Walter Tydecks

 

Das Urteil als Realisation des Begriffs nach Hegel

Während Kant davon ausgeht, dass kein Begriff an die Fülle der Natur heranreicht und nur bestimmte Erscheinungen eines Dinges treffen kann, geht Hegel in der Tradition des Neuplatonismus von der Fülle des Begriffs aus. Gewöhnlich wird unter einem Urteil verstanden, einen gegebenen Sachverhalt zu erkennen und für die erkannten Eigenschaften die treffenden Worte zu formulieren. Der Weg verläuft von der Sache zum Wort. Die Schlüsselrolle liegt beim Menschen, der etwas wahrnimmt und sich sein Urteil bildet. Für Hegel ist dagegen das Urteil die »Realisierung« des Begriffs (HW 6.302). Für ihn geht die Bewegung vom Begriff aus, der sich über das Urteil entwickelt und in weiteren Stufen zum Objekt und zur Idee führt. Die Sache, die ihn interessiert, ist nicht der »Gegenstand, der draußen für sich ist«, und dem beim Urteilen »im Kopfe« ein Prädikat »beigelegt werden könne« (HW 6.304), sondern für seine Wissenschaft der Logik ist der Begriff die Sache, deren Entwicklungsgang untersucht und beschrieben wird. Hegel beschreibt nicht, wie mit einem Urteil über Gegenstände gesprochen wird, sondern er will selbstbezüglich den Begriff begreifen und Urteile über das Urteil finden.

So zu fragen ist dem gewöhnlichen Denken völlig fremd. Gewöhnlich wird die Schwierigkeit der Urteilsfindung darin gesehen, ob die Sache erkennbar und bereits ausreichend erforscht ist, und ob der Wissenschaftler über das nötige Wahrnehmungs-, Erkenntnis-, Denk- und Sprachvermögen verfügt, um eine Sache zu erkennen und den Sachverhalt zu formulieren. Dagegen kommt kaum jemand auf die Frage, ob in unserer Sprache die nötigen Begriffe (Worte) vorliegen, um einen Sachverhalt beschreiben zu können, bzw. ob die Sprache in der Lage ist, Worte auf eine Weise zu verbinden, dass mit ihnen der Sachverhalt beurteilt werden kann. Die Sprache gilt mit ihren Worten und Verknüpfungen entweder als Teil unserer Natur und ist schlicht angeboren. Oder sie gilt als ein im Verlaufe der menschlichen Geschichte entstandenes Kulturgut, das von jeder Generation neu gelernt werden muss. Es ist Aufgabe der Pädagogik, den Spracherwerb zu verstehen und die Erzieher für den Sprachunterricht zu befähigen. Kaum jemand ist mehr der Ansicht, dass die Sprache eine eigene Sphäre bildet, die über den Menschen hinausgeht, und dass möglicherweise die Sprache nicht die erforderlichen Eigenschaften hat, um Urteile bilden zu können.

Jedoch wird niemand bestreiten, dass sich die Worte und Begriffe von dem unterscheiden, was mit ihnen gedacht wird: Das Wort ‘Baum’ ist etwas anderes als der Baum, der mit diesem Wort gemeint ist. Wer das akzeptiert wird zugestehen, dass die Sprache und ihre Begriffe eine Autonomie und Unabhängigkeit gegenüber den mit ihr bezeichneten Inhalten haben. Das vertreten auch die radikalen Konstruktivisten: Alles, was wir denken, ist als Gedachtes erst von uns im Denken erzeugt und existiert als solches nur in unserem Denken. Für Luhmann ist die Sprache »das grundlegende Kommunikationsmedium, das die reguläre, mit Fortsetzung rechnende Autopoiesis der Gesellschaft garantiert« (Luhmann Gesellschaft der Gesellschaft, 205). Hegel geht einen entscheidenden Schritt darüber hinaus: Sowohl der Alltagsverstand wie die radikalen Konstruktivisten nehmen an, dass es ein souveränes Subjekt gibt, welches die Sprache beherrscht, über sie verfügt und sie einsetzt. Die Sprache selbst bleibt für sich ein passives Werkzeug oder ein Medium, in dem sich etwas anderes entwickeln kann. Hegel will dagegen zeigen, wie die Begriffe für sich lebendig sind. Wenn wir sprechen, begeben wir uns in die Sphäre der Begriffe und lassen uns von ihrer Lebendigkeit leiten.

