Walter Tydecks

 

Zweifel an der digitalen Darstellbarkeit der Welt - DeLillo "Cosmopolis"

Der Roman macht es dem Leser nicht leicht. Ihm fehlt der rechte Drive. Die Handlung bleibt nicht weniger oft stecken als seine Hauptfigur Eric Packer, der nur mühsam mit seiner Stretch-Limousine durch die Staus und Absperrungen von Manhattan kommt. Der Erzählton ist bisweilen unangemessen schnoddrig. Das soll wohl die Sprache New Yorks einfangen, die Techno-Sprache und die Sprache des Global Business der internationalen Finanzinstitute. Die meisten Szenen wirken konstruiert und gewaltsam übertrieben. Vor allem die Schlussszene ist nicht nur ein Debakel für Eric Packer, sondern auch die Erzählkunst DeLillos. Ein Kommentar im Internet hält den Roman für völlig überschätzt, den niemand lesen würde, wenn nicht DeLillo bereits so populär wäre. Die üblichen Rankings fallen entsprechend widersprüchlich aus. Leidet möglicherweise DeLillo selbst am meisten unter dem unerschöpflichen Strom an Einfällen und skurillen Verzerrungen, die er weder in eine überzeugende Handlungsstruktur zusammenführen noch aussortieren kann? Oder ist es ihm kunstvoll gelungen, ein Versagen vorzuführen, das für ihn den heutigen Menschen in den Metropolen darstellt?

Die Dialoge zeigen Menschen, die sich nur noch indirekt aufeinander beziehen. Hier entfaltet sich die wahre Kunst von DeLillo. Er will nicht einfach die postmoderne These vom Ende der Erzählung wiederholen, sondern sieht in den Dialogen die kleinste Einheit der Erzählung, die er verstehen will. Die klassischen Formen der Literatur taugen nicht mehr. Gedichte werden beurteilt nach ihrem Format, nach "Länge und Breite" (S. 66). Er sucht nach einem neuen Maß, das sich bereits im täglichen Gespräch äußert. Das zu erkennen und darzustellen ist für ihn die verbleibende Aufgabe der Literatur nach dem Ende der Erzählung. Der Leser soll sich nicht primär auf die Handlung oder die Figuren konzentrieren, die genau so beliebig werden wie beim Zappen durch die Fernsehsender. Er soll heraushören, was in den Dialogen geschieht.

John Updike gibt in seiner Rezension in "The New Yorker" vom 31. März 2003 ein Beispiel. Eric Packer im Gespräch mit seinem Sicherheitschef Torval.

"I want a haircut."
"The president's in town."
"We don't care. We need a haircut. We need to go crosstown."
"You will hit traffic that speaks in quarter inches."
"Just so I know. Which president are we talking about?"
"United States. Barriers will be set up," he said. "Entire streets deleted from the map."
"Show me my car," he told the man.

Updike spricht in seiner Rezension von "Metafiction" und der "post-Christian search for 'an order at some deep level'", der Suche nach Wahrheit in einer molekularen, infinitesimalen Tiefe, die nur noch mittels Computern erkannt und beschrieben werden kann, nachdem der Glaube an eine gottgegebene Ordnung aufgegeben wurde. Hat Meta-Fiktion einen Wert für sich? DeLillo scheint in der Literatur etwas Ähnliches zu versuchen wie die Konzept-Art oder John Cage, die nicht sinnlich zu genießende Werke schaffen wollten, sondern den Wahrnehmungsprozess selbst darstellen und zu seiner Bewußtwerdung anregen. Wie sie mit Bildern und Tönen arbeiten, sucht DeLillo nach den geeigneten Worten. "Darstellen" ist ein Schlüsselbegriff dieses Romans. Er will das "Darstellen" darstellen, und er will die verzweifelte Suche der Menschen darstellen, wie sie verstehen können, was etwas darstellt. Das kommt in der deutschen Übersetzung deutlicher heraus, denn im Englischen gibt es viele Ausdrücke für "darstellen" wie "represent", "present", "constitute", "depict", "pose", "picture", "describe", "portray", "feature", "act", "outline", "delineate". DeLillo wählt an einer entscheidenden Stelle bezeichnenderweise "to chart". Eric Packer im Gespräch mit seinem Währungsspezialisten über die Kursentwicklung des Yen:

"'Was hier geschieht, stellt sich nicht dar.' 'Es stellt sich dar. Sie müssen nur etwas hartnäckiger suchen. Verlassen Sie sich nicht auf Standardmodelle. Denken Sie grenzüberschreitend. Der Yen sagt uns etwas. Lesen sie es. Und dann springen sie'" (S. 26). ("'What is happening doesn't chart.' 'It charts. You have to search a little harder. Don't trust standard models. Think outside the limits. The yen is making a statement. Read it. Then leap'.")

