoch nicht erwähnt –, könnte gesagt werden, dass die einzelnen Urteile und Sätze der gewöhnlichen Logik der Vielfalt der gemessenen Quantitäten entsprechen, und die von Hegel gesuchte Logik dem ihnen vorangehenden übergreifenden Begriff der Größe.

»Das Wesentliche in der Hegelschen Lehre vom spekulativen Satz ist, daß sie in keiner Weise eine eigenständige Satz- oder Urteilsform entwickeln will, die für die Darstellung des Absoluten geeignet wäre, auch wenn einiges dafür zu sprechen scheint, sondern vielmehr als eine spekulative Kritik der Urteilsform deren Grenzen aufzeigt und durchsichtig macht« (Lau, S. 120).

Lau schließt sich an der entscheidenden Stelle Arend Kulenkampff an:

»Die spekulative philosophische Reflexion ist das Denken der Welt noch einmal, aber als Denken des Denkens der Welt« (Kulenkampff Antinomie und Dialektik, S. 16, zitiert bei Lau, S. 145).

Im »Denken des Denkens« findet Hegel nach Lau die holistische Einheit, die im »Denken der Welt« noch verstreut ist. Die voneinander isolierten Sätze des »Denkens der Welt« werden aufeinander bezogen, und in ihnen wird eine durchgehende innere Bewegung erkannt. Während in jedem einzelnen Satz das Satzsubjekt statisch ist, und während die Erste Kategorie, auf die sich alle anderen Kategorien beziehen (ousia nach Aristoteles) alleinstehend ist, gelingt es dem spekulativen Denken, die erstarrte traditionelle Logik zu verflüssigen und ein Medium zu finden, in dem der durchgehende Zusammenhang ihrer Sätze erkennbar wird. Dadurch gelingt es dem spekulativen Denken, einen doppeldeutigen Subjekt-Begriff zu finden, das sowohl das Satz-Subjekt innerhalb des Satzes wie das Ich meint, welches einen Satz bildet und ausspricht. Diese Doppeldeutigkeit des Subjekts wird als eine widersprüchliche Einheit verstanden, mit der sich die Paradoxien lösen lassen, in die das verstandesmäßige Denken notwendig gerät, wie Kulenkampff an zahlreichen Beispielen gezeigt hat.

»Der spekulative Satz läßt sich zusammenfassend durch eine dialektische Bewegung charakterisieren, die vom Subjekt aus- und über das Prädikat wieder in das Subjekt selbst zurückgeht. Dieses ist aber nun nicht mehr das anfängliche Satzsubjekt, das als Basis des Satzes zugrundegelegt ist, sondern das sich wissende Subjekt, das die ganze Bewegung mitgemacht hat und den Inhalt des Satzes als sein eigenes Wesen begreift. Es ist 'dieser sich selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang' (HW 3.60, Hervorh. v. Verf.), in dem das Spekulative zur Darstellung kommt« (Lau, S. 175).

Hegel vertritt einen »logisch-ontologischen Holismus«. Es ist für ihn nicht möglich, spekulative Gehalte in einzelnen Sätzen auszudrücken, sondern sie ergeben sich erst aus der Gesamtheit des Systems (Lau, S. 193). Lau hat diese Deutung Hegels von Brandom übernommen.

»Der Begriff heißt vielmehr das System der Begriffe als Ganzes, oder wie Robert Brandom es präziser charakterisiert, 'das holistische Schlußsystem bestimmter, mit Hilfe jenes Begriffs artikulierter Begriffe und Verpflichtungen'« (Lau, S. 248 mit Zitat Brandom Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus, deutsche Übersetzung in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 [1999], S. 356).

Hegel schließt sich daher dem Substanzbegriff von Spinoza an. Während Aristoteles die Substanz an das Einzelne »Dies-da« gebunden sah, sieht Spinoza in der Substanz das Ganze (holos). Aber Hegel sieht bei Spinoza erst eine abstrakte Negation des Vielen, vergleichbar der schlechten Unendlichkeit (Lau, S. 261), als »absolute Indifferenz« (HW 5.454, zitiert bei Lau, S. 262). Demgegenüber versteht Hegel die Substanz als Wesen, d.h. als »Verhältnis« (Lau, S. 263).

In der Kritik am Substanz-Begriff von Aristoteles scheint mir Lau einem ähnlichen Missverständnis zu unterliegen wie Picht, das auf die verwirrende Übersetzung unterschiedlicher Begriffe bei Aristoteles in den einen Begriff Substanz zurückgeht, siehe hierzu Anmerkung [32]

[24] Medium bei Platon und Aristoteles nach Picht

Für Picht geht der Begriff des Mediums bei Platon und Aristoteles auf Parmenides zurück. Parmenides spricht von der Bewegung »zum Licht hin« durch die »ätherische« Tür.