In gewisser Weise überträgt Hegel die Erfahrung des materiell und körperlich Arbeitenden auf die Arbeit des Denkenden. Er vergleicht die Urteile mit der Chemie. »Der Chemismus macht im ganzen der Objektivität das Moment des Urteils.« (HW 6.428) So wie die Bauern, Köche oder Chemiker Stoffe vorfinden, die bereits für sich lebendig sind und sich abstoßen und anziehen, miteinander verbinden und voneinander scheiden, und aus diesen gegebenen Vorgängen zum eigenen Nutzen solche Prozesse entwickeln und ausführen, mit denen für uns nutzbare Stoffe und Produkte hergestellt werden können, so verlassen wir uns beim Sprechen auf die innere Kraft und Energie der Sprache und ihrer Worte, die uns hilft, das in Worte zu fassen, was wir sagen möchten. Die Sprache liefert vergleichbar dem Mutterboden, den Bergwerken oder der Chemie den Rohstoff und die Bewegung, mithilfe derer aus sprachlichen Elementaraussagen Sinn erzeugt werden kann.

Wer das hört, erklärt Hegel für verrückt. Stattdessen wird gesagt: Die Sprache kann nur das Abbild der Inhalte sein, die mit ihr in Worte gebracht werden. Sie muss getreu wiedergeben, was mit ihr gedacht wird. Sollte sie von sich aus die mit ihr gedachten Inhalte mitprägen und gestalten, würde das den Sprecher verwirren, die Ergebnisse verfälschen und alles in ein Durcheinander bringen, in dem niemand mehr unterscheiden kann, was sachliche Erkenntnis, was Zielsetzung des Sprechers und was von der Sprache hinzugemischte Poesie ist. So zu denken wird bestenfalls als eine Sprachkritik im Sinne von Nietzsche und dem Unbehagen an der Kultur um 1900 akzeptiert (Hofmannsthal, Mauthner, Freud), aber nicht als eine positive Kraft, die sich in der wissenschaftlichen Arbeit zeigt und diese beflügelt. Auch die Sprachkritik von Nietzsche und seinen Nachfolgern rüttelt nicht an der Souveränität der Sprechenden, sondern will nachweisen, wie ein zugrunde liegender Wille zur Macht oder sonstige verborgene Triebe den Menschen beim Sprechen bestimmen und zu vorgeprägten Meinungen und Ergebnissen führen. Erst Wittgenstein hat den mit Hegel vergleichbaren Gedanken geäußert, dass sich in den sprachlich formulierten Worten und Texten eine Sprache zeigt, die über den jeweils Sprechenden hinausgeht. Doch bleibt es für ihn ein Paradox, an dem er nicht rüttelt, in der Sprache etwas über die Sprache auszusagen, die sich außerhalb der gesprochenen Sprache befindet und in ihr nur zeigt. Nur Hegel vertrat den Gedanken, dass es die Begriffe sind, die sich im Urteil realisieren. Er fragt nach der Natur der Sprache (ihrer Begriffe, Worte und deren Dynamik), so wie sonst nach der Natur der mechanischen Partikel, chemischen Stoffe usf. gefragt wird. So wie im Arbeitsprozess der Mensch und die von ihm bearbeitete Natur zusammenwirken, so kommen im Denkprozess der Mensch und die von ihm gestaltete Sprache zusammen. So wie die Physik danach fragt, was wir über die Bewegungsgesetze der materiellen Natur wissen, so fragt die Logik nach den Bewegungsgesetzen der Sprache. »Diese logische Natur, die den Geist beseelt, in ihm treibt und wirkt, zum Bewußtsein zu bringen, dies ist die Aufgabe.« (HW 5.27)