Macht Eric, der Währungsspekulant, der während seiner Fahrt im Schneckentempo auf der 47th Street von der First Avenue zur Eleventh Avenue Manhattans sein gesamtes milliardenschweres Vermögen verliert und die 735 Millionen Dollar seiner Frau obendrein, eine Entwicklung durch? Kritisch ist - worauf ebenfalls Updike hingewiesen hat - die Begegnung mit seiner ersten Sex-Partnerin an diesem aufregenden Tag, der 47-jährigen Kunsthändlerin Didi Fancher. Der Sex war wohl etwas lustlos, routiniert und mehr in Erinnerung an frühere Zeiten, jedenfalls fragt sie ihn anschließend "hatten wir eine Verabredung?" ("was I expecting you?") (S. 30).

Sie war es, die ihm früher "beigebracht hatte, wie man schaut, wie man Begeisterung feucht im Gesicht spürt, vor Vergnügen an einem Pinselstrich oder einem Farbstreifen dahinschmilzt" (S. 35) ("this woman, who'd taught him how to look, how to feel enchantment damp on his face, the melt of pleasure inside a brushstroke or band of color"). Das war offenbar die Kernzündung seiner Erfolge gewesen. Als Spekulant wollte er nicht die längerfristigen ökonomischen Entwicklungen verstehen, die Hintergründe und die harte Realität, sondern sich von den mikroskopischen Veränderungen im Nano-, Zepto- Yocto-Sekundenbereich berauschen und leiten lassen, die nicht mehr sinnlich erfahrbar sind, sondern nur per EDV auszuwerten. Er vertraute darauf, dass ihm gelingt, auf fast magische Art seine Gehirnzellen in Übereinklang mit den Computerprogrammen zu bringen und in den Reihen der Wirtschaftsdaten, die über die Ticker laufen, intuitiv so etwas wie die "Pinselstriche" und "Farbstreifen" wahrzunehmen und aus ihnen herauszulesen, was diese Zyklen und Figuren "darstellen". Damit lag er jahrelang entgegen jedem Rat der Fachleute immer richtig und scheffelte Geld ohne Ende. Er konnte sich auf die Begeisterung und das Vergnügen verlassen, das Didi Fancher ihm beigebracht hatte.

Aber nun hatte er geheiratet und war zu feige, ihr das zu erzählen. Sie hatte es aus der Zeitung oder dem Fernsehen erfahren und fragte ihn spöttisch "wie viele Millionen stellt ihr beide zusammen dar" ("how many billions together do you represent") und "läßt sie dich ihren Intimbereich berühren" ("does she let you touch her personal parts") (S. 31)? Sie will ihn provozieren, ob er noch bereit ist, beliebig viel Geld auszugeben, um eine Kapelle voller Gemälde von Mark Rothko zu kaufen. Stattdessen beichtet er, gerade "tonnenweise Geld" für eine Wette gegen den Yen zu verlieren. Er wirkt nicht mehr glaubwürdig, wenn er sich in einer großen Geste mit einem "Pygmäendiktator" vergleicht, dessen exzessives Handeln bei Menschen wie ihr für "ein köstliches Kribbeln" ("delicious stir") sorgt (S. 32).

Sie meint, nur der Kauf der Rothkos könne ihm zeigen, dass er "lebendig" ist. Er versucht auf frühere Liebesgespräche zurückzukommen, an die sie sich nicht mehr recht erinnern kann oder will, so dass er ihr ihre eigenen früheren Worte erklären muss. Das führt in ein paradoxes Gespräch, in dessen Verlauf er sich erinnert: "Aber irgendwas fehlte dir" ("but there was something missing for you"), womit er meinte, ihr fehlte etwas an ihm. Während er sich in der Vergangenheit verheddert, registriert sie aufmerksam seinen gegenwärtigen Zustand. "You're beginning to think it's more interesting to doubt than to act." Er versteht nicht, was sie meint, und begreift nicht, was geschieht. Aber etwas an Erkenntnis springt über. Wie zufällig kommt er beim Ankleiden auf den botanischen Namen des Baumes, den er vor ihrer Wohnung gesehen hat, Gleditsia triacanthos, die amerikanische Gleditschie, auch Falscher Christusdorn genannt, ein Zeichen des erwachenden Zweifels. Auf einmal fühlt er sich besser und ist innerlich bereit für das nächste Treffen mit seiner jungen Frau.