»Die Mädchen, die zuvor das Haus der Nacht verlassen hatten, zum Licht hin, da sie mit ihren Händen die Schleier vom Haupt gezogen hatten. Dort sind die Torpfosten der Bahnen von Nacht und Tag. Türsturz umschließt sie und steinerne Schwelle. Selbst ätherisch (aitheriai), sind sie ausgefüllt mit großen Türflügeln, deren ineinandergreifende Schlußbalken der unerbittlichen Dike unterstellt sind« (Parmenides, Fr. 1, 9-14; Link).

Das ist für Picht das erste Bild des Mediums, durch das hindurch das Erkennen erfolgt. Darauf beziehen sich für ihn Platon und Aristoteles.

»Bei Platon und bei Aristoteles hingegen gilt dieselbe Unendlichkeit als Grundbestimmung der Materie. Auch Platon lehrt, dass das 'Unendliche' und 'Unbegrenzbare', das heißt das Kontinuum, ein Medium ist, in dem das 'wahrhaft Seiende' (das 'Ding an sich') nur undeutlich zum Vorschein kommen kann. Auch bei ihm ist das Kontinuum – die parmenideische Mischung von Licht und Nacht – die Trübnis, welche macht, dass alles, was unsere Sinnlichkeit in der Welt wahrnehmen kann, nur Erscheinung ist. Aber er sah sich dadurch nicht veanlasst, die reine Form der Kontinuität und damit der sinnlich wahrnehmbaren Materie ins Innere des menschlichen Subjektes zu verlagern« (Picht, Von der Zeit, S. 177f).

[25] Das Lochargument (The Hole Argument)

Siehe den separaten Text.

[26] Rhythmus und Metrum bei Hegel

»Formell kann das Gesagte so ausgedrückt werden, daß die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält. – Dieser Konflikt der Form eines Satzes überhaupt und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs ist dem ähnlich, der im Rhythmus zwischen dem Metrum und dem Akzente stattfindet. Der Rhythmus resultiert aus der schwebenden Mitte und Vereinigung beider. So soll auch Im philosophischen Satze die Identität des Subjekts und Prädikats den Unterschied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht vernichten, sondern ihre Einheit [soll] als eine Harmonie hervorgehen. Die Form des Satzes ist die Erscheinung des bestimmten Sinnes oder der Akzent, der seine Erfüllung unterscheidet; daß aber das Prädikat die Substanz ausdrückt und das Subjekt selbst ins Allgemeine fällt, ist die Einheit, worin jener Akzent verklingt« (HW 3.59).

Zitiert bei Lau, S. 184

[27] Flüssigwerden und Erzittern in der Phänomenologie des Geistes von Hegel, Musik

Nur als Anmerkung sei auf das übergreifende Erzittern hingewiesen. Das Medium muss die Eigenschaft haben, trotz Erzitterns nicht auseinander zu fallen.

Allerdings spricht Hegel hier nicht von der Sprache, sondern von der flüssigen Substanz und dem flüssigen Medium. Das Medium liegt noch unterhalb der Sprache. Später wird Hegel das Wasser und die Sprache als Beispiele für das Medium heranziehen.

»Das Sein hat nicht mehr die Bedeutung der Abstraktion des Seins, noch ihre reine Wesenheit, der Abstraktion der Allgemeinheit; sondern ihr Sein ist eben jene einfache flüssige Substanz der reinen Bewegung in sich selbst« (HW 3.140).

Alles scheinbar Feste wird aufgelöst, bis gilt: »Das Leben in dem allgemeinen flüssigen Medium« (HW 3.141).

Nachdem im ersten Schritt alles im »flüssigen Medium« des Selbstbewusstseins aufgelöst wurde, gerät das Selbstbewusstsein in einen Kampf auf Leben und Tod um Anerkennung und löst sich hierin seinerseits auf. Nur in dieser existenziellen Krise kann es zu sich selbst finden.

»Denn es hat die Furcht des Todes, des absoluten Herrn, empfunden. Es ist darin innerlich aufgelöst worden, hat durchaus in sich selbst erzittert, und alles Fixe hat in ihm gebebt. Diese reine allgemeine Bewegung, das absolute Flüssigwerden alles Bestehens, ist aber das einfache Wesen des Selbstbewußtseins, die absolute Negativität, das reine Fürsichsein, das hiermit an diesem Bewußtsein ist. Dies Moment des reinen Fürsichseins ist auch für es, denn im Herrn ist es ihm sein Gegenstand. Es ist ferner nicht nur diese allgemeine Auflösung überhaupt, sondern im Dienen vollbringt es sie wirklich; es hebt darin in allen einzelnen Momenten seine Anhänglichkeit an natürliches Dasein auf und arbeitet dasselbe hinweg« (HW 3.159).