Marx hat diesen Gedanken aufgenommen und von der »allgemeinen Arbeit« gesprochen (Marx Das Kapital Band 3, Kapitel Ökonomie durch Erfindungen, MEW 25.113f). Bei der allgemeinen Arbeit wird nicht mit natürlichen Rohstoffen, Pflanzen oder Tieren gearbeitet, sondern mit Worten oder anderen wissenschaftlichen Zeichen. Heute wird gesagt: Es wird mit Informationen gearbeitet. Das Ergebnis der allgemeinen Arbeit ist kein materielles Verbrauchsgut, das wie Nahrung, Kleidung oder sonstige Waren konsumiert werden kann, sondern die allgemeine Arbeit ist eine Sinnproduktion, mit der gegebene Sätze so in neue Sätze umgewandelt werden, dass sich ihr Sinn ergibt. Der gefundene Sinn ist der mit der allgemeinen Arbeit produzierte Gebrauchswert, der von den Menschen in ihrer Orientierung genutzt und weiter bearbeitet werden kann. (»Wer Sätze bildet, vollzieht Sinnproduktion.« Ruben, 17) Statt diesen Gedanken in seiner Hegel-Lektüre aufzunehmen, hat sich jedoch Marx mit dem Argument gegen Hegel gewandt, dieser verfalle in das andere Extrem: »Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.« (Marx Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW 40.574). Eine solche Gefahr besteht zweifellos und lässt sich sicher bei etlichen Hegelianern nachweisen, doch scheint mir Hegel konsequent das Vorhaben einer Wissenschaft der Logik zu verfolgen, und es wäre an seinem Text nachzuweisen, ob diese Kritik zutrifft. – In einer weiteren Arbeit möchte ich dieses Thema verallgemeinern auf die Frage nach der Energie der Form. Die Worte sind nur ein Beispiel für Zeichen. Verbale Texte sind zusammengesetzt aus unterschiedlichen Zeichen wie Buchstaben und Interpunktionszeichen. Es kommen mathematische Operationssymbole, Konstruktionszeichen, Ikone (wie Kreis und Gerade), sich selbst erklärende Zeichen (wie die als Pfeil dargestellten Vektoren), Diagramme, und neue Zeichen hinzu, wie sie z.B. von Frege, der Logik des 20. Jahrhunderts, Spencer-Brown oder Scheier entwickelt wurden. Für sie stellt sich ebenfalls die Frage, ob sie über eine eigene Energie verfügen, mit der sie das wissenschaftliche Denken anregen und den mit und aus ihnen gebildeten Texten und Diagrammen buchstäblich Lebendigkeit und Überzeugungskraft verleihen.

Hegels Anliegen wird deutlicher, wenn das Kapitel über das Urteil im größeren Zusammenhang gesehen wird: Hegel entwickelt den Begriff, das Urteil und den Schluss stufenweise auseinander. Der Begriff ist einstellig (skalar). An ihm werden mit der Allgemeinheit, Besonderheit und dem Einzelnen seine Momente unterschieden. Mit dem Einzelnen entsteht eine zweistellige Beziehung von einem Begriff zu einem anderen. Wie die Elemente der Chemie haben die einzelnen Begriffe Zu- bzw. Abneigungen zu- und gegeneinander, suchen einander oder stoßen einander ab. Walter Rella sieht hier das Entstehen von Vektoren: Der Vektor hat eine skalare Größe (seine Länge) und eine Richtung, mit der er auf etwas anderes verweist. (In der Geschichte der mathematischen Zeichen hat der Vektor eine Schlüsselstellung: Mit ihm werden die eindimensional angeordneten Zahlen und Operatoren verlassen in Richtung zweidimensionaler Diagramme.) Das entspricht den Verschiebungen und Drehungen der imaginären Zahlen entlang der reellen Zahlenachse und durch die komplexe Ebene.

Für Hegel treten Begriffe mit dem Einzelnen »in Wirklichkeit« (HW 6.299), und wird dies Hervortreten für sich betrachtet, ist es »Das Urteil«, mit dem der Begriff »ins Dasein« tritt (HW 3.302). Wenn am Urteil erkannt wird, worüber es die Verknüpfung zweier Begriffe vermittelt, führt das von der Copula (dem »ist«) zum terminus medius des Schlusses, über den von A auf B geschlossen wird, d.h. zu einer dreistelligen Logik. Es ist noch zu untersuchen, wie mit dem Schluss ein Übergang gelingt, der dem Wechsel von der schlechten zur wahren Unendlichkeit entspricht und an sich etwas Transzendentes enthält, das sich dem mechanischen Verständnis der Logik verschließt. Das ist im Sinne von Walter Rella die dritte Dimension: Das wahre Unendliche, das Maß, der Grund, das Absolute, und analog in der Begriffslogik das Einzelne, der Schluss, das Organische (und mit ihm die Arbeit) und die Idee, das heißt in der Ausdrucksweise von Hegel jeweils der Wendepunkt, der mit einer Negation der Negation gegeben ist. Die Frage wird sein, ob ein solcher Wendepunkt von innen (emergent) entwickelt werden kann, oder des Anstoßes von außen bedarf. Der Wendepunkt liegt dann aus einer Innensicht betrachtet darin, dass sich der Entwicklungsgang an jedem Wendepunkt für den Anstoß von außen öffnet. Hegel ist so konsequent, dass sich der Begriff in seiner Realisierung über das Urteil und den Schluss in einem letzten Schritt gegen diesen Weg der logischen Realisierung wendet und sich öffnet für das dem Begriff Fremde, das Objektive. Erst mit dieser Öffnung gelingt die Wende von der Arbeit des Begriffs über die objektive Arbeit zum vollen Verständnis des Lebensprozesses, des Erkennens und der Idee. In Hinblick auf die Kritik von Feuerbach und Marx wird zu fragen sein, in welcher Weise die Arbeit des Begriffs mit der Objektivität des Schließens (und damit der Vernunft) ins Dasein tritt. Hegel sieht den Begriff der Arbeit im Wendepunkt von der Objektivität zur Idee, und es wird zu fragen sein, ob ein solcher Begriff der Arbeit und des Lebensprozesses zu eng gefasst ist, oder ob möglicherweise umgekehrt Hegel gegenüber Marx einen weiter gefassten Begriff der Arbeit entwickelt, wenn Marx die Arbeit im wesentlichen im ökonomischen Kontext versteht.