Seine Frau Elise Shifrin ist die Gegenfigur zu Didi Fancher. Er hat sie erst vor wenigen Wochen geheiratet. Schon da müssen ihm die Zweifel gekommen sein: Sie ist reich, schön, schreibt Gedichte, die er allerdings "scheiße" findet ("her poetry was shit"), - auf das alles spielt Didi Fancher ironisch an -, aber als sie erzählt, wie sehr sie einen höhlenartigen Buchladen liebt, sagt er ihr: "Du warst eins von diesen schweigsamen, ernsthaften Kindern. Wie festgeleimt im Schatten" (S. 68) ("you were one of those silent wistful children. Glued to the shadows."). Eine eigenartige Formulierung, inkompatibel zur flachen Welt des Digitalen und der Farbstreifen (Rothko zeigt nur noch einen Schatten des Schatten).

Doch er kann dies tiefe Gefühl der Zuneigung nicht festhalten, sondern will endlich Sex mit ihr. "Denn es gibt eine bestimmte Art von Sex, in der etwas Reinigendes steckt. Das ist das Antidot zur Desillusionierung. Das Gegengift." Sie antwortet: "Du musst entflammt sein, stimmt's? Dann bist du in deinem Element" (S. 71). Er erwartet vom Sex eine Reinigung, um wieder so leben zu können wie früher, alle Zweifel zu verlieren, sie entzieht sich. Er liebt etwas Neues an ihr, was er noch nicht kennt, von anderer Qualität als die "kargen Gedichte" ("spare poems"), die er sonst so gern liest, aber er vermag sich ihr noch nicht zuzuwenden und hofft - alles missverstehend - bei ihr noch einmal zu finden, was er bei Didi Fancher bereits verloren hat. Er ist mit seiner Aufmerksamkeit ständig überall und woanders.

Sie können ihr Gespräch nicht zuende führen, da im Restaurant Globalisierungsgegner auftreten, demonstrativ in Rattenkostümen gekleidet und mit lebenden Ratten in der Hand. Das lenkt Eric ab. Er nimmt nicht einmal wahr, wie Elise verschwindet. "Eric war verzückt. Wie gebannt geradezu. Er bewunderte das, was immer es war" (S. 73). ("Eric was rapt. He was held nearly spellbound. He admired this thing, whatever it was.") Was trieb die um? Schon am Morgen hatte er sich an ein Gedicht erinnert, in dem die Ratte als Währungseinheit eingeführt wird (Zbigniew Herbert "Report from the Besieged City"). An der Kreuzung zur Park Avenue war ihm eine Frau aufgefallen, die eine tote Ratte hochhielt. Doch noch ist nicht zu entscheiden, ob es sich einfach um einige der zahlreichen Verrückten in New York handelt oder um eine politische Aktion. Was fasziniert ihn so an ihnen? Er scheint sich vom Symbol der Ratte persönlich getroffen zu fühlen.

Eric zieht sich in seine Stretch-Limousine zurück und schaut in den ständig laufenden Fernseher. "Zehn reglose Minuten" starrt er den Präsidenten an und sieht sich in ihm selbst, "seine Augen weder bewohnt noch belebt, ... in einem Hohlraum von Nichtzeit ... der Untote ... in einem Zustand okkulter Ruhe" (S. 74f). ("He lived in a state of occult repose, waiting to be reanimated".) Das wirft ihn endgültig zurück und macht alle Chance einer Entwicklung zunichte.

