Walter Tydecks

 

Paul Mason Postkapitalismus - ein Kommentar

Einleitung

Paul Mason (* 1960), ursprünglich Musiklehrer (Posaune, Kurse zur Zweiten Wiener Schule), 1984 in der Zeit des britischen Bergarbeiterstreiks trotzkistischer Aktivist gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung Thatcher (1925-2013, Regierungszeit 1979-1990), seit 1988 in London, dort aktiv in der Dotcom-Ära, seit 2001 Journalist mit Schwerpunkt Wirtschaft.

Mit dem 2015 in London veröffentlichten Buch über den Postkapitalismus ist ihm ein großer Wurf gelungen, was bei aller Kritik von den unterschiedlichsten ökonomischen und politischen Positionen anerkannt wird. Allein die Hinweise auf eine Fülle neuen Materials vor allem aus den USA und UK (United Kingdom) lohnt die Lektüre, aber auch die Ausführungen zu so unterschiedlichen Themen wie die Geschichte der Arbeiterkultur, die Lehren aus der sowjetischen Ökonomie und die neue digitale Produktion geben Anregungen wie kaum ein anderes Buch der letzten Zeit.

Er sieht sich im Ganzen der Tradition der Arbeiterbewegung verpflichtet, vertritt jedoch eine durchaus eigenständige Position. Anders als es Marx vorausgesagt hat, hat sich der Kapitalismus nicht nur bis heute halten können, sondern Phasen großen Wirtschaftswachstums durchgemacht, die in den Ursprungsländern des Kapitalismus der großen Mehrheit der Bevölkerung zu einem materiellen Wohlstand verholfen hat, den Marx nie für möglich gehalten hätte. Aus Sicht von Mason hat Marx zwar als erster eine zutreffende Theorie der Grundzüge des Kapitalismus entwickelt, doch hat er die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus unterschätzt. Diese zeigt sich für Mason vor allem in den Aufschwungphasen der 60-jährigen Kondratjew-Zyklen, die seit den 1920ern systematisch untersucht werden. Der 1. Zyklus 1776-1828 gilt mit der Dampfmaschine und der Baumwoll-Industrie als die 1. industrielle Revolution. Ihr Schwerpunkt lag im Raum Manchester in England, wo Mason aufgewachsen ist. Der 2. Zyklus 1828-1885 brachte die Eisenbahn und Ozeandampfer und mit ihnen den Aufschwung der USA und des Welthandels. Den 3. Zyklus, der von den meisten Theoretikern auf die Zeit von 1885-1936 datiert wird, haben Marx und Engels nicht mehr erlebt. Er wurde getragen von dem Entstehen der Elektro- und chemischen Industrie und führte bereits in den beiden Jahrzehnten 1890-1910 vor dem 1. Weltkrieg zu Änderungen, die Marx nicht erwartet hatte: Die Entstehung des Finanzkapitals mit dem Aufbau von Kartellen und einer gewissen, staatlich organisierten Planwirtschaft (M, 55f). Marxistische Theoretiker dieser Epoche waren Rudolf Hilferding (1877-1941) (Das Finanzkapital erschien 1910), Rosa Luxemburg (1871-1919) (Die Akkumulation des Kapitals von 1913), und auch Wladimir Lenin (1870-1924) reagierte darauf mit seiner Imperialismustheorie (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus wurde 1916 geschrieben).

Während Luxemburg und Lenin glaubten, der Kapitalismus sei mit dem 1. Weltkrieg an sein Ende gekommen und die Weltrevolution stehe bevor, konnte er sich nach 1945 nicht nur erholen, sondern den größten konjunkturellen Aufschwung seiner Geschichte feiern. Zwar hatte Luxemburg zurecht erkannt, dass der Kapitalismus nur bestehen kann, wenn er ständig neue Wirtschaftsbereiche in die Warenzirkulation und Kapitalverwertung einbezieht und sich auszudehnen vermag, doch hatte sie diese Dynamik nur bei der Eroberung neuer Gebiete und vor-kapitalistischer Wirtschaften innerhalb des gegebenen Kolonialsystems für möglich gehalten. Für sie muss der Kapitalismus nach außen wachsen und war mit der vollständigen Aufteilung der Welt um 1910 an eine absolute Schranke gestoßen. Sie hat weder die Möglichkeit gesehen, dass sich die bestehenden Kolonialreiche auflösen und in einen Weltmarkt integrieren können, noch hat sie damit gerechnet, dass sich der Kapitalimus dank staatlicher Planung im Innern erweitern kann (M, 62).

Für Mason ist Gabriel Kolko (1932-2014) der maßgebliche Historiker der Entwicklung in den USA seit 1900. Er hat in The Triumph of Conservatism (New York 1963) mit dem falschen Selbstverständnis aufgeräumt, die USA würden seit Theodore Roosevelt (1858-1919, Republikaner, amerikanischer Präsident 1901-08) von progressives regiert. Er sieht die Wurzeln der neuen amerikanischen Politik in einem Bündnis von Big Business und Regierung, das bereits 1900-1916 entstanden war. Theodore Roosevelts Verwandter Franklin D. Roosevelt (1882-1945, Demokrat, amerikanischer Präsident 1933-45) hat diese Entwicklung unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise von 1929 lediglich konsequent zuende geführt. Im Grunde besteht bis heute eine innere Kontinuität in der US-amerikanischen Politik und Wirtschaft, die erst jetzt von neuen Staaten wie insbesondere China herausgefordert wird.

Für Mason ist die Epoche seit dem 2. Weltkrieg als ein Kondratjew-Zyklus zu verstehen, dessen aktuelle Phase durch den Übergang in einen neuen Zyklus geprägt ist.

– 1945-1971 Golden Age of Capitalism, Aufschwungphase nach dem 2. Weltkrieg, deutliche Verbesserung der Lage der einfachen Menschen in den USA und allen westeuropäischen Ländern

– 1973-2009 Abschwungphase, Krise des Neoliberalismus, die mit der Finanzkrise 2008-09 ihren Abschluss fand

– Seit 1990 Aufschwungphase eines neuen Zyklus, der in den Industrieländern mit dem Siegeszug des PC und des Internet einsetzt, international mit dem Wirtschaftswachstum in China.

Im Ganzen befinden wir uns in einer Übergangszeit vergleichbar der Periode 1890-1910 oder 1935-1950. So wie Luxemburg nach Aufteilung der Welt 1910 das Ende des Kapitalismus erwartete, hat für Mason seit 1970 mit der Informationswirtschaft eine Entwicklung begonnen, die über den Kapitalismus hinausführt: der Postkapitalismus. Erste Anzeichen gehen bis in die 1970er zurück und wurden als New Economy bezeichnet, einem über das Internet und Neue Medien erfolgten ersten Übergang von der klassischen Warenproduktion zu web-basierten Dienstleistungen. Der Handel mit Informationen tritt an die Stelle des Handels mit Waren, Informationsverarbeitung löst die produktive Arbeit in Landwirtschaft und Industrie ab. Daran hat auch der Rückschlag der Dotcom-Blase nichts geändert.

Während mir seine Ausführungen zu den neuen Informationstechnologien gut nachvollziehbar erscheinen, scheint er mir dennoch im Ganzen einer Sicht aus der Perspektive der traditionellen, westlichen Industrieländer verhaftet zu bleiben. Zwar werden die Entwicklungen in China und anderen aufstrebenden Ländern (Emerging markets) erwähnt, jedoch in ihrer Bedeutung unterschätzt. Das führt dazu, dass sowohl seine übergreifende ökonomische Periodisierung wie auch sein Ausblick auf die Zukunft fragwürdig werden. Er kann sich nicht entscheiden, ob ein neuer großer ökonomischer Zyklus bereits in den 1990ern mit dem Aufstieg von China und anderen Ländern begonnen hat, oder ob er erst dann beginnen kann, wenn sich innerhalb der Länder des westlichen Kapitalismus die New Economy von den Zwängen des Finanzkapitals und Monopolen wie denen von Google, Facebook, Apple u.a. befreit. Den Träger für einen Postkapitalismus sieht er weder in der Arbeiterbewegung (dem traditionellen Gegner des Kapitalismus), die in den 1980ern und 1990ern in den westlichen Staaten eine historische Niederlage hinnehmen musste, und auch nicht in Ländern wie China, sondern bei den westlichen Staaten, von denen er erwartet und hofft, dass sie zu einer rationalen Wirtschaftspolitik finden. Länder wie China oder Indien und vielleicht auch einmal Afrika kommen in seinem Zukunftsentwurf nur am Rande vor.