Simon zitiert diese Stelle, wenn er das Verhältnis von Hegel und Kierkegaard diskutiert. In diesem Sinn deutet Simon auch die Musik, auf die sich Kierkegaard bezieht.

»Die Musik nämlich als sinnliches Medium erreicht das Einzelne nicht, weil sie es nur mit dem Sinnlichen zu tun hat. Insofern ist sie im Bezug auf das Einzelne abstrakt. Das Denken erreicht das Einzelne nicht, da es jeder Sinnlichkeit entbehrt. Demnach ist es im Bezug auf das Einzelne abstrakt. [...] Aber beide Relativbegriffe meinen offenbar dasselbe, nämlich das in der Mitte Liegende. Dieses wäre das eigentlich Existierende nach Kierkegaard, das zuviel Reflexion hat, um reine Stimme zu sein, andererseits sich nicht in der Reflexion verschließt. Es ist die Existenz, die trotz des Verhallens der Stimme sich nicht verschließt, die über das Verschwinden dieser Stimmung hinaus offen, erschlossen bleibt. [...] Diese Weise der Existenz bleibt für Kierkegaard lediglich (als Glaube, 'Paradox') etwas Göttliches, dessen der Mensch nicht als Mensch, sondern nur durch Teilhabe an einem absolut Anderen teilhaftig wird. Er sieht in der Sprache einen Weg zu dieser Teilhabe, der jedoch für ihn nicht zu einem gangbaren Weg wird, da die Sprache der Götter nach ihm 'kein Mensch ... sprechen' kann« (Simon, Sprache bei Hegel, S. 82 mit Zitat Kierkegaard, Krankheit zum Tode).

In der Musik (wie zum Beispiel der von Kierkegaard herangezogenen Oper Don Giovanni von Mozart) ist eine Ebene der reinen Sinnlichkeit erreicht. An jedem Moment wird der reine Schönklang wahrgenommen. Das stimmt überein mit der Figur des Don Giovanni, der sich in seinen jungen Jahren ganz dem Lebensgenuss hingeben kann. Kierkegaard sieht darin zugleich einen Anhauch der Reflexion, da gespürt wird, dass auch diese Musik irgendwie »gemacht« ist und Don Giovanni sich bewusst ist, dass diese Art zu leben begrenzt ist auf die Zeit seiner Jugendlichkeit. Demgegenüber steht der Gedanke, der keinerlei Sinnlichkeit an sich hat, sich aber darauf beziehen kann. Können beide sich irgendwo in einer Mitte treffen? Diese Mitte hat Hegel selbst angesprochen in der Einleitung, in der er Rhythmus und Metrum erwähnt (HW 3.59), worauf Lau eingeht, Simon aber nicht.

[28] Musikalische Deutung des Tractatus von Wittgenstein nach Picht

»Wittgenstein hat eine neue Kunstform entdeckt, die staunenswerte Analogien zu gewissen Formen aufweist, die gleichzeitig in der Lyrik, in der Malerei und in der Musik entstanden sind« (Picht, Von der Zeit, S. 536). So sagt er zum Beispiel: »Das Satzzeichen ist eine Tatsache« (Tractatus, 3.14, zitiert bei Picht, Von der Zeit, S. 537). Er erläutert weiter: »Sehr klar wird das Wesen des Satzzeichens, wenn wir es uns, statt aus Schriftzeichen, aus rämlichen Gegenständen (etwa Tische, Stühle, Bücher) zusammengesetzt denken. Die gegenseitige räumliche Lage dieser Dinge drücke dann den Sinn des Satzes aus« (Tractatus 3.1431, zitiert S. 537). Picht interpretiert: »Die Anordnung von Gegenständen, aus der sich deren Größe und Beschaffenheit ergibt, kann nicht aus dem Begriff dieser Gegenstände abgeleitet werden; wir müssen – hier wirkt aus dem Hintergrund Kant herein – auf den Raum rekurrieren, um sie zu verstehen.« Die Satzzeichen sind wie die Pausen in einem musikalischen Werk, bei dessen Vortrag es darauf ankommt, »seine Pausen so zu spielen, dass sie richtig bemessen sind und ihre innere Dynamik verstanden wird« (S. 537). In anderen Worten heißt das, dass die Gedanken »der richtigen 'Beleuchtung' bedürfen«, um verstanden zu werden (S. 538).

[29] Cyclop bei Kant

Einen Gelehrten, der nicht die Relativität des eigenen Horizonts anerkennt, nennt Kant

»einen Cyclopen. Er ist ein egoist der Wissenschaft, und es ist ihm noch ein Auge nöthig, welches macht, daß er seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkt anderer Menschen ansieht. Hierauf gründet sich die humanitaet der Wissenschaften, d.i. die Leutseeligkeit des Urtheils, dadurch man es andrer Urtheil mit unterwirft« (Kant, R 903; AA 15: 395.03-07, korpora, zit. bei Simon, Kant, S. 81f).