Ein Überblick über das Kapitel:

– Das Urteil ist für sich ein Begriff (der Begriff des Urteils). Der Begriff des Urteils enthält im Innern wiederum eine Teilung in Subjekt und Prädikat. Diese Teilung ist der Begriff des Urteils. Mit ihrer Bewegung (der Prädikation) vollzieht das Urteil das Teilen des Begriffs. Hegel bewegt sich auf der Ebene der Meta-Logik: Er betrachtet nicht wie die traditionelle Logik eine abstrakte Verallgemeinerung aus einer Vielzahl von Beispielen für Urteile in der Gestalt ›S ist P‹, sondern metalogisch das Subjekt und das Prädikat als die beiden Momente eines jeden Urteils. Der Begriff des Urteils beschreibt ihre Dynamik. (Der Begriff des Urteils ist daher analog aufgebaut zum Begriff des Gegensatzes. Anders als Schelling hat Hegel den Begriff des Gegensatzes nicht als Polarität verstanden, mit der die Vielzahl der in der Natur zu beobachtenden Gegensätze verallgemeinert werden, sondern er hat am Gegensatz in dessen Innern das Positive und das Negative voneinander unterschieden und an ihrer Dynamik die Bewegung des Gegensatzes erkannt, die auf analoge Weise mit dem Widerspruch zu Grunde geht, wie sich zeigen wird, wie in der Realisierung des Begriffs die Bewegung von Subjekt und Prädikat zum Zusammengehen des Begriffs in die Objekte führt.)

– In welcher Beziehung stehen Subjekt und Prädikat im Urteil zueinander? Subjekt und Prädikat sind zunächst unbestimmt. Sie befinden sich in einem Zustand, in dem sie wechselweise nach einer Bestimmung durch den jeweils anderen suchen, so wie in der Chemie die einzelnen Stoffe einander suchen. Das wird deutlich, wenn vom »Subjekt ohne Prädikat« (HW 6.307) gesprochen wird. Ein solches Subjekt ist instabil und sucht ein Prädikat. Es »ist für den Einfluss anderer Dinge offen und tritt dadurch in Tätigkeit gegen sie« (HW 6.308). Das gilt analog für die Prädikate. Hegel nähert sich der Einsicht von Frege, der wenig später die formale Austauschbarkeit von Subjekt und Prädikat (bzw. noch allgemeiner von Subjekt und Objekt) gefunden hat. Beide sind anfangs ungesättigt und suchen Erfüllung. In ihrer wechselseitigen Bewegung sind sie austauschbar. So gesehen sind sie identisch: Das eine verhält sich wie das andere, wenn auch spiegelverkehrt. Aber Hegel geht zugleich über das hinaus, was Frege nach ihm gefunden hat: Für Hegel sind Subjekt und Prädikat nicht nur austauschbar, und sie bedürfen nicht nur einer Sättigung, wobei unklar ist, wie die Sättigung erfolgt. Für mich liegt nahe, dass Frege den denkenden Menschen als denjenigen ansieht, der in seiner Sprache die Platzhalter für Subjekt bzw. Prädikat füllt. Für Hegel wird dagegen das innerhalb des Urteils auftretende Subjekt tätig. Um tätig werden zu können, braucht es einen Bewegungsraum. Daher spricht Hegel an dieser Stelle von Namen: »So ist das Subjekt als solches zunächst nur eine Art von Name.« (HW 3.303). Als Name ist es noch unbestimmt. Das kann so weit gehen, dass der Name völlig willkürlich und in die Irre führend gewählt wird. Aber Hegel geht es darum, mit dem Namen einen Ausdruck gefunden zu haben, an dem deutlich wird, wie sich das Verständnis dessen, was anfangs noch unbestimmt mit einem Namen gemeint ist, mit der Prädikation schrittweise erschlossen wird. Die Unbestimmtheit dessen, was mit dem Namen referenziert wird, ermöglicht die Realisierung des Begriffs. Erst wenn diese abgeschlossen ist, kann rückblickend gesagt werden, dass die Entwicklung des Begriffs ihr Ziel verfehlen würde, wenn sie beim »Namen stehenbleibt« (HW 6.490).