Ökonomie – Krise des Neoliberalismus 1970-2009

Vorbereitungsphase 1933-1945

Für Mason beginnt die Aufschwungphase des aktuellen Kondratjew-Zyklus 1945, für mich dagegen bereits 10 Jahre früher mit den Wirtschaftsreformen von Roosevelt. Auch wenn er die Datierung des Zyklus anders sieht, kommt Mason inhaltlich zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Anfänge und die Ursachen des Wirtschaftsaufschwungs nach 1945 liegen im New Deal von 1933-38 und den Neuerungen, die unter dem Druck des 2. Weltkriegs 1939-45 eingeführt wurden. Das lässt sich bis in die Naturwissenschaften nachweisen: Die Neurophysiologie und Kybernetik erlebten in den 1940ern ihren Durchbruch und bestimmen bis heute die wissenschaftliche Entwicklung. Die Konsequenzen bis in die Soziologie und Philosophie sind bis heute kaum absehbar (siehe hierzu die Arbeiten zu Bateson und Spencer-Brown).

Der Staat überließ in den USA die Innovation nicht einfach den Privatunternehmen, sondern übernahm in der Forschungs- und Innovationsplanung eine führende Rolle. Insbesondere gelingt es den USA bis heute, aus aller Welt die führenden Forscher an ihre Universitäten und Forschungseinrichtungen zu holen, die nach wie vor im internationalen Vergleich am besten ausgestattet sind. Im 2. Weltkrieg waren große Industriebetriebe wie z.B. General Motors auf Kriegsindustrie umgestellt und staatlich gelenkt worden (M, 84). Daraus entwickelte sich ein neues Modell des Kapitalismus: Die Privatindustrie bleibt erhalten, aber der Staat fördert die Forschung. Dasjenige Land gewinnt, dem es am besten gelingt, Grundlagenforschung zu betreiben und einen erfolgreichen Transfer der naturwissenschftlichen Ergebnisse in die daraus abgeleiteten Technologien der Privatindustrie zu organisieren. So arbeitete Claude Shannon (1916-2001), der Gründer der Informationstheorie anfangs bei den Bells Labs an der Entwicklung von anti-aircraft guns und traf dort auf Alan Turing (M, 85). Aus der Kriegswirtschaft entstand eine eigene Managementlehre und förderte dezentrales Management. Das Ergebnis war durchschlagend. Es hatte schon »semi-automated machinery; pneumatic presses, drills, cutters, lathes, sewing machines and production lines« gegeben, nun kam mit »electronic sensors and automated logic systems« der fehlende »feedback mechnism« hinzu (M, 86). Das ermöglichte den einzigartigen Aufschwung bis in die 1970er. Im Westen wuchs die Produktivität jährlich um 4,5 %, der private Konsum um 4,2 % (M, 88). Im Weiteren wird jedoch deutlich, dass es so etwas im Kapitalismus nie wieder geben wird. Die in den 1960ern blühenden Zentren der Arbeiterkultur sind nach 2000 völlig verödet, siehe den Rostbelt in den USA und die früheren Arbeitergebiete in UK, in denen auch Mason aufgewachsen war.

Von marxistischer Seite wurde diese Phase als Staatsmonopol-Kapitalismus bezeichnet, so bereits vorausschauend Nikolai Bucharin (1888-1938), Eugen Varga (1879-1964) und Paul Sweezy (1910-2004), die drei großen marxistischen Ökonomen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Aufschwungphase 1945-1970

1945 stellte sich vorrangig die Frage nach dem Abbau der Kriegsschulden. Die USA hatten durch den Krieg eine wesentlich stärkere Position erlangt als UK nach dem 1. Weltkrieg und konnten die Fehler vermeiden, die in den 1920ern gemacht worden waren. Ein umfassender Schuldenerlass wurde jedoch auch jetzt nie ernsthaft in Betracht gezogen. Mason bezieht sich auf eine 2011 beim National Bureau of Economic Research (Cambridge, Massachusetts) entstandene Studie von Carmen M. Reinhart und M. Belen Sbrancia The Liquidation of Government Debt (nber.org).

»You hold interest rates below inflation, so savers are effectively paying for the privilege having money; you prevent them moving money out of the country in search of a better deal, and force them to buy the debts of their own country at a premium. [...] The interest rates became negative: in the USA between 1945 and 1973, the long-term real interest rates were on average minus 1,6 per cent. [...] The result was to shrink advanced country debts on a historic low of 25 per cent of GDP by 1975.« (M, 83)

Reinhart und Sbrancia fassen die Entwicklung mit zwei aussagekräftigen Grafiken zusammen. Die erste Graphik zeigt die Staatsschulden in Prozent des Bruttosozialprodukts, die zweite Graphik die Realzinsen auf Staatsanleihen:

Staatsschulden

Staatsschulden in % vom Bruttosozialprodukt 1901-2011 in hochentwickelten und aufstrebenden Ländern
Nach dem 1. Weltkrieg wurden Schulden durch Schuldner-Verzug (default), Restrukturierung bis zum partiellen Schuldenerlass (restructuring) und Umwandlung (conversion) und einige wenige Hyperinflationen abgebaut, nach dem 2. Weltkrieg in einer langen Aufschwungphase durch moderate Inflation und negative Realzinsen. Aktuell haben in den hochentwickelten Ländern die Staatsschulden erneut einen Stand wie nach einem Weltkrieg, während die aufstrebenden Ländern die Voraussetzungen geschaffen haben, dass sie einen neuen Aufschwung anstoßen können.
Quelle: Reinhart, Sbrancia, S. 8

Realzinsen

Realzinsen auf Staatsanleihen (Treasury Bills) 1945-2009 in hochentwickelten und aufstrebenden Ländern
Quelle: Reinhart, Sbrancia, S. 21. Die Autoren zeigen in weiteren Diagrammen die Realzinsen für Discount Rate und für Deposits mit ähnlichen Verläufen.