Siehe dazu im weiteren Simon über die Sprache der Philosophie.

»Die Voraussetzung eines unbeschränkt allgemeinen Gemeinsinns bleibt demgegenüber 'Idee'. Sie steht gegen den logischen Egoismus, 'nach welchem man die Übereinstimmung des eigenen Urtheils mit den Urtheilen Anderer für ein entbehrliches Kriterium der Wahrheit hält'« (Simon, Kant, S. 162 mit Zitat Logik, Hg. von Jäsche, 80).

[30] Das Ende aller Dinge bei Kant

»Die Kritik verweist auf den Widerspruch im Begriff eines absoluten Standpunktes. Ihr Autor wendet sich gegen jeden 'erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie' und damit auch gegen Philosophen, die die Philosophie in der Intention, zu endgültigen Erkenntnissen zu gelangen, apokalyptisch zu 'Ende' bringen wollen, so daß 'hinfort keine Zeit mehr sein soll'« (Simon, Kant, S. 239 mit Zitat Kant Das Ende aller Dinge).

[31] Sprache der Philosophie nach Josef Simon

»An die Stelle einer letzten, der 'Sache selbst' adäquaten Deutlichkeit im Licht der platonischen Idee tritt bei Kant die kommunikative Deutlichkeit oder der Stil im Wechselspiel zwischen explikativ verdeutlichenden Umschreibungen von Zeichen durch andere Zeichen und der implikativen Abkürzung ganzer Zeichenketten durch einzelne Zeichen zu dem Zweck der zu erhaltenden Übersicht« (Simon, Kant, S. 240f mit Hinweis auf Nietzsche zur Abkürzung der Zeichen).

[32] Seele und Verstand nach Sokrates

Picht zitiert in seinem Kommentar zur Schrift De Anima von Aristoteles Platons Dialog Phaidon, in dem für ihn die Frage der griechischen Philosophen nach der Seele ihren Anfang genommen hat.

»Sokrates berichtet dort, daß er in seiner Jugend sich mit erstaunlicher Leidenschaft auf die Naturphilosophie gestürzt hat, und daß ihm vor allem die Lehre des Anaxagoras tiefen Eindruck gemacht hat: der göttliche nous sei Urheber des All und stifte die im Kosmos sichtbare Ordnung. Er sei dann später enttäuscht gewesen, nachdem er begriffen habe, daß weder Anaxagoras noch sonst ein Philosoph in der Lage gewesen sei, diesen Gedanken wirklich durchzuführen« (Picht, Anima-Kommentar, S. 59).

Picht lässt eine eigene Übersetzung der entscheidenden Passage folgen:

»Nach dieser Erfahrung, sagte er, schien es mir also, da ich erschöpft war vom Schauen auf das Seiende, ich müsse mich hüten, damit ich nicht erlitte, was die erleiden, die eine Sonnenfinsternis betrachten und ihren Blick auf sie richten. Einigen von ihnen werden die Augen zerstört, es sei denn, sie richteten ihren Blick nur auf das Abbild der Sonne im Wasser oder einem vergleichbaren Spiegel. Ein ähnlicher Gedanke kam auch mir, und ich fürchtete, daß ich in meiner Seele ganz und gar blind würde, wenn ich mit meinen Augen auf die Wirklichkeit [nous ta pragmata] blickte und mit jeder meiner Wahrnehmungen versuchte, sie zu erfassen. Da schien es mir nun nötig, mich in die Aussagen (logoi) zu flüchten und in jenen die Unverborgenheit des Seienden zu betrachten. Vielleicht ist nun zwar dieses Gleichnis auf gewisse Weise nicht vergleichbar; denn ich gebe keineswegs zu, daß jemand, der in den Aussagen das Seiende ins Auge faßt, es in höherem Maße nur bildlich sieht als in den Werken. Immerhin: auf diesen Weg machte ich mich auf und legte jedesmal die Aussage zugrunde, von der ich urteilte, sie sei die kräftigste. Von dem, was mir mit dieser in Einklang zu sein scheint, behaupte ich, es sei wahr, sowohl über den Grund wie über alles Andere. Was aber nicht in Einklang steht, davon behaupte ich, es sei nicht wahr« (Platon, Phaidon 99D-100A in der Übersetzung durch Picht, Anima-Kommentar, S. 59f).

Weder Sokrates noch Platon lassen einen Zweifel daran, dass die Aussagen (logoi, Sätze, Prädikationen) nicht die höchste Wahrheit sind, sondern nur ein Spiegel. Sokrates entscheidet sich daher in einem schönen Bild, die erste Seefahrt aufzugeben, die direkt in das Licht führt, und stattdessen auf eine zweite Seefahrt auszuweichen. Das Bild der Seefahrt ist wahrscheinlich von der Fahrt der Argonauten übernommen, die anfangs von Griechenland aus weit nach Osten gesegelt waren, immer der aufgehenden Sonne entgegen, um dort das Goldene Vlies zu holen, ein Symbol der Sonne. Kaum hatten sie es erobert, ging im weiteren alles schief.