Als nächste kommt seine Cheftheoretikerin Vija Kinski und hat leichtes Spiel mit ihm. Was bei Didi Fancher noch wie eine moderne Kulturtheorie geklungen hatte, bringt sie in die nackten, direkten Sätze: "Geld hat seine narrativen Qualitäten verloren, so wie einst die Malerei" (S. 75) ("Money has lost its narrative quality the way painting did once upon a time"). Er bekennt seine Zweifel. Sie versteht nicht und will nicht verstehen, nach welchen ökonomischen Regeln seine Geschäfte ablaufen. Ihr geht es ums Prinzip. Da ist sie noch einen Schritt radikaler als Didi Fancher: Die bewundert, wie die Malerei die molekulare Ebene darzustellen vermag statt der sinnlichen Bilder, den Pinselstrich, die Farbsträhne statt gegenständlicher Objekte. Aber auch die haben noch einen Rest von sinnlicher Qualität, der Vergnügen und Entzücken hervorrufen kann. Malerei, Geld und Besitz sind für Kinski dagegen auf die "Zahl" reduziert. "Wir schaffen unseren eigenen Wahnsinn, unsere eigenen Massenverkrampfungen, angetrieben von Denkmaschinen, über die wir letztlich keine Macht haben" (S. 82) ("We create our own frenzy, our own mass convulsions, driven by thinking machines that we have no final authority over.")

Damit zieht sie nur die letzte Konsequenz einer Entwicklung der abstrakten Kunst, von der Didi Fancher begeistert ist und Eric mitgerissen hatte. Wenn Kunst, Besitz, Geld und schließlich alle gesellschaftlichen Beziehungen auf das Infinitesimale und am Ende die Zahl reduziert werden, gibt es keinen Halt und keine Maße mehr, sondern nur noch "Formate" und inhaltslose "Größe". Da müssen Zweifel kommen. Gegen die Zweifel helfen lediglich Durchhalteappelle und Vertrauen auf die Informationsverarbeitung, die alles logisch korrekt berechnen wird. Daher rät sie ihm buchstäblich ohne Sinn und Verstand, weiter gegen den Yen zu spekulieren, denn "sich jetzt zurückzuziehen, wäre nicht authentisch" (S. 82). Ihn irritiert das Dreckige in ihrem Lachen, aber er kann sich ihrem zerstörerischen Einfluss nicht entziehen. Als er nochmals mit seinen Zweifeln kommt, antwortet sie: "Sie glauben nicht an Zweifel. Das haben Sie mir gesagt. Computermacht eliminiert Zweifel" (S. 83). ("Computer power eliminates doubt").

Damit ist das Ende der Erzählung erreicht. Eric Packer vermag sich nicht zu ändern. Er bleibt ein "Untoter" wie der Präsident. Es gibt nichts von ihm zu erzählen. Was bleibt DeLillo als darzustellen, wie nun nur noch Leerlauf folgt? Das geschieht im zweiten Teil, der im Grunde überflüssig ist.

Benebelt vom Umgang mit Geld und Daten ist für Eric Packer alles Phantasie - "Phantasie" im Sinne der Investmentbanker und Spekulanten -, so auch die Globalisierungsgegner, in deren Demonstration er gerät (S. 86). Ihre Proteste wirken wie eine virtuelle Show auf ihn, inszeniert für die massenhafte Verbreitung in den Medien und damit Bestandteil und sogar Bestätigung des Systems, das sie bekämpfen. Das bringt ihn zum Aphorismus: "Der Zerstörungsdrang ist ein kreativer Drang" (S. 88) ("The urge to destroy is a creative urge"). Er steht vor der Erkenntnis, dass all sein Reichtum und Erfolg nur auf Kosten anderer möglich war. Was diese Zerstörung anrichtet, zeigen exemplarisch die Ausführungen von Benno Levin, eines seiner Opfer. Der hält ihm vor, wie er zerstört ist durch "Anfälle von susto, das ist so etwas wie Verlust der Seele, aus dem Karibischen, und das habe ich mir ursprünglich im Internet eingefangen" (S. 139). Eric hat Levin so weit in die Enge getrieben, dass nur einer von beiden leben kann (S. 142).

Sie fragt ihn lachend, "wo landet es, wenn du es verlierst" ("where does it go when you lose it?"), als er ihr gestanden hat, dass er all ihren Reichtum und ihr Geld verloren hat (S. 160).