Ergänzungen und Anmerkungen auf Basis des Textes von Reinhart und Sbrancia
    Die Studie von Reinhart und Sbrancia geht in manchen Aspekten über die Arbeit von Mason hinaus, und es lohnt, mehr in die Tiefe zu gehen.
    Nach dem 1. Weltkrieg wurde in den USA der Goldstandard nicht aufgegeben, sondern mit aus heutiger Sicht unvorstellbar harten Maßnahmen durchgesetzt, so einem Verbot des privaten Goldbesitzes 1933. Das erwies sich auf Dauer gesehen als Zeichen der Stärke, mit der die Konkurrenten wie UK in die Knie gezwungen werden konnten. Daher war zu dieser Zeit eine Inflation mit Ausnahmen wie in der deutschen Hyperinflation keine Option für die Schuldentilgung. Stattdessen wurden Schulden verzögert, umgeschuldet und in geringem Maß ganz erlassen. UK wollte mit allen Mitteln an seiner Dominanz festhalten, was letztlich nicht gelang.
    Nach dem 2. Weltkrieg ergab sich in den 10 Jahren 1945-1955 eine einzigartige Situation. Der Wirtschaftsaufschwung war dank der Innovationserfolge der 1930er und 1940er und des erstmals hergestellten Weltmarkts so kräftig, dass trotz einer moderaten Inflation und negativer Realzinsen nicht nur der Goldstandard aufrecht erhalten, sondern ab 1955 zu positiven Realzinsen zurückgekehrt werden konnte, die bis 1961 weiter stiegen. Erst danach kehrt sich das Bild um. Zwar war die Schuldenlast des 2. Weltkriegs im Wesentlichen getilgt und die Wirtschaft auf Wachstum gebracht, aber jetzt begannen die USA ihre eindeutige Vormachtstellung zu verlieren. Sie gerieten in die gleiche Lage, in die sie nach dem 1. Weltkrieg UK gedrängt hatten. Es ist verständlich, wenn sie aus ihrer Sicht den zu langsamen Kursanstieg der Währungen der anderen, aufholenden Industrieländer beklagen und den Dollar für unterbewertet hielten, weswegen es zu Abflüssen aus den USA kam. Das eigentliche Problem lag aber darin, dass die USA nicht nur den Dollar an das Gold binden, sondern zu ihrem Vorteil am Dollar als Weltwährung festhalten wollten. Am Ende mussten sie sich entscheiden, entweder den Goldstandard oder den Dollar als Weltwährung aufzugeben und wählten die Weltwährung und mit ihr die seither verfolgte Politik der Geldschöpfung.
    Mittels Geldschöpfung konnten die Staatsschulden noch einige Jahre weiter abgebaut werden. Aber das erhöhte die Inflation und drückte die Realzinsen erneut in den negativen Bereich. Die Kosten des Vietnam-Kriegs wurden auf ähnliche Weise getilgt wie zuvor die im 2. Weltkrieg entstandenen Schulden. Alles schien sich zum Guten zu wenden. Die Realzinsen wurden wieder positiv und die Goldenen 1990er schienen die 1920er und 1960er neu aufleben zu lassen. Doch war das in den hochentwickelten Ländern mit einem extremen Anwachsen der Staatsschulden (und der privaten Verschuldung) verbunden. Dies System geriet 2009 endgültig in die Krise. Wie bereits zur Zeit des 2. Weltkriegs trennen sich die Wege der hochentwickelten und der aufstrebenden Länder. Während sich die hochentwickelten Länder in einer Schuldenkrise befinden, haben sich die aufstrebenden Länder eine weit bessere Lage verschaffen können und werden kaum mehr wie nach dem 2. Weltkrieg bereit sein, im Rahmen kolonialer Vergangenheit dem Westen dessen Schulden zu übernehmen. – Entgegen dem allgemeinen Eindruck in der Wirtschaftspresse gehört auch Russland mit einer Quote der Staatsverschuldung von lediglich 17,1 % (tradingeconomics) zu den aufstrebenden Ländern.
    Da ein großer Teil der Ersparnisse in Staatspapieren (Staatsschulden) angelegt ist, – sei dies direkt von Privatpersonen oder indirekt über ihre Versicherungen –, wirken die negativen Realzinsen wie eine zusätzliche Steuer. Die Sparer verlieren fortlaufend einen Teil des von ihnen beim Staat angelegten Geldes. Aber das ist anders als bei sinkendem Einkommen oder höheren Steuersätzen nicht direkt sichtbar. Die negativen Realzinsen »are determined by financial regulations and inflation performance that are opaque to the highly politicized realm of fiscal measures« (Reinhart, Sbrancia, 19).

Fundament des einzigartigen Aufschwungs waren die neue Weltordnung von Bretton Woods 1944, der Marshall-Plan 1948, der Kalte Krieg und als technologische Innovation der Transistor. In der Aufschwungphase 1948-1973 verdoppelte sich die US-Wirtschaft, Westeuropa vervierfachte sich, Japan verzehnfachte sich (M, 79). Es kam zur epochalen Wanderung vom Land in die Städte. »Between 1950 and 1970 the agricultural workforce in Europe declined from 66 millions to 40 millions; in the USA it collapsed from 16 per cent of the population to just 4 per cent.« (M, 80)

Zusammenfassend hatte der Aufschwung zwei Ursachen: (i) Die seit 1910 eingeführte Wirtschaftspolitik, die im Folgenden konsequent weitergeführt wurde, z.B. im New Deal, der Kriegsindustrie, den Aufbau staatlicher Forschungszentren und einer Finanzpolitik, mit der nach 1945 zügig die Kriegsschulden abgebaut und den Privatunternehmen wieder finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden konnten. (ii) Herausbildung des Welthandels, Zusammenbruch der Kolonialsysteme.

Krisenjahre der 1970er

Ab 1970 brach das auseinander. Der Tiefpunkt wurde mit dem Ölschock erreicht. Die amerikanische Industrieproduktion ging von Januar 1974 bis März 1975 um 6,5 % zurück, die britische um 3,4 % (M, 87). Die USA konnten das System von Bretton Woods nicht aufrecht erhalten. In den anderen Industrieländern stieg die Produktivität weit stärker. Die werteten ihre Währungen auf, jedoch aus amerikanischer Sicht zu spät (was als unfair gegen die USA empfunden wurde). Kapital und Gold flossen aus den USA ab. Daher der von Henry Kissinger (* 1923) gemanagte Nixon-Schock 1971: Aufhebung des Gold-Standard und Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Volksrepublik China. (Die meisten westlichen Ökonomen sehen davon bis heute nur die eine Seite: die Aufhebung des Goldstandard, und übersehen die langfristigen Folgen des veränderten Verhältnisses zu China, so auch Mason.)

Es folgten Jahre der offenen politischen Kontroverse. Die Konservativen deuteten die Krise als Folge des Keynesianismus, der dem Staat zu viel Macht gegeben und mit Einführung weitgehender sozialer Systeme (»soziale Hängematte«) in der Bevölkerung das auf der natürlichen Konkurrenz beruhende Unternehmertum eingeschläfert hat, die Marxisten erklärten dagegen die Krise als Überproduktionskrise am Ende des langen Zyklus, die umgekehrt mit einem erweiterten Keynesianismus und stärkerer Einbeziehung gewerkschaftlicher und sozialer Kräfte wie z.B. Bürgerinitiativen zu lösen ist. Bei den Eliten der USA und UK setzte sich die Überzeugung durch, die Macht der Gewerkschaft radikal brechen zu können. Sie sahen, dass der klassischen Arbeiterbewegung im Westen mit dem Niedergang der industriellen Produktion die wesentliche Grundlage entzogen wurde. Deutschland machte zunächst nicht mit und hielt am sozialen Konsens der 1950er fest (»Modell Deutschland«), galt daher bei den Neoliberalen als kranker Mann Europas, und zog erst 2003 mit den Hartz II Reformen nach. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad sank dramatisch, in den USA 1980 bis 2003 von 20 auf 12 %, in UK von 50 auf 30 %, in Japan von 31 auf 20 %. Das ist für Mason das erste Mal, dass während eines Zyklus »worker resistance collapsed« (M, 93). Das Ziel war »atomization« der Bevölkerung (M, 93).

So wie Mason die Phase 1936-45 nicht als Vorbereitung des Zyklus 1936-90 versteht, so sieht er die 1970er und 1980er nicht als die Krisenphase des gleichen Zyklus. Die spektakulärste Erfindung der 1950er war zwar sicher der Transistor und der 1960er das Entstehen der EDV-Industrie. Dennoch war im Ganzen der Träger dieses Zyklus die Erdölwirtschaft einschließlich der Auto-Industrie, Bau der notwendigen Infrastruktur (Straßen- und Tankstellennetz, Autowerkstätten).

Krise des Neoliberalismus 1970-2009

Stattdessen geht es Mason um etwas Anderes: Er sieht übergreifend den Aufschwung und die Krise des Neoliberalismus von 1970-2009.

(1) Geldschöpfung, Fiat Money. Auslöser war die Aufhebung des Goldstandards 1971, heute gibt es selbst in China entsprechende Entwicklungen.

(2) Financialization. An allem wollen die Banken Geld verdienen. Selbst Verträge für Handys, Verträge mit Wellness-Einrichtungen, Autoversicherung, Hochschulstudium werden in komplexe Finanzpakete aufgenommen. Die Verlagerung zum Finanzwesen ist nach Fernand Braudel (1902-1985) immer Zeichen einer untergehenden Epoche.

