Walter Tydecks

 

Mathematik und Dialektik in Platons Sophistes

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In den Diskussionen über Hegels Naturdialektik und dessen Fortführung im dialektischen Materialismus wurde zurecht unterschieden zwischen einer »Dialektik der Natur« und »Natur und Dialektik«. Das soll deutlich machen, dass sich eine dialektische Philosophie zwar sehr wohl um Fragen der Natur zu kümmern hat, aber der Anspruch vermessen wäre, hier würde keine philosophische Stimme, sondern »die Dialektik der Natur« selbst sprechen. Damit wäre jedes philosophische Gespräch beendet, was in dogmatischen Kreisen oft genug geschehen ist. Ähnlich stellt sich die Frage nach einer »Dialektik der Mathematik« oder dem Verhältnis »Mathematik und Dialektik«.

Denn ohne Zweifel hat Hegel, Marx und Engels eine »Dialektik der Mathematik« vorgeschwebt. Eine solche Dialektik sollte mit dem Begriff der Zahl beginnen, aus diesem Begriff die Eins als die erste Zahl und dann aus der Eins alle weiteren Zahlen entwickeln. Nach diesem Vorbild sollte es möglich sein, alle Elemente der Mathematik dialektisch auseinander abzuleiten. Diese dialektische Vermittlung wäre der tiefer liegende Prozess, der dem Zählen zugrunde liegt. Niemand erwartet, dass dies Auswirkungen auf den alltäglichen Umgang mit den Zahlen hat, aber erst die Dialektik der Mathematik würde die wahre Tiefe der Zahlen erfassen.

Dialektisch würde aus der Eins die Zwei abgeleitet, aus der Zwei die Drei und so weiter. Und dann würde die innere Widersprüchlichkeit dieses Prozesses erkannt, Zahl um Zahl weiter in die Unendlichkeit zu gelangen. Was bei den ersten »elementaren« Zahlen wie Eins, Zwei und Drei noch schrittweise gelingt, aus den inneren Widersprüchen der jeweiligen Zahl den Begriff der nachfolgenden Zahl zu entwickeln, würde irgendwann in einen leeren Formalismus umschlagen, um von der Zahl n zu ihrem Nachfolger ›n + 1‹ zu gelangen. Während die Axiomatiker um 1900 diesen Weg gingen - und sich daran sogar Hegel-Abtrünnige wie Bertrand Russell beteiligten, die umgekehrt die Hegelsche Philosophie für uneffektiv ansahen -, würde eine Dialektik der Mathematik diesen Formalismus im Ganzen zu erfassen suchen, und der Formalismus würde dann seinerseits umschlagen in einen höheren Begriff der Unendlichkeit. Auf diesen Umschlag kam es Hegel wie Marx und Engels an. Denn wenn es gelingt, diesen Umschlag sowohl streng dialektisch wie auch in vollkommener Übereinstimmung mit der Mathematik nachzuvollziehen, dann wäre der Begriff der Unendlichkeit aus dem Reich der Religion und des Glaubens in den Bereich der Wissenschaft geholt, und es wäre nachgewiesen, dass die Dialektik die geeignete Methode ist, einer solchen Wissenschaft den Erfolg zu sichern. Die Dialektik der Mathematik hätte geleistet, was einer Dialektik der Natur im Ernst nicht zugetraut werden konnte.

Genau entgegengesetzt ging Heidegger an diese Frage heran. Fast drohend klingt es, wenn er 1924 in seiner Marburger Vorlesung über Platons Sophistes über die Methode der Sophisten spricht: »Rechnen meint hier nicht zählen, sondern rechnen auf etwas, berechnend sein; erst aus diesem ursprünglichen Sinn von Rechnen hat sich dann die Zahl ausgebildet.« (Heidegger, Sophistes, S. 18) Für Heidegger liegt nicht der dialektische Prozess dem Zählen zugrunde, sondern die kleinliche Haltung des Berechnens. Im Dialog Sophistes sucht Platon nach einem Weg, den Philosophen vom Sophisten zu unterscheiden, und er sieht schließlich in der dialektischen Methode »die Wissenschaft freier Menschen« (253c). Stehen also auf der einen Seite die Philosophie und als ihre Methode die Dialektik und auf der anderen Seite die Sophisten und die Mathematik, von denen die eine hinabzieht und die andere öffnet?