– Diese Austauschbarkeit von Subjekt und Prädikat wird ihrerseits negiert. Das ist innerhalb der Bewegung des Begriffes des Urteils die Negation der Negation. Im Urteil sind Subjekt und Prädikat durch die Copula des ›ist‹ verbunden. Dies ›ist‹ ist gleichgültig gegen die Vertauschbarkeit von Subjekt und Prädikat: Ausgehend von einem Subjekt können dessen Prädikate gesucht werden, oder ausgehend von einem Prädikat die Subjekte, für die es zutrifft. In beiden Fällen bleibt die Verknüpfung äußerlich. Wird aber nach dem Grund gefragt, warum sie verknüpft werden können, so führt das zum Schluss: Es gibt einen terminus medius, über den von einen Begriff auf den anderen geschlossen werden kann. Beim Schluss sind die beiden Seiten nicht mehr austauschbar. Wenn von A über B auf C geschlossen wird, kann das nicht einfach umgekehrt werden. Daher ist mit dem Schluss die Austauschbarkeit von Subjekt und Prädikat negiert.

Einsichten aus der Sekundärliteratur:

– Frege hebt die offene Seite hervor: Wenn Begriffe sich anderen Begriffen öffnen und mit ihnen verknüpft werden können, enthält das Urteil eine innere Vielfalt: Ein Subjekt kann über eine Vielfalt von Eigenschaften bestimmt werden, und eine Eigenschaft über eine Vielfalt von Subjekten, für die sie gilt. Um diese Offenheit zu beschreiben, versteht Hegel das Subjekt und das Prädikat als »eine Art von Name« (HW 3.303). Etwas wird zunächst nur benannt, wobei noch offen ist, was mit dem Namen genau gemeint ist. Mit dem Namen ist ein Möglichkeitsfeld von Bestimmungen verbunden, in das hinein die weiteren Bestimmungen erfolgen. So wie Hegel vom Namen spricht, der eine Orientierung gibt und in der nachfolgenden Realisierung des Begriffs in den Urteilen mit Inhalten gefüllt wird, spricht Frege von der Sättigung (Frege Funktion und Begriff). Chong-Fuk Lau sieht hierin zurecht einen Begriff aus der Chemie. Subjekt und Prädikat sind anfangs ungesättigt, aber enthalten eine Tendenz, in der Weise zueinander zu finden, dass es zur Sättigung kommt. (Lau Hegels Urteilskritik, 151, Fn. 61)

– Mit dem Einzelnen tritt der Begriff in die Wirklichkeit. Für Liebrucks ist das ein Ab-Fall (ein Sturz) aus der Sphäre des Begriffs in die Wirklichkeit, und für ihn zeigt sich bereits beim Einzelnen ein Aufstand des Verstandes, wobei für ihn der Verstand für die materielle Welt und deren Verhältnisse steht (Liebrucks, 248). Das hat zum Verlust des Begriffs geführt. Hegel schreibt zum Einzelnen: »Der Begriff als diese Beziehung seiner selbständigen Bestimmungen hat sich verloren« (HW 6.298). Für Liebrucks ist das Urteil ein Abstieg in die Höhle (womit die Höhle Platons gemeint ist, in der die dort gefesselten Bewohner nur Schatten und nicht die Wahrheit sehen). Ich verstehe seine Deutung so: Der Abfall aus der Sphäre der Ideen hat sich historisch mit dem Nominalismus fortgesetzt (Namen sind nichts als für sich leere, rein konventionelle Abstraktionen im Kopf, und Hegel begibt sich bewusst auf diese Ebene, wenn er im Kapitel über das Urteil Subjekt und Prädikat als Namen einführt). Dieser Abstieg hat sich heute mit der Dominanz der Prädikatenlogik (und es kann wohl ergänzt werden: mit der analytischen Philosophie) vollendet. In der Deutung von Liebrucks vollzieht sich jedoch für Hegel in dieser Krise (der Nachtmeerfahrt des Begriffs) die Wende. Hegel versteht den Durchgang durch das Urteil, d.h. durch die Tätigkeit des Verstandes, als die Entwicklung des Begriffs. Diese Entwicklung ist zwar im Moment des Urteils verborgen, aber sie ist der übergeordnete Aspekt, der aus dieser Krise wieder hinauszuführen vermag. Das Urteil ist nicht nur leeres formales Rechnen, sondern durch und über das Urteil findet der Begriff seinen Weg in sein Anderssein, in das Begrifflose. Das zu verstehen, darin liegt für Liebrucks der höchste Gipfel der europäischen Philosophie (Liebrucks, 260). Er führt das jedoch nicht weiter aus.