(3) Imbalanced World. Es gibt in der Welt eine möglicherweise von internationalen Vermögensverwaltern gesteuerte »Arbeitsteilung«: Die einen (China, Korea, Japan, Deutschland, Tschechien, Slowakei und einige andere) erwirtschaften Exportüberschüsse, die anderen verschulden sich. Wer an beiden beteiligt ist, kann doppelt gewinnen. Zugleich sind in den jeweiligen Ländern Eliten entstanden, die am Status quo mit profitieren und Änderungen blockieren. Es droht jedoch eine Migrationsbewegung gigantischen Ausmaßes und als Antwort darauf Re-Nationalisierung und Protektionismus.

(4) Info-Tech Revolution. Hier sieht Mason die Zukunft. Information hat keinen Warencharakter und entzieht sich der Kapitalisierung. Wikipedia ist Vorreiter einer möglichen Alternative. – Eigenartigerweise sieht er das Erstarken Asiens (derzeit China und bald wohl auch Indien) nicht als einen der großen Trends. China zieht auf eigene Art seine Lehren sowohl aus dem Neoliberalismus wie dem Scheitern der Sowjetunion und wird schon allein aufgrund seiner Größe und seines Erfolges eine zunehmende Herausforderung für den Neuliberalismus bis hin zu dessen philosophischen Grundlagen werden.

Allerdings bleibt die Sicht von Mason stark beschränkt auf die Entwicklung in den Industrieländern. Daher zeigt sich nur in Ansätzen, was weltweit seit den 1980ern geschieht. Nachdem in den westlich orientierten Entwicklungsländern von Südamerika über Afrika bis Indien weltweit alle Formen der Entwicklungspolitik gescheitert und die Sowjetunion samt dem von ihr dominierten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon) zusammengebrochen waren, ging die Initiative an China über. Diese Geschichte ist noch nicht geschrieben. Mason nennt jedoch die Fakten. Seine Quelle ist vor allem Douglas McWilliams (* 1952, einer der führenden britischen Ökonomen, 2015 in Skandale verwickelt) The Greatest Ever Economic Change Transcript (gresham.ac.uk vom 13. Sep. 2012). Von 1870 bis 1970 hatte Asien ohne Japan einen Anteil an der Weltproduktion von kaum mehr als 3 %. Seine Exportwaren beschränkten sich auf wertlose Billigprodukte und Rohstoffe. 1968 gab es – vermutlich als unerwartete Nebenwirkung des Vietnam-Kriegs – erste Anzeichen einer Änderung. Fairchild Semiconductor beginnt in HongKong mit der Produktion fortgeschrittener Elektronik. (Fairchild stellte die ersten integrierten Schaltkreise her, 1968 gründeten Mitarbeiter von Fairchild die Intel Corporation, die heute weltweit 80% aller Mikroprozessoren herstellt.) – Japans Anteil wuchs 1870 bis 1991 von 2,3 % auf 8,7 %, erreichte damit jedoch eine Grenze, über die es nicht hinauskommt. Geradezu sensationell und historisch einmalig verläuft dagegen die Entwicklung auf dem asiatischen Kontinent. »Between 1700 and 1820 world GDP nearly doubled, increasing by 87%. And there was a further increase of 60% in the 50 years between 1820 and 1870. [...] By comparison, if we take the more recent period since East Asia other than Japan started to industrialise, from 1970 to 2008 world GDP rose by 270% and world GDP per capita rose by 104%.« (McWilliams, 7)

Bei Prozentvergleichen ist die Auswahl der Bezugspunkte entscheidend. Zwar waren die Wachstumszahlen nach 1945 teilweise noch höher, doch lag das am Wiederaufbau nach den Kriegszerstörungen der beiden Weltkriege. Stattdessen sollte auf das Jahr vor Ausbruch der Weltkriege zurückgegangen werden. »Taking a longer period from 1913, world growth was respectable at 2.8% – good but significantly below that more recently during the Asian industrialisation.« (McWilliams, 7) Nie ist in der Geschichte der Menschheit die Produktion weltweit so stark gewachsen wie in den vergangenen 25 Jahren. Das wirkt sich direkt auf den Lebensstandard der Menschen aus. Trotz aller Katastrophen geht weltweit der Hunger zurück und die Lebenserwartung ist weltweit 1960-2010 von 50 auf 66 Jahre gestiegen.

Mit dem Aufstieg Chinas ergibt sich seit den 1980ern eine Trendwende in der weltweiten Ungleichheit. In einer von Mason genannten Studie betont Branko Milanovic Global Income Inequality by the Numbers: In History and Now (Worldbank 2012): Historisch betrachtet hatte die von Europa und Nordamerika ausgehende Industrialisierung 1850-1950 ein ständig wachsendes weltweites Einkommensgefälle geschaffen. Der 2. Weltkrieg und die nachfolgenden Unabhängigkeitskriege der früheren Kolonien bewirkten noch keine Umkehr, aber immerhin, dass das Ungleichgewicht 1950-2000 stabil blieb (Milanovic, 17). Die Wende trat 1988-2008 ein. Seither holen die aufstrebenden Länder deutlich auf. Eine von Mason zitierte Graphik zeigt, dass in diesem Zeitraum weltweit betrachtet sowohl die unteren und mittleren Einkommen als auch die Spitzeneinkommen deutlich zulegen konnten. Verlierer waren die ganz Armen und die gehobene Mittelschicht.

gewinner und verlierer 1988-2002

Gewinner und Verlierer 1988-2008 weltweit
x-Achse: Position in der Einkommensverteilung, z.B. reicher als 40 % oder als 95 % aller anderen
y-Achse: Einkommensveränderung von 1988 bis 2008
Quelle: Branko Milanovic Global Income Inequality by the Numbers: In History and Now, Weltbank 2012, S. 13, bei Mason zitiert S. 102

Wird das nach Ländern differenziert, konnten sich vor allem die Chinesen mit mittlerem und geringen Einkommen deutlich verbessern, etwas weniger stark auch die Inder. Verlierer waren Afrika, Osteuropa einschließlich Russland und große Teile der traditionellen Arbeiter- und Mittelschichten in Europa und Südamerika (sie liegen in dieser Graphik auf der horizontalen x-Achse ungefähr im Bereich der Prozentpunkte 85 bis 95). »We find some 200 million Chinese, 90 million Indians, and about 30 million people each from Indonesia, Brazil and Egypt. These two groups – the global top 1% and the middle classes of the emerging market economies – are indeed the main winners of globalization.« (Milanovic, 12). Mason formuliert es aus Sicht der entwickelten Länder: »For everybody in between the super-rich and the developing world – that is for the workers and lower-middle class of the West – there is a U-shaped hole indicating little or no real increase. That hole tells the story of the majority of people in America, Japan and Europe – they gained almost nothing from capitalism in the past twenty years. In fact, some of them lost out. That dip below zero is likely to include black America, poor white Britain and much of the workforce of southern Europe.« (M, 102f) Bisher geht die im Ganzen dringend notwendige Umverteilung zugunsten der aufstrebenden Länder in den entwickelten Ländern ausschließlich auf Kosten der Arbeiterklasse und Mittelschicht, während die Spitzenverdiener vorerst auch von dieser Entwicklung zusätzlich profitieren.

Seit 1991 hat sich der Anteil der Ärmsten deutlich verringert (M, 103). Die Entwicklung geht vor allem auf das Wachstum in China zurück, wirkt sich aber auch in anderen Weltteilen nachweisbar positiv aus.