Aristoteles und Kant gehen zur Frage von Sokrates zurück und versuchen eine andere Antwort zu finden als Platon.

»Sokrates beschäftigte sich mit der Ethik, mit der Natur im Ganzen aber überhaupt nicht. Und in der Ethik suchte er das Allgemeine (katolon) und richtete als Erster sein Denken auf die Definition (horismos)« (Aristoteles, Met. I, 987b1ff, übersetzt in Picht, Anima-Kommentar, S. 68).

Picht sieht hier den Beginn der Kategorienlehre. »Das, was so eingegrenzt ist, nennt Platon und nach ihm Aristoteles ... die ousia« (Picht, Anima-Kommentar, S. 69), das ist die später als substantia übersetzte Erste Kategorie, auf die sich alle anderen Kategorien wie Quantität, Qualität, Ort, Zeit, Relation beziehen. Wird aus dem horismos der Horizont, dann kann die Sphäre des Begriffs bei Kant als der von einem Begriff aus sichtbare Horizont verstanden werden. Der Mensch kommt nach Sokrates nicht weiter, als in seinem Denken Sätze zu bilden und mit ihnen die Wahrheit zu suchen. Er kann innerhalb der Sätze analysieren, auf welche Weise Fehler, Täuschungen oder bewusste Falschaussagen vermieden werden können. Mit einem Wort: Er kann sich mit seinem Denken innerhalb der Sphäre des Begriffs bewegen.

Mithilfe der Sätze kann nur bis zur ersten Kategorie (ousia, Substanz) gelangt werden. Während sich Sokrates bewusst war, damit nicht die Wahrheit erreichen zu können, hat das nach Picht Aristoteles für sich beansprucht:

»In der Theologie des Aristoteles steht Gott nicht jenseits der ousia – er ist vielmehr selbst die höchste ousia und wird erkannt im logos tes ousias: dem Begriff. Der Philosophie des Aristoteles liegt also der Entschluß zugrunde, den deuteros plous – die zweite Seefahrt – des Sokrates zum ersten und maßgeblichen plous, zur Ersten Philosophie, zu machen. Hegels Abkehr von Schelling und die Wendung zu Aristoteles wiederholt diese Entscheidung. Deshalb ist bei Hegel das Absolute der Begriff. Deshalb entfaltet sich bei Hegel die Dialektik als das Sich-selbst-Begreifen des Begriffs.« »Die Wendung, die Aristoteles vollzogen hat, ist für das Schicksal der Metaphysik bestimmend geblieben. Der Gott der Metaphysik ist bis zu Hegel das Summum ens, das wir im ontologischen Gottesbeweis erkennen« (Picht, Anima-Kommentar, S. 71, 114).

Aristoteles ist daher für ihn der Begründer des ontologischen Gottesbeweises, den erst Kant radikal kritisiert hat, während Hegel in einer Wende gegen Kant zu Aristoteles zurückgekehrt sei. Picht ist der Meinung, dass Hegel letztlich dem Verständnis von Aristoteles gefolgt ist und nicht dem von Platon, weil er wie Aristoteles überzeugt ist, aus der Wissenschaft der Logik, d.h. der Untersuchung der Aussagen (logoi) das absolute Wissen entwickeln zu können. Für den Bezug von Hegel auf Aristoteles ist Picht der wichtigste Beleg, wenn Hegel in der Einleitung des 3. Bandes der Enzyklopädie den unvergleichlichen Wert der Schrift von Aristoteles über die Seele betont: »Der wesentliche Zweck einer Philosophie des Geistes kann nur der sein, den Begriff in die Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen, damit auch den Sinn jener Aristotelischen Bücher wieder aufzuschließen« (Enz. § 378, HW 10.11). Hegel beendet die Enzyklopädie mit einem Zitat aus der Metaphysik, in dem er seine eigene Philosophie ausgesprochen sieht (Met. 1072 b 18-30, zitiert Enz. § 577, HW 10.395). Picht ist überzeugt, dass Hegel dank neuer Lektüre von Aristoteles 1805 seinen Weg gefunden hat (Picht, Anima-Kommentar, S. 30).

Das sind zwei Aussagen, die getrennt zu betrachten sind: (1) War Aristoteles überzeugt, aus den Sätzen (logoi) auf die erste Kategorie und mit ihr auf ein Summum ens schließen zu können? (2) Folgt Hegel hierin Aristoteles?