– Peter Ruben will in seiner Prädikationstheorie die Arbeit des Begriffs (Bewegung, Realisation, Teilen) auf die übergreifende Arbeit des Menschen zurückführen. Für ihn bewegt sich nicht der Begriff und tritt aus sich heraus, sondern von der gesellschaftlichen Arbeit des Menschen her ist die Satzbildung als Sinnproduktion zu verstehen. Der Satz ist die elementare Einheit. Der mit ihm gefundene Sinn entspricht dem Gebrauchswert der Waren, sein Wahrheitswert dem Tauschwert. Ähnlich argumentieren manche Richtungen der Sprachphilosophie, die das Sprechen und Urteilen im Kontext von Lebensformen, Sprachhandlungen und dem arbeitenden Sprachgebrauch sehen, so auch bei Stekeler-Weithofer. Für Ruben wird Sinnproduktion geleistet, die zu Namen führt.

– Chong-Fuk Lau hebt Hegels Urteilskritik hervor. Das traditionelle Urteil ist für Hegel die Form des Verstandesdenkens. Er setzt den spekulativen Satz dagegen. Das bringt Hegel in das Paradox, zugleich das Urteilen zu kritisieren und doch nicht anders als in Sätzen und Urteilen sprechen und schreiben zu können. Für Lau gelingt Hegel die Lösung, indem er das Urteil gleichermaßen auf der Objekt-Ebene und der Meta-Ebene behandelt. Aus dem Satz ›S ist P‹ werden bei Hegel die metalogischen Sätze ›das Einzelne ist das Allgemeine‹ und ›das Subjekt ist das Prädikat‹. (Lau, 148f) Weiter ausgeführt: (i) urteilslogisch ›das Subjekt ist das Prädikat‹, (ii) begriffslogisch ›das Einzelne ist das Allgemeine‹ und (iii) wahrheitslogisch ›der Gegenstand ist der Begriff‹ (Lau, 153). Das ergibt für ihn »die metalogische Bedeutung des spekulativen Satzes als dem Niveau der Begriffslogik entsprechend« (Lau, 195).

– Christian Georg Martin arbeitet deutlich die ein-, zwei- und dreistelligen Stufen von Begriff, Urteil und Schluss heraus und versteht das Urteil als eine selbstreflexive Bewegung der Entfaltung eines Einzelnen. Martin sieht angelehnt an Spencer-Brown einen Re-entry, indem sich Selbstbestimmung und »Sich-Bestimmen im Verhältnis« fortlaufend aufeinander beziehen.

Danksagung: Wesentliche Anregungen verdanke ich dem von Angelika Kreß geleiteten Hegel-Kreis an der Universität Tübingen.

Siglen

HW = Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971; Link

MEW = Marx Engels Werke. Werkausgabe, die seit 1956 im Dietz Verlag Berlin herausgegeben wird; Download

Literatur

Chong-Fuk Lau: Hegels Urteilskritik, München 2004; Download

Frege, Gottlob (Frege 1891): Function und Begriff, Jena 1891

Frege, Gottlob (Frege 1983): Logik
in: Frege: Nachgelassene Schriften, Hamburg 1983, 1-8

Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewusstsein, Bd. 6, Teil 3, Frankfurt am Main 1974

Martin, Christian Georg: Ontologie der Selbstbestimmung, Tübingen 2012 (Mohr-Siebeck), vorletzte Fassung online abrufbar über academia.edu

Ruben, Peter: Prädikationstheorie und Widerspruchsproblem
in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.-Sprachw. R. XXV(1976)1, S. 53-63; PDF


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