Beschäftigung nach Einkommensklassen

Beschäftigung nach Einkommensklassen weltweit
Quelle: Steven Kapsos, Evangelia Bourmpoula Employment and Economic Class in the Developing World (ILO 19. Juni 2013), bei Mason zitiert S. 103

Diese Tabelle zeigt zugleich, in welchem Ausmaß billige Arbeitskräfte in den Entwicklungsländern in Konkurrenz zu den bestehenden Arbeitskräften in den Industrieländern getreten sind. Am stärksten hat sich die Gruppe mit Einkommen bis zu 13 $ pro Tag verbessern können. Sie gilt dort als Mittelschicht, dieser Wert bedeutet jedoch in den USA die Armutsgrenze. Für Mason ist diese Möglichkeit jetzt ausgeschöpft. Es wurden nur relativ unproduktive Arbeitsplätze geschaffen, zu einem großen Teil im Dienstleistungsbereich wie beispielsweise den Callcentern. Dennoch geht es denen, die das geschafft haben, im Vergleich zu ihren Vorfahren gut. Mason bringt es auf den Punkt: »They have access to banking and insurance, are likely to own a TV, and usually live in small family groups, not the multigenerational families of the slums, or the solitude of dormitory. Three-quarters of them work in service industries.« (M, 104)

Die Entwicklung seit den 1990ern ist für ihn jedoch nicht das Zeichen der Aufschwungphase eines neuen Kondratjew-Zyklus, sondern Ergebnis einer historischen Niederlage der Arbeiterbewegung, die es dem Kapital möglich gemacht hat, die Arbeit seit den 1980ern weltweit neu zu verteilen. Er sieht die Initiative ausschließlich beim Kapital und konstruiert eine Geschichte, als sei bewusst die klassische Arbeiterbewegung niedergerungen worden, um anschließend bei der Produktionsverlagerung in die Entwicklungsländer freie Hand zu haben. Das ist der kritische Punkt, an dem mir seine Analyse falsch zu liegen scheint. Daran ist zwar insoweit etwas richtig, als bisher die Superreichen davon profitieren konnten. Er hat auch recht, wenn er feststellt, dass diese Phase des »rebalancing« sogar »many rational people« glauben ließ, ein »new age« sei angebrochen, womit er wohl die Euphorie der Dotcom-Ära in den späten 1990ern meint (M, 105). Aber er liegt meiner Ansicht nach falsch, wenn er diese Phase noch dem vierten Kondratjew-Zyklus zuschreibt, der für ihn nicht bis in die 1970er, sondern bis 2008 dauert. Für ihn ist es dem Kapital gelungen, mit dem Sieg über die gewerkschaftliche Macht (exemplarisch durch Thatcher in den 1980ern in UK), den gewöhnlichen Zyklus zu verlängern, und ein Ende ist für ihn erst absehbar, wenn innere Widersprüche (die Null-Grenzkosten-Ökonomie) und äußere Schocks wie die Klimakatastrophe, Migration und Überalterung der Gesellschaft das System an seine Grenzen treiben.

Eine andere Sichtweise ergibt sich, wenn der Aufschwung seit den 1990ern als Beginn eines neuen Zyklus gesehen wird, der weltweit zu einer signifikanten Zunahme der Beschäftigung und damit im weitesten Sinn der arbeitenden Klasse geführt hat. Zwar erwähnt Mason Richard Freeman (* 1943): »The Harvard economist Richard Freeman calculated that between 1980 and 2000, the world's workforce doubled in absolute numbers, halving the ratio of capital to labor. Population growth and foreign investment boosted the workforce of the developing world, urbanization created a 250-million-strong working class in China, while the former Comecon countries workforces were suddenly available to the global market.« (M, 103) Das hat zu einem Anstieg der Zahl der Lohnabhängigen von 1,46 Mrd auf 2,93 Mrd Menschen geführt (Freeman, 1). Aber Mason übersieht, wie Freeman fortfährt. Für Freeman ist es eine große Täuschung, wenn der Westen glaubt, auf Dauer über ein Monopol an hochqualifizierter Technologie und entsprechend geschultem Personal zu verfügen.

»In 1970, approximately 30 percent of university enrollments worldwide were in the United States; in 2006, approximately 12 percent of university enrollments worldwide were in the United States. Similarly, at the Ph.D. level the U.S. share of doctorates produced around the world has fallen from about 50 percent in the early 1970s to 18 percent in 2004. Some of the growth of higher education overseas stems from European countries rebuilding their university systems after World War II, and some owes to Japan and Korea investing in university education. By 2005, several EU countries and Korea were sending a larger proportion of their young citizens to university than the United States. But much is due to the growth of university education in developing countries, whose students made up nearly two-thirds of university enrollees in 2000. China has been in the forefront of this; between 1999 and 2005, China increased the number graduating with bachelor's degrees fivefold to four million people.« (Freeman, 3f).

Der Bildungshunger in Ländern wie China und Indien ist unvorstellbar und nur zu vergleichen mit der Situation in England nach 1800 oder in Russland nach 1917. Wie sich im Weiteren zeigen wird, müsste Mason das aufgrund seiner eigenen Erfahrung in England wissen. Mit diesen Menschen wächst eine Kraft heran, die nicht nur produzieren, sondern vielleicht schon heute die Lösung der von Mason angesprochenen Schocks wie die Klimakatastrophe aktiv angehen wollen. Mason vertraut stattdessen den Staaten der entwickelten Länder, dass sie und mit ihnen eine Lösung etwa der Klimakatastrophe anzugehen ist. Ihm wurde daher nicht zu unrecht eine gewisse Blauäugigkeit vorgeworfen. Für mich ist es im Grunde ähnlich wie in früheren Epochen des Kapitalismus, wenn es gelungen war, neue Schichten und Bevölkerungsgruppen in die Produktion zu holen und dadurch im ersten Schritt eine Spaltung der Arbeiterklasse zu bewirken. Diese Gruppen wurden dann jedoch ihrerseits zu Trägern neuer Bewegungen.

Anmerkung zur aktuellen Wirtschafts- und Finanzpolitik der USA
    Wie können die USA heute die hohen Staatsschulden und niedrigen Zinsen überwinden? Sie suchen offensichtlich nach einer Strategie, den Dollar so schwach zu machen, dass der amerikanische Export und damit die amerikanische Industrie neu belebt werden und über wachsende Beschäftigung und Löhne erneut die Schulden durch moderate Inflation und Realzinsen abgebaut werden können. Sie hoffen, dass sich in den kommenden Jahren ein kurzes Zeitfenster öffnet, in dem sie noch von den Vorteilen der gut ausgebauten Infrastruktur, den Forschungs- und Entwicklungskapazitäten und der hohen Ausbildung ihrer Bevölkerung profitieren können, während China in eine Entwicklungskrise geraten könnte, wenn dort auf der einen Seite die Löhne steigen und auf der anderen Seite die Wirtschaft im Ganzen noch nicht so in die Breite und Tiefe gewachsen ist wie in den westlichen Ländern in den 250 Jahren seit Beginn der Industrialisierung und insbesondere in den vergangenen 100 Jahren enger Zusammenarbeit von Staat und Wirtschaft (siehe hierzu den Bericht 2016 Global Manufacturing Competitiveness Index von Deloitte). Um das tun zu können, müssen die USA protektionistisch werden und sich damit nicht nur gegen China, sondern auch gegen ihre eigenen Bündnispartner stellen. Sie drohen zugleich für die gut ausgebildeten Forscher aus anderen Ländern an Attraktivität zu verlieren. Es ist offen, ob und welche neuen Bündnisse sich daraus ergeben. Das grundlegende Problem scheint mir zu sein, dass sich die USA nach wie vor weigern, zu einem Handelspartner unter vielen zu werden, und starr an ihren Privilegien festhalten wollen.