Gegen die erste These sprechen vor allem die Ausführungen von Aristoteles zur Seele in Buch IX der Metaphysik. An dieser Stelle findet Aristoteles nach meiner Überzeugung zu einem Begriff der Seele, den Kant übernimmt und mit »Gemüt« übersetzt, so dass entgegengesetzt zur Behauptung von Picht Kant nicht in Widerspruch zu Aristoteles gerät, sondern ihm im wesentlichen folgt. Picht zitiert diese Stelle nirgends, aber es gibt eine Interpretation von Heidegger, die es nach meiner Meinung auf den Punkt trifft.

Dazu ist erforderlich, das aristotelische »Grundaxiom« vom ausgeschlossenen Dritten anders als üblich zu deuten. Wenn von etwas zweierlei behauptet wird, das im Widerspruch zueinander steht, können diese beiden Behauptungen nicht identisch sein, sondern müssen einander als »Gegenliegendes« gegenüberstehen, wie Heidegger den Ausdruck enantion übersetzt (Heidegger, GA 33, S. 134). Mit dem »Gegenliegenden« wird eine völlig andere Beschreibung eines Gegenstandes definiert, als nur seine Merkmale aufzuzählen. Mit dem Gegenliegenden werden nicht Merkmale genannt, die zugleich gelten können, sondern Merkmale, die ein Gegenstand potentiell im Innern enthält, und die räumlich oder zeitlich voneinander getrennt hervortreten können. Auch die von Kues genannte Streuung eines Einheitlichen in eine Vielfalt voneinander unterschiedener Eigenschaften ist für mich ein Beispiel. Das Verhältnis des Gegenliegenden entspricht sowohl den Kantschen Reflexionsbegriffen von Einstimmung und Widerstreit als der von Hegel in seiner Reflexionslogik entwickelten Entgegensetzung des an sich Positiven und des an sich Negativen. Das Gegenliegende verlangt ein Medium, innerhalb dessen die Aufspaltung von etwas in einander Gegenliegendes möglich wird. Für das Medium sind sowohl der Beryll (Brille, optische Instrumente) ein Beispiel, von dem Kues spricht, wie auch der Spiegel, in dem etwas reflektiert und dadurch gestreut wird.

In einer solchen Situation ist ein Vermögen erfordert, das über die übliche Logik hinausgeht. Aristoteles spricht von dynameis meta logou (Met. 1046b4-7), das ist nach meinem Verständnis eine Kraft, die in der Weise der Logik und dem kategorialen Denken insgesamt vorausgeht wie der von Kues gesuchte Begriff der Größe der gemessenen Quantität vorausgeht, die eine der Kategorien ist, mit denen die Logik operiert. dynameis meta logou wird meistens als ein »mit Vernunft verbundenes Vermögen« übersetzt (Heidegger übersetzt »die Kräfte, die in sich kundig sind«) und den »unvernünftigen« Vermögen / Kräften (dynameis alogoi) gegenübergestellt, von denen Aristoteles es deutlich absetzt. Die Besonderheit des dynameis meta logou liegt darin, auf »das Entgegenliegende« (enantion) gehen zu können und zu erkennen, wann ein Mangel (Entzug, steresis, d.h. Abweichung von der inneren Natur) vorliegt. Damit trifft Aristoteles genau die Unterscheidung, die Picht ihm abspricht. Und mehr noch, er sieht ihren Ort in der Seele (psyche). Der schwer zu lesende Absatz lautet in der Übersetzung durch Heidegger:

»Und zwar gehen nun die Kräfte, die in sich kundig sind (meta logon), alle je als dieselben auf das Entgegengesetzte (enantion), die kundschaftslosen (alogoi) aber als eine auf ein Einziges, z.B. das Warme einfach nur auf das Erwärmen, die ärztliche Kunst aber auf Krankheit und Gesundheit. Der Grund dafür (dass gewisse dynameis auf Gegenliegendes gehen) ist der, dass das Sichverstehen-auf-etwas (in sich) eine Kundschaft (die Kunde) ist; die Erkundigung aber, und zwar ein und dieselbe, macht offenbar das, womit man es je zu tun hat, und den Entzug (steresis); freilich das nicht in derselben Weise; in gewisser Weise nämlich zwar betrifft die Erkundigung beides, in gewisser Weise aber mehr das (je schon) Vorliegende. Daher die Notwendigkeit, daß auch die so beschaffenen (logos-geführten) Weisen des Sichverstehens-auf-etwas in einer Hinsicht zwar auf Gegenliegendes (das eine und dessen anderes) sich beziehen, in anderer Hinsicht aber auf das eine des Gegenliegenden, und zwar von sich aus (unmittelbar, gemäß ihrer Ausrichtung), auf das andere nicht in der genannten Weise; denn auch die Kunde geht auf das eine an ihm selbst, auf das andere gewissermaßen nur beiläufig. Durch Absprechen nämlich und Wegbringen macht sie das Gegenliegende offenbar; das Gegenliegende ist nämlich das in erster Linie Entzogene, dieses aber ist der Wegtrag des anderen (gegenüber dem einen). Da das in der äußersten Nachbarschaft Liegende sich nicht (zugleich) einbildet in dasselbe Seiende, das Sich-auf-etwas-verstehen aber eine Kraft (dynamis) ist auf Grund des Geführtseins durch die Rede, Kundschaft, und da die Seele (psyche) einen Ausgang für Bewegung in sich vor-hält, so kann zwar das Gesunde lediglich Gesundheit befördern, das Warmgebende Wärme, das Kühlende nur Kühle, dagegen bezieht sich das, das sich auf etwas versteht, auf beides (das Entgegenliegende). Denn eine Kunde geht immer auf beides, aber nicht in gleicher Weise, und sie gehört (ihrer Seinsart nach) in eine Seele, die selbst (als solche) ein Von-wo-aus für Bewegung in sich vor-hält. Daher wird sie beides in Bewegung bringen und zwar ausgehend von demselben Ausgang und so, daß sie beides auf solches, was als dasselbe erkundet ist, zusammen zurücknimmt« (Met IX 2, 1046b4-22, Übersetzung Heidegger, GA 33, S. 132, 134f, 149).