Benno Levin, sein Mörder, war Computerspezialist wie er. "Aber mit dem Mikrotiming Ihres Systems konnte ich nicht Schritt halten. Ich konnte es nicht wahrnehmen. So infinitesimal ist es. Ich fing an, meine Arbeit zu hassen und Sie und all die Zahlen auf meinem Bildschirm und jede Minute meines Lebens" (S. 172). Alle seine Versuche, hinter den "mathematischen Eigenschaften von Baumringen, Sonnenblumenkernen, Armen von Spiralnebeln" die gemeinsame Struktur zu erkennen, "die wechselseitigen Harmonien zwischen der Natur und den Daten", und darüber die "Marktzyklen und Zeitzyklen" zu verstehen, haben ihn "das Schiefe", die "Ticks und Schrullen", den "Baufehler" und "Webfehler" ("the lopsides, the ticks and quirks, misshape, misweave") übersehen lassen, die notwendig zur Natur gehören (S. 179f). Daher trifft ihn das Schicksal des Ikarus, der sich übermütig zu weit der Sonne genähert hatte. In einer anmaßenden Geste sieht Levin sich als Vollstrecker des Sonnengottes Helios und erschießt ihn.

Läßt DeLillo noch Raum, seinen Roman zu deuten, der sich ständig von allen Seiten selbst erklärt? Gibt es eine verborgene Erzählung, die ihn im Alter von 65 Jahren veranlasst hat, über die Generationen seiner Kinder und Enkel zu schreiben? Didi Fancher, Vija Kinski und der Präsident verkörpern die mittlere Generation, Eric, Elise, die Bodyguards und Globalisierungsgegner die jüngere, Bruno Levin hängt irgendwie dazwischen. Sie alle sind Geschöpfe einer Entwicklung, für die sich DeLillo als Vertreter der Generation der Moderne in den 1950ern und 1960ern offensichtlich in irgendeiner Weise mitverantwortlich fühlt. Er vermag nicht zu sagen, wie geschehen ist, was sie angerichtet haben. Menschen seines eigenen Alters sind im Roman vollständig ausgeblendet. Seine Phantasien werden um so greller, je größer diese innere Distanz wird. Er scheint auf einen anderen Roman zu hoffen, mit dem jemand aus dem Innern der Geschichte der Informationsentwicklung zu schreiben versteht, was hier vorgeht. Die mittlere Generation scheint er ganz aufgegeben zu haben. Wenig schmeichelhaft, da gerade sie mit besonderer Begeisterung den neuen Freiheiten gefolgt waren, die in den 1950ern und 1960ern propagiert wurden.

Möglicherweise gibt der Roman Körperzeit (The Body Artist) Antwort, den DeLillo offenbar gleichzeitig geschrieben, aber bereits 2001 veröffentlicht hat. Der Roman erzählt von der Trauer der Körperkünstlerin Lauren Hartke, 36, deren Mann sich wenige Monate nach ihrer Hochzeit in der Wohnung seiner ersten Frau in Manhattan erschossen hatte. Er war im gleichen Alter wie DeLillo, geboren 1936 in den Wirren des spanischen Bürgerkriegs. Sie könnte seine Tochter sein. Er war ohne seine Eltern je kennenzulernen über die Sowjetunion, Paris und New York nach Kalifornien gekommen, wo er Geliebter der Ehefrau eines reichen Zementfabrikanten wurde, die ihm für einen spanischen Italo-Western den ersten Regie-Auftrag vermittelte, also wohl in den 1960ern, als er um die 30 Jahre alt war. Nach weiteren Erfolgen verkündete er vor begeisterten Zuhörern sein Programm: "Die Antwort auf die Fragen des Lebens ist der Film." (S. 29)

Doch dann verließ ihn der Erfolg, die Ehe ging in die Brüche, eine zweite Ehe mit einer Schauspielerin scheiterte ebenfalls. Er litt an Alkoholismus und gelegentlichen Depressionen. Von Lauren erwartete er: "Ich nehme mich durch dich wieder in Besitz" (S. 68). Das klingt nicht gut. Im Widerspruch dazu hatte sie mit ihm an seiner "frisierten Autobiographie" gearbeitet (S. 32).

Er fühlt sich unverstanden und vermag seine Gefühle nicht zu zeigen. "'Das Grauen eines neuen Durchschnittstages', sagte er durchtrieben, 'das kennst du noch nicht.'" (S. 15) ("'The terror of another ordinary day,' he said slyly. 'You don't know this yet.'") Nach seinem Tod trifft sie einen sprach- und verhaltensgestörten Mann. Er hat den natürlichen Kontakt zur Sprache verloren. Nie fragt sie nach seiner Krankheit, ob er ein Trauma oder eine Hirnverletztung erlitten hat. Es scheint sich um eine Form von Seelentaubheit (akustische Agnosie) zu handeln, wie sie seit dem 1. Weltkrieg intensiv an zahlreichen Kriegsopfern analysiert worden war. Statt Zugang zu seinem persönlichen Schicksal zu finden, sieht sie in ihm ein Symbol des Zustands unserer Kultur: "Sie dachte, vielleicht lebt er in einer Art unerzählerischer Zeit" (S. 71).