Info-Kapitalismus und Null-Grenzkosten-Gesellschaft

Seit den 1990ern wird eine neuartige Entwicklung sichtbar. Eine Vorahnung sieht Mason im sogenannten Maschinenfragment in den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie von Marx (MEW 42.590-605). Neuere Autoren zu dieser Thematik sind Peter Drucker (1909-2005) Post-Capitalist Society (1993) und Paul Romer (* 1955) Endogenous Technological Change (1990). Im Gegensatz zu den üblichen Produkten und Dienstleistungen können Software-Produkte beliebig oft »konsumiert« werden. Hier entstand die Open Source Bewegung mit Wikipedia als Präzedenzfall. Das Netzwerk tritt an die Stelle einzelner Endgeräte. Meilensteine sind erste soziale Netzwerke wie MySpace seit 2003, das iPhone 2007, die Verbreitung des Betriebssystem Linux auf Webservern. Musik kann inzwischen umfassend über Portale wie YouTube abgerufen werden, Filme und möglicherweise Bücher beginnen zu folgen und eine Ausweitung auf den Hardware-Bereich mittels 3D-Druck könnte das abschließen, wenn im Rahmen der Maker-Bewegung nicht nur Kochrezepte, sondern Blaupausen zum Druck einer ständig wachsenden Palette von Gebrauchsartikeln bis hin zu Nahrungsmitteln möglich wird. Yoachi Benkler (* 1960) The Wealth of Networks (2006). – Ein Teil der Neuen Linken schließt sich an, so Toni Negri (* 1933), Paolo Virno (* 1952), Maurizio Lazzarato, Jeremy Rifkin (* 1945) Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft (1995) und Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft (2014). Siehe auch Yann Moulier-Boutang (* 1949) Cognitive Capitalism (2011). Mason formuliert kursiv seine These:

»Today, the main contradiction in modern capitalism is between the possibility of free, abundant socially produced goods, and a system of monopolies, banks and governments struggling to maintain control over power and information. That is, everything is pervaded by a fight between network and hierarchy.« (M, 144)

Mason geht zurück auf die Arbeitswertlehre von Smith, Ricardo und Marx. Sie war im 19. Jahrhundert von der bürgerlichen Ökonomie kritisiert worden. Die wollten an ihre Stelle empirische Untersuchungen von Preisen und Grenzkosten setzen. Für die bürgerlichen Ökonomen gehen Werte nicht zurück auf die in den Produkten enthaltene Arbeitszeit, sondern bilden sich frei auf dem Markt. Eine Ausweitung der Produktion lohnt, wenn für eine zusätzliche Produkteinheit Kosten und Erlös kalkuliert werden und beim Verkauf noch einen Gewinn versprechen. Im klassischen Modell wachsen aufgrund der Endlichkeit der Ressourcen irgendwann die Grenzkosten so stark an, dass eine Ausweitung der Produktion nicht mehr lohnt. Daher wird sich aus Sicht ihrer Vertreter immer ein rationales Gleichgewicht herstellen.

Dieses mathematische Modell ist jedoch nicht mehr haltbar bei den elektronischen Gütern. Die Kosten für Transistoren, Hauptspeicher und Breitband sind innerhalb von 10 Jahren auf einen Bruchteil gefallen. Das liegt an der extrem hohen Automatisierung und der Verwendung von Blaupausen. Zwar gilt weiter das Gesetz, dass auch das Internet und die Cloud auf physischen Werten beruhen (Rechenzentren, Energie, Wärmeabstrahlung, Kabel, usf), aber der Preisverfall ist einzigartig. Siehe die von Mason genannten Zahlen von John Hagel u.a. From exponential technologies to exponential innovation (2013) bei Deloitte sowie den Bericht Measuring the Internet Economy (2013) von der OECD.

Hagel CPU

Hagel GB

Hagel mbps

IT Preisverfall nach Hagel u.a, bei Deloitte

Ergänzung: Hagel u.a. betonen, dass die technische Produktivität wesentlich schneller steigt als die Arbeitsproduktivität der Beschäftigten. Jedes Unternehmen ist daher durch unerwartete technologische Sprünge bedroht. Das wirft ungelöste Fragen zur Arbeitsorganisation, Talentsuche und Mitarbeiterführung (Hierarchie) auf.

Darauf gibt es bisher als Antwort nur eine Monopol-Bildung, wie sie früher in der Wirtschaft nicht üblich war und der liberalen Theorie diametral widerspricht: Apple, Google, Facebook, Amazon. Doch ist kaum zu erwarten, dass sie sich langfristig halten lassen. Der Besitz dieser Firmen besteht überwiegend aus Blaupausen, die irgendwann verraten oder kopiert werden können.

Mason sieht drei Gründe, warum der Kapitalismus darauf keine Antwort finden wird:

– Blaupausen drängen immer weiter in Kernbereiche der Wirtschaft vor, so »biotech, space travel, brain reconfiguration or nanotechnology« (M, 173), zu ergänzen wäre 3D-Druck.

– In den letzten Jahrzehnten gab es eine gigantische Verdrängung von Handarbeit durch »clerical workers« (Kontoristen, Beschäftigte in Büros in Verwaltungen). Zur Zeit von Marx betrug ihr Anteil an den Beschäftigten 0,6 %, in den 1970ern fast 20 %. Diese Gruppe wird als nächste der Automatisierung durch Informationstechnologien zum Opfer fallen.

– Als Alternative entstehen Berufe für alle Dienstleistungen im persönlichen Leben, »hired girlfriend, the commercial dog-walker, the house-cleaner, the gardener, the caterer and the personal concierge« (M, 174). Hier werden jedoch die Grenzen der ökonomischen Vernunft erreicht. »You would have to treat people kissing each other for free.« (M, 175)

– Schließlich bleibt die Frage der Eigentumsrechte und Lizenzen (property rights). Heute kämpft z.B. Facebook darum, die Rechte an allen Bildern und Filmen zu besitzen, Google die Rechte am Click-Verhalten der Anwender usf. (Siehe hierzu Jaron Lanier, * 1960).

Beautiful Troublemakers

Etwas unvermittelt schiebt Mason einen Rückblick auf die Arbeiterbewegung ein. Wird die neue ökonomische Wende der Arbeiterbewegung unerwartete Perspektiven verleihen können? Diese kurze Geschichte der Arbeiterklasse zeigt die tiefen Gefühle und die Verbundenheit von Mason mit seiner Herkunft. Er stammt aus dem klassischen Industriegebiet Englands im Norden von Manchester. Marx, Lenin und die Kommunisten hatten aus Sicht von Mason im Grunde immer ein ambivalentes Verhältnis zu den Arbeitern. Für Marx war das Proletariat letztlich die »ready-made solution to a philosophical problem« (M, 182), für Lenin Vehikel für eine von einer Partei gesteuerte Revolution, die sich jedoch nie ernsthaft für »worker's control« stark machte (M, 192). Die Realität sieht für Mason ganz anders aus. Immer wieder war gesagt worden, die Arbeiter könnten sich nicht selbst bilden, brauchen eine Partei, so wie bei Kant und Hegel der Verstand der Vernunft bedarf, und würden sich allein gelassen aufreiben in Maschinenstürmerei, Frauen- und Fremdenfeindlichkeit, sobald Frauen und andere Völker als Konkurrenten in Arbeit drängen, und sind daher anfällig für Chauvinismus und Patriotismus. Daran ist etwas Wahres, aber für Mason zeigt sich in der Geschichte der Arbeiterklasse eine ganz andere Grundtendenz, die letztlich über alle diese drohenden Abirrungen hinwegging und von den Theoretikern der kommunistischen Bewegung unterschätzt wurde, ihr Hunger nach Bildung und einer eigenen Kultur. So war es schon, als 1819 die Arbeiter von Manchester »set up night schools and clubs, debated politics, elected delegates to town wide committees and formed woman's groups« (M, 182), bis es am 16. August 1819 zum Peterloo Massacre kam.