Was Aristoteles als die »unvernünftigen« (alogoi) Vermögen (Kräfte) bezeichnet, entspricht dem Verstandesdenken, worauf sich Aristoteles nach Picht nicht nur beschränkt hat, sondern es sogar mit dem vernünftigen Denken gleichgesetzt sieht. Der Seele (psyche) bei Aristoteles entspricht nach meiner Meinung das Gemüt bei Kant, wenn er die Rezeptivität der Eindrücke und die Spontaneität der Begriffe als die »zwei Grundquellen des Gemüts« einführt (KrV, B 74) und die »Überlegung (reflexio)« als »Zustand des Gemüts« bezeichnet (KrV, B 316).

Hier stimmen auch Kant und Hegel grundsätzlich überein. Entgegen seiner kritischen Absicht hat Picht der Sache nach recht: Hegel folgt Aristoteles, jedoch nicht, um mit ihm die Vernunft auf das verstandesmäßige Denken in Sätzen zu reduzieren, sondern umgekehrt, um mit ihm die vernünftigen Vermögen (dynameis meta logou) zu finden, die über das eindimensionale Schließen des Verstandes hinauszugehen vermögen, indem sie Entgegenliegendes erkennen und ihren gemeinsamen Grund suchen und bestimmen können.

Das lässt sich sogar in der mathematischen Anschauung der Fläche und dem von Hegel oft gebrauchten Begriff der höheren Potenz zeigen.

Heiberg nennt Met. 1046a und Met. 1019a als die beiden einzigen Stellen, an denen Aristoteles das Wort dynamis in einer Weise gebraucht, die der Fläche im Sinne der Geometrie entspricht. Heidegger bezieht sich darauf:

»Nach der Überlieferung soll diesen Gebrauch von dynamis zuerst eingeführt haben Hippokrates von Chios (um die Mitte des 5. Jahrhundert; nicht der Arzt). Das über einer Strecke gemäß dieser konstruierte Quadrat ist die dynamis dieser Strecke. Die dynamis als Potenz ist das Quadrat; also 32 = 3 im Quadrat. Demgemäß ist die hyle dynamis der Hypotenuse im rechtwinkligen Dreieck gleich den dynameis der Katheten. Was zu dieser Bedeutung von dynamis führte, ist nicht geklärt und belegt. Wir können vermuten, daß hier dynamis dasjenige genannt wird, wozu eine Strecke aus sich selbst die Kraft hat, was eine Strecke vermag, was sie aus sich selbst für die Konstruktion eines ebenen Gebildes, einer Raumgestalt hergibt; dynamis heißt hier das, womit sich etwas machen läßt im weitesten Sinne, was also nicht nichtig ist. (Plato kannte gleichfalls schon diese Bedeutung von dyanamis im Sinne von Quadrat, so Pol. 587d und Tim. 31c, auch Theait. 147d, vgl. Ross Bd. I, S. 322)« (Heidegger, GA 33, S. 60).

Für Hegel lösen sich in der Sphäre des Seins Widersprüche, wenn es gelingt, entsprechend dem Übergang von der Strecke zur Fläche eine höhere Potenz zu erreichen. Siehe hierzu die Logik-Studien zu seinem Verständnis des Differentialbegriffs (Link) und zum Übergang von den Wahlverwandtschaften zu den Knotenlinien (Link).