Stattdessen reagiert sie indirekt auf ihn. Es gehört zu ihrer Körperarbeit, sich zu enthaaren, alle toten Hautzellen zu entfernen, Haare und Körper zu bleichen, sich mit einer Affenhaarbürste schmerzhaft abzuschrubben. "Sie wollte im Spiegel jemanden sehen, der üblicherweise ungesehen bleibt, den Menschen, durch den man mit geübtem Blick hindurchschaut, der ausgeblutet ist von jeglicher vertrauten Wirkung." (S. 95) DeLillo scheint zu hoffen, dass die unterschiedlichen Formen der Körperkunst einen Zugang finden, um ausdrücken zu können, was Vertreter seiner eigenen Generation mit ihrer abstrakten Kunst und Philosophie nicht vermochten. Lauren Hartke als positive Gegenfigur gegenüber Eric Packer und seinem scheiternden Versuch, mithilfe Computermacht die Tiefen der Realität zu verstehen und alle Zweifel abzuschütteln.

Seit Mitte der 1970er hat DeLillo mit wachsender Faszination Mathematik gelesen und dort sowohl eine besondere Art von Poesie entdeckt wie Anregungen für sein eigenes Werk.

"I started reading mathematics because I wanted a fresh view of the world. I wanted to immerse myself in something as remote as possible from my own interests and my own work. ... I wanted the book to become what it was about. Abstract structures and connective patterns. A piece of mathematics in short. To do this, I felt I had to reduce the importance of people. The people had to play a role subservient to pattern, form, and so on." (DeLillo in einem Interview mit Thomas LeClaire 1982 über sein früheres Werk "Ratner's Star", GoogleBooks.)

Der Schluss von "Cosmopolis" bleibt um so unbefriedigender. Haben nun um 1900 die modernen Naturwissenschaften mit der Relativitäts- und Quantentheorie die moderne, abstrakte Kunst ausgelöst, von der exemplarisch Erik Satie erwähnt wird? Sind beide Ergebnis der Schockwirkungen der Industrialisierung und der neuen Techniken der Massenkriege und Folter, worauf die menschliche Wahrnehmungs- und Vorstellungsfähigkeit sich nicht einzustellen vermag? Hat umgekehrt die abstrakte Kunst der 1950er das Klima geschaffen, in dem blindes Vertrauen in die Abstraktheit der Computerberechnungen und der auf sie aufbauenden "Finanzinnovationen" so maßlos gedeihen konnte? Armin Nassehi hat in der FAZ vom 17. Juni 2009 als Lehre aus der Finanzkrise 2008 empfohlen: "Gerade an der Kunst lässt sich die Begrenztheit und Unhintergehbarkeit von Perspektiven erlernen, das Gefangensein in selbsterzeugten Welten." Doch solche Fragen bleiben bei DeLillo im Ungewissen. Benno Levin und am Ende auch der resignierende Eric Packer scheinen alles mit dem beschwörenden Verweis auf das Schiefe und die bedrohliche Asymmetrie ebenso bedingungslos fallen lassen zu wollen, wie sie vorher daran geglaubt haben. Maßloser Haß folgt auf Größenwahn.

In welchen Richtungen lassen sich die Fragen der Physik von 1900 und die Entwicklung der auf der Theorie der formalen Sprachen basierenden EDV in den 1950ern neu aufwerfen? Hier einige mögliche Ansatzpunkte.

(Viele Ideen verdanke ich den Gesprächen in einem Literaturkreis in Neuötting, geleitet von Josef Brunner. Zitiert nach der Ausgabe von "Cosmopolis" in der "Süddeutschen Zeitung Bibliothek", München 2010. Don DeLillo "Körperzeit", Goldmann Taschenbuch-Ausgabe 2003. David Forster Wallace "Vergessenheit", Reinbek 2009. Armin Nassehi "Mit ästhetischer Erziehung aus der Finanzkrise?" in: Frank Schirrmacher, Thomas Strobl (Hg.) "Die Zukunft des Kapitalismus", Frankfurt 2010, S. 79)

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