Wenig später beschrieb 1845 Engels die Lage der arbeitenden Klasse in England, ein Buch, das erst 1887 auf Englisch übersetzt und 1892 in England gedruckt wurde. Das war auf seine Art ein Meisterwerk und prägend für die weitere Geschichte der Sozialkritik, doch wiederum wurden nicht die eigenen Initiativen der Arbeiterklasse ausreichend gewürdigt: »It is a story of positivity, the survival and evolution of skill; of hillside mass meetings, study circles, cooperative store.« (M, 184)

Auch die nächste Welle – die Taylorisierung – konnte dem nichts anhaben. Wieder wurden etwa bei Ford vor allem junge und zugewanderte Arbeiter angestellt in Konkurrenz zur älteren Arbeiterklasse mit entsprechenden Konflikten. Und wieder entwickelte sich ausgehend von den shop stewards (Vertrauensmännern) eine neue Goldene Generation von Rebellen, eine »terrible beauty«, die jedoch in den 1930ern weltweit unterging (Orwell: »the flower of the European working class, harried by the police of all countries«, zitiert Mason, 196), in Spanien (wo auch Orwell mitkämpfte, für mich steht Lorca stellvertretend für die Generation), in Italien und Deutschland (wobei Mason betont, dass der Mord der Ost-Juden nicht zuletzt gegen die unter ihnen stark gewordenen linken bis kommunistischen Strömungen gerichtet war, 196) und auf andere Weise in den sowjetischen Gulags.

So hat für Mason der Marxismus die Arbeiter missverstanden und nicht in ihrer Realität getroffen. Er hat sich letztlich nie für Arbeiterrechte und Arbeiterselbstverwaltung stark gemacht, das Entstehen einer Arbeiteraristokratie von Gewerkschaftsführern falsch bewertet (so Lenin am Vorabend des 1. Weltkrieges, als sich die meisten Gewerkschafter und Sozialdemokraten nicht der Kriegsbegeisterung entziehen konnten und im Ganzen absehbar zu sein schien, dass die Arbeiterbewegung für ihre partikulären Ziele an Bildung und Autonomie innerhalb des Kapitalismus einen faulen Kompromiss gefunden hatte), und ist bis heute unfähig, die veränderte Lage zu erkennen. Umgekehrt konnte er nie verhindern, nach erfolgreichen Revolutionen »being usurped by elites operating under false flags«, so in der Pariser Kommune 1871, Barcelona 1937, in Russland, China und Kuba (M, 180), da er sich nie dem wahren Verbündeten, der Arbeiterschaft innerlich zugewandt hatte, sondern ihr stets misstraute und fremd blieb.

1980 verkündete André Gorz (1923-2007) reichlich früh den Abschied vom Proletariat. Zwar verdoppelte sich seither vor allem durch die Entwicklung in China die Zahl der Arbeiter nochmals auf weltweit annähernd 3 Mrd. Lohnabhängige, aber er hatte recht, als er das Ende der Arbeiterkultur kommen sah. Mason versteht das vor allem als politische Niederlage und einen unvorstellbaren Verlust an kultureller Hegemonie. Für ihn traf es Frederic Jameson (* 1934) auf den Punkt, als er bemerkte, dass sich die meisten Menschen heute eher das Ende der Menschheit als das Ende des Kapitalismus vorstellen können, so vollständig ist der Verlust früherer Visionen der Arbeiterbewegung. – Auch wenn nachvollziehbar ist, wie Mason es meint, kann es in Frage gestellt werden. Die klassischen Organisationen (Parteien und Gewerkschaften) sind gescheitert, aber es setzt sich im Denken der Menschen eine Änderung durch, die nicht zuletzt auf die höhere Bildung sowohl bei Fremdsprachen wie in den Naturwissenschaften zurückgeht. Das zeigt sich bis in die Großorganisationen wie die Weltbank, IMF und NBER, wenn dort auf eine Weise geforscht und die Ergebnisse veröffentlicht werden, die sich bisweilen kaum mehr von Studien der Neuen Linken unterscheiden. Das ist für mich nicht das Ergebnis einer bewussten Strategie wie etwa dem 1967 von Rudi Dutschke ausgerufenen Marsch durch die Institutionen, sondern einer veränderten inneren Einstellung vieler Beschäftigter auf allen Qualifikationsstufen. Traditionelle Grabenkämpfe zwischen Parteien verlieren an Bedeutung, da sich im Grunde alle unglaubwürdig gemacht haben, und es wird auf die eigene Vernunft gesetzt. Vielleicht sollte am Ende Immanuel Kant doch recht behalten.

Der Wandel zu einem Abschied vom Proletariat war schon unmittelbar nach 1945 zu spüren, vor allem von denen, die noch die Jahre 1917-21 direkt oder in unmittelbaren Folgen miterlebt hatten und den Unterschied wahrnahmen: Herbert Marcuse (1898-1979) war 1918 in Berlin bei den Soldatenräten aktiv gewesen, Eric Hobsbawm (1917-2012) »joined the German communist party via its schoolchildren's branch in 1932« und Daniel Bell (1919-2011) »joined the Young Socialists in the New York slums in the same year; Gorz had witnessed the worker's uprising in Vienna« (M, 199f). Die »Hot Decade« 1967-1976 war der Wendepunkt, als eine Neue Linke nicht mehr die früheren Eliten der Arbeiterbewegung akzeptierte. Das wurde exemplarisch ausgetragen in Italien. Hier kam es zum Historischen Kompromiss 1976, ähnlich auch in Spanien 1978, UK unter Wilson und Callaghan 1974-79 und USA unter Jimmy Carter (* 1923, Amtszeit 1977-81), bis alles unter dem Eindruck der Revolution im Iran 1979 überholt wurde (M, 206). An dieser Stelle lohnt es über Mason hinaus weiter zu fragen, ob das nicht eins der vielen Zeichen für eine globale Wende war. In dem Moment, als in den westlichen Ländern ein innerer Kompromiss zum Greifen nahe war, wurde das überlagert von neuen Konflikten mit den früheren Kolonien. In Italien reagierten Negri und andere als erste darauf und entwickelten im Weiteren ihr Konzept der Multitude, in der sie ein diffuses Bündnis der früheren Arbeiterbewegung mit neuen Bewegungen in den früheren Kolonien sehen. Etwas unvermittelt kommt Mason zur Spaltung in digitale Rebellen und analoge Sklaven. Die digitalen Rebellen der 1990er führen für ihn weiter, was in den 1960ern und 1970ern die Neue Linke versucht hatte.

Übergang zum Postkapitalismus

Welche Lehren können aus früheren Übergängen gezogen werden? Mason beginnt mit der Planwirtschaft in der Sowjetunion nach 1917. Ludwig v. Mises (1881-1973) und sein Schüler Friedrich August v. Hayek (1899-1992) kritisierten den Bolschewismus. Eine Planwirtschaft muss versagen, da nur der Markt in großer Geschwindigkeit alle Preise kalkulieren, Innovation fördern und die beste Verteilung (Allokation) der Ressourcen erzeugen kann (M, 225). Sie lehnten die Arbeitswertlehre ab zugunsten der Grenzkostenrechnung. Für Mason ist diese Konsequenz falsch, aber die Kritik an der Planwirtschaft nicht ganz unberechtigt. In der SU gab es geschätzte 24 Mio. Produkte, von denen in maximal 200.000 Fällen die Preise geplant werden konnten (M, 231). Als Quelle nennt er O. Yun Improvement of Soviet Economic Planning (Moskau 1988) und einen von der RAND erstellten Bericht von G. Ofer Soviet Economic Growth 1928-1985 von 1998. Der SU gelang nur extensives Wachstum und kein Fortschritt der Produktivität. (Meiner Meinung nach ist diese Aussage zu überprüfen.) Mason hält es auch für ausgeschlossen, dass mit neueren Methoden eine Planwirtschaft möglich ist, wie es W.P. Cockshott und A. Cottrell in Economic Planning, Computers and Labor Values (1999) und Tansition to 21st Century Socialism in the European Union (2010) vorgeschlagen haben. Das scheitert für ihn schon daran, dass es heute nicht mehr möglich ist, die Wirtschaft auf materiell erzeugte Produkte zu reduzieren. Wie kann ein solcher Plan einen in drei Jobs aktiven prekären Arbeiter erfassen oder eine alleinerziehende Mutter, die nebenbei als Sex-Arbeiterin mit Web-Cams arbeitet (M, 233)? Die Alternative ist für ihn ein »granular, spontaneous micro-process« (M, 233).