Wie ist zu erklären, dass Picht in dieser Frage Aristoteles und Hegel missversteht? Das könnte daran liegen, dass schon in den scholastischen Übersetzungen die beiden Begriffe hypokeimenon und ousia mit substantia (»Substanz«) übersetzt wurden (siehe hierzu z.B. Eisler-Lexikon), bis sich schließlich die Meinung durchsetzte, sie seien auch untereinander identisch. Mit ousia ist bei Aristoteles die erste Kategorie gemeint, auf die sich alle anderen Kategorien (Qualität, Quantität, Ort, Zeit, Relation usw.) beziehen. Mit hypokeimenon wird jedoch eine andere Ebene erreicht, auf die sich nicht die Kategorien beziehen, sondern die unermessliche Weite des Möglichen (dynamis) und der jeweiligen Verwirklichungen (energeia), die aus ihr hervorgehen. Wird dann auch energeia (Wirklichkeit) als essentia (Essenz, Wesen) übersetzt und diese wiederum als Substanz verstanden, dann sind alle Unterscheidungen verloren gegangen, die Aristoteles wichtig waren. Nur wenn die erste Kategorie (ousia) mit dem Zugrundeliegenden, dem Wesen und der Wirklichkeit gleichgesetzt wird, spricht einiges für die Deutung von Picht.

Es fehlt noch der letzte Schritt, mit dem das von Aristoteles gemeinte Zugrundeliegende (hypokeimenon), welches als subiectum übersetzt wurde, mit dem neuen Subjekt-Begriff der Neuzeit gleichgesetzt wird, wonach das Subjekt das handelnde und erkennende Ich ist. Diesen Schritt hat Hegel vollzogen, wenn er in der Gleichsetzung von Subjekt und Substanz die höchste Aussage seiner Philosophie sieht (HW 3.22f). Erst hier unterscheidet er sich von Aristoteles, indem er nahelegt, dass das denkende Subjekt im Sinne von Descartes identisch wird mit der von Aristoteles gemeinten Ersten Kategorie (ousia, Substanz). Gegenüber Hegel hat daher die Kritik von Picht eher Berechtigung als gegenüber Aristoteles. Es bedarf jedoch weiterführender Überlegungen, diese Differenz von Aristoteles und Hegel näher zu erläutern und zu begründen. Hier wird eine entscheidende Frage das Verständnis des Werkzeugs (organon) sein. Hegel will zeigen, wie aus dem Medium der Logik der Werkzeug-Charakter des Denkens entsteht (Übergang vom Chemismus-Kapitel zum Teleologie-Kapitel im Abschnitt über die Objektivität), während Aristoteles nach meiner Vermutung das organon auf das verstandesmäßige Denken einschränkt. – Diese Differenz hat auch zu tun mit dem Hegelschen Freiheitsbegriff. Er nimmt ihn aus der jüdisch-christlichen Tradition auf, verleiht ihn dem Subjekt und sieht daher das Subjekt mit Fähigkeiten begabt, die über das hinausgehen, was Aristoteles dem Menschen zusprach. Zugleich will Hegel aber durch die Gleichsetzung von Subjekt und Substanz die Freiheit an die Substanz binden. Damit gerät er nicht nur zu Aristoteles in Differenz, sondern auch zum christlichen Denken und zu Kant. Siehe hierzu Anmerkung [6].

 


 

Siglen

FM: Immanuel Kant: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff's Zeiten in Deutschland gemacht hat?
in: Immanuel Kant: Akademie-Ausgabe Bd. XX, Berlin 1942, S. 253-332; Link

HW: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971; Link

JLMN: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie, Leipzig 1923

KrV: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787)

NG: Immanuel Kant: Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen
in: Immanuel Kant: Akademie-Ausgabe Bd. II, Berlin 1905, S. 165-204; Link

Literaturhinweise

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in: Werke Band IV, München 1978, S. 57-58

Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1998 [1928]

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Annette Garbe: Die partiell konventional, partiell empirisch bestimmte Realität physikalischer RaumZeiten, Würzburg 2001

Ute Guzzoni: Wasser – Das Meer und die Brunnen, die Flüsse und der Regen, Berlin, München 2005

Johann Ludwig Heiberg: Mathematisches zu Aristoteles
in: Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschften XVIII 1904, S. 1-49

Ernst Hoffmann: Methexis und Metaxy bei Platon
in: ders.: Drei Schriften zur griechischen Philosophie, Heidelberg 1964

Karl-Norbert Ihmig: Hegels Deutung der Gravitation, Frankfurt 1989

Immanuel Kant: Logik
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Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus): Über den Beryll, Leipzig 1938

Chong-Fuk Lau: Hegels Urteilskritik, München 2004 (Fink); Link

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John Norton: "The Hole Argument" (2008)
In: Edward N. Zalta, ed., Stanford Encyclopedia of Philosophy. Link

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Josef Simon: Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart u.a. 1966

Josef Simon: Sprache und Raum, Berlin 1969

Josef Simon: Kant, Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin 2003

Ludwig Wittgenstein: Werke Band 1, Frankfurt 1984
darin: Tractatus logico-philosophicus und Philosophische Untersuchungen

 

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