Bevor er das weiter ausführt, fragt er, welche Lehren aus dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus gezogen werden können. Er sieht am Beispiel dieses Übergangs 4 Ursachen für einen Epochenwechsel: (1) Äußere Schocks wie die Pest und andere Naturkatastrophen um 1400, (2) Entstehen des Bankwesens, (3) Entdeckung Amerikas und des damit verbundenen Goldraubs, (4) Erfindung des Buchdrucks und damit gefördert des Protestantismus und der Aufklärung. Das wirkt etwas holprig zusammengestellt, aber Mason will damit sagen: Es muss eine ungewöhnliche, unvorhersehbare Kombination geben. Heute sieht er (1) externe Schocks wie Energiekrise, Klimaerwärmung, Überalterung der Gesellschaft, Migration, (2) möglicherweise Finanzkrisen völlig ungeahnten Ausmaßes, (3) neue Arbeitsmodelle in der Open Source Bewegung, Internet analog zum Buchdruck, und es fehlt nur noch (4) ein oder mehrere Künstler von der Statur eines Shakespeare, die in ihren Werken für die sozialen Veränderungen die treffenden Bilder finden und mit ihnen den Menschen das heute noch fehlende Bewusstsein über die eigene Lage vermitteln können (M, 243).

Ein sanfter Übergang dürftig schwierig werden. Mason zählt etwas summarisch die externen Schocks auf: Klimaveränderung, Vergreisung der Gesellschaft mit großen Folgen für Pensionskassen, die derzeit ihr Geld vor allem in Staatsanleihen angelegt haben, weltweite Migration von Süden nach Norden.

Die erste Aufgabe wird nach Mason die Auflösung von Monopolen wie Apple und Google sein, mit der heute gegen die Null-Grenzkosten angegangen wird (M, 277). Neoliberale sehen bei diesen Monopolen keine Probleme, obwohl sie ihrem eigenen liberalen Ansatz von Grund auf widersprechen. Wenn erst ein Netzwerk entstanden ist, ist auch der Markt kein Feind mehr, sondern kann positiv wirken (M, 278f). Banken sind zu verstaatlichen, Energieunternehmen ebenfalls, um zügig gegen die Klimakatastrophe angehen zu können. Grundeinkommen. Entlasst die 1 Prozent Spitzenverdiener aus ihrem selbstgewählten Käfig, wenn ihre Frauen in Billighemden jeden Morgen joggen und die Männer alle paar Tage stundenlang mit erfrorenem Blick über ihre Laptops gebeugt in Langstreckenfliegern sitzen.

Anhang: Marxistische Kritik an Mason

Aus marxistischer Sicht ist der Ansatz von Mason umstritten. Während zum einen Autoren wie Zizek das Buch begrüßen und ihm die Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politk eine Democracy Lecture organisiert hat (Link), wird er von anderer Seite kritisiert, so von Christian Fuchs. Fuchs hält ihm vor, die aktuelle marxistische Diskussion zu übergehen oder nicht zur Kenntnis zu nehmen und nennt insbesondere Ernest Mandel Spätkapitalismus (1972), Roman Rosdolsky Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital (1968), Moishe Postone Rethinking Capital (2008) sowie eigene Arbeiten: »Mason also ignores the state of the art in discussions about the digital labour theory of value.« Für ihn gibt es heute vier Ansätze, wie mit digitaler Arbeit Profit realisiert werden kann: (1) Kostenpflichtige Versionen, Update und Support bei der Unterstützung mit der Software. (2) Werbung. Google und Facebook sind heute »the world's largest advertising companies«. (3) Klassische Lohnarbeit in den Produktionsanlagen zur Herstellung der Hardware und ihrer Rohstoffe bis hin zu sklaven-artigen Verhältnissen etwa beim Abbau Seltener Erden im Kongo, die insbesondere für den Bau von Smartphones eingesetzt werden. (4) Ein nur schwer zu schätzender Aufwand von freiwilliger Arbeit, wenn Anwender ohne Entgelt Beiträge für die Foren liefern, sich gegenseitig bei der Installation und der Benutzung der Software helfen usf. Die Anwender liefern mit ihrem Anwenderverhalten ungefragt Informationen, die in Profile ausgewertet und an andere Firmen verkauft werden können, damit diese ihren jeweiligen Markt besser kennen lernen und ihre Produkte entsprechend anbieten können. Hier handelt es sich um eine neue Art von Schwarzarbeit (shadow work). – Aus Sicht von Fuchs ignoriert Mason das schlicht und träumt stattdessen auf eine letztlich technik-verliebte Weise davon, dass sich die neuen Technologien dank ihrer Eigendynamik ihren eigenen Weg bahnen werden. Das ist für ihn »naive«.

» Wikipedia enthält Links zu einigen Rezensionen.

Siglenverzeichnis

M = Paul Mason: Postcapitalism, 2016 (Penguin Random House) [2015]

Literatur

Florian Butollo, Yannick Kalff: Entsteht der Postkapitalismus im Kapitalismus?
in: PROKLA. Verlag Westfälisches Dampfboot, Heft 187, 47. Jg. 2017, Nr. 2, 291 - 308; PDF

Deloitte: 2016 Global Manufacturing Competitiveness Index; deloitte

Gorden Fehlhaber: Postkapitalismus, Strukturaneignung und das Bedingungslose Grundeinkommen; Link

Richard B. Freeman: The new global labor market
in: Focus Volume 26, Nr. 1, Sommer-Herbst 2008, S. 1-6; irp.wisc.edu

Christian Fuchs: Henryk Grossmann 2.0: A Critique of Paul Mason's Book "PostCapitalism: A Guide to Our Future"; tripleC Vol 14, No 1 (2016)

John Hagel u.a.: From exponential technologies to exponential innovation; Deloitte 2013

Steven Kapsos, Evangelia Bourmpoula: Employment and Economic Class in the Developing World; ILO 19. Juni 2013

Jana Kreutzer: Kapitalismus: Die fetten Jahre sind (offenbar wirklich) vorbei; zeitjung

Angus Maddison: Die Weltwirtschaft - eine Millenniums-Perspektive, OECD 2001; Link

Paul Mason: Postcapitalism, 2016 (Penguin Random House) [2015]

Douglas McWilliams: The Greatest Ever Economic Change Transcript; gresham.ac.ukvom 13. Sep. 2012

Branko Milanovic: Global Income Inequality by the Numbers: In History and Now; Worldbank 2012

Leo Nefiodow: Der fünfte Kondratieff, Frankfurt am Main 1990

Carlota Perez: Technological Revolutions and Finance Capital, London 2002

Carlota Perez: Second Machine Age or Fifth Technological Revolution? (Part 2); Beyond the Technological Revolution vom 24. Feb. 2017

Carmen M. Reinhart und M. Belen Sbrancia: The Liquidation of Government Debt; nber.org

Christian Rickens: Wikipedia und Sozialismus; handelsblatt vom 16.9.2016

Jeremy Rifkin: The Zero Marginal Cost Society, New York 2014

René Scheu: Nach dem Kapitalismus ist vor dem Kapitalismus; NZZ vom 27.4.2016

Rudi Schmiede: Paul Masons kommunitarisch-staatlicher Holzweg zum Postkapitalismus; Ethik und Gesellschaft Nr. 2 2016

Elisabeth von Thadden: Gute Nachricht: Der Kapitalismus ist am Ende, sagt Paul Mason. Eine neue Ära beginnt!, Interview mit Paul Mason in zeit vom 6.5.2016

Trading Economics: Wirtschaftliche Trends in allen größeren Ländern, meist bis zu 20 Jahre Überblick; Link

Tom Wohlfarth: Vom Ende des Kapitalismus zu Postkapitalismus; freitag vom 1.10.2015

2017

 


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