Um nicht in eine falsche Richtung zu kommen, ist gleich anzumerken, dass Heideggers radikale Haltung das Ergebnis einer frühen Ernüchterung war. Vor dem 1. Weltkrieg hatte er 1911 begonnen Mathematik zu studieren, wollte die Philosophie der Scholastik und die neuen Erkenntnisse von Raum und Zeit etwa in der Relativitätstheorie zusammenbringen, plante 1913 eine Promotion »über das logische Wesen des Zahlbegriffs« und orientierte sich erst nach dem Krieg völlig um - Bruch mit dem Katholizismus, Schüler und Assistent bei Husserl, Freundschaft mit Jaspers, Vorlesungen zu Aristoteles.

Die Marburger Vorlesung über Platons Sophistes im Wintersemester 1924-25 ist ein Schlüsseltext. Nirgends später ist sein Interesse an der Mathematik so groß. Der abwertende Klang einer berechnenden Mathematik, eines bloß rechnenden Denkens ist zwar schon vorhanden, aber daneben steht noch eine überaus positive Vision der Mathematik, und es ist die Frage, wie sie in dieser Vorlesung ein für alle Mal in den Hintergrund gedrängt wurde.

Aber nun zu Platon. Er muss weit ausholen. Um den Sophisten auf die Schliche zu kommen ist es notwendig, das Verhältnis von Sein und Schein zu verstehen. Die Sophisten geben sich als Philosophen aus, werden auch von den meisten als solche anerkannt, wo kann da die Differenz gezeigt werden? Wie ist es überhaupt möglich, dass etwas anders zu sein scheint als es ist? Ein falscher Schein kann nicht in den Sachen selbst liegen, auch nicht in der unmittelbaren Wahrnehmung, sondern entsteht erst, wenn Vorstellungen gebildet, Worte formuliert und Meinungen vertreten werden.

Die Mathematik gilt dagegen als das Wissensgebiet, wo eine solche Differenz von Sein und Schein schlicht nicht möglich ist. Was gelingt in der Mathematik, was sonst misslingen kann? Die Sicherheit der Mathematik beruht auf der Evidenz ihrer Grundbegriffe und der Überprüfbarkeit ihrer Konstruktionsschritte. Das ist jedoch keineswegs selbstverständlich und war auch keineswegs von Anfang an so. Über Zahlen, Figuren und Rechenmethoden wurden lange die verschiedensten Meinungen vertreten. Bei den Zahlen und Figuren war lange unklar, ob es sich um Zeichen der Wissenschaft oder mythologische bzw. theologische Zeichen handelt. Die Mathematik gewann ihre Sicherheit erst als es gelang, klar zwischen den Axiomen und den Folgerungen zu unterscheiden. Mit den Axiomen konnten Grundbegriffe gefunden werden, die für sich selbst sprechen und nicht weiter hinterfragt werden müssen.

Diese Leistung erkennt Heidegger durchaus an und so weit hat die Mathematik Vorbildcharakter, auch für das eigene Denken und für die Philosophie. Er sagt: Wenn die Mathematiker bei den Axiomen angekommen sind, ist das

»ein Stehenbleiben, in dem es nur noch und wesentlich darum geht, sich einer Sache gegenüber in Stellung zu bringen, sie schlicht begegnen zu lassen. In solchem noein handelt es sich um ein schlichtes Vergegenwärtigen der Sache selbst, so dass sie rein von ihr selbst her spricht und es nicht mehr eines Besprechens, Aufzeigens von uns aus bedarf. (...) Die Sache zeigt sich so. Es besteht einzig die Möglichkeit, hinzusehen und im Hinsehen zu erfassen.« (Heidegger, Sophistes, S. 161)

Warum kann die Mathematik das nicht durchhalten? Wann setzen sich auch in ihrem Gebiet Schein und subjektive Haltungen und Täuschungen durch, bzw. wann ist sie dagegen hilflos? Was muss die Philosophie tun, um dort weiter zu kommen, wo die Mathematik scheitert? Heidegger betrachtet nicht direkt die Mathematik, sondern bleibt bei Platons Auseinandersetzung mit den Sophisten. Da spielt die Mathematik allerdings eine entscheidende Rolle. Denn einerseits will Platon sich wie kein anderer Philosoph seiner Zeit auf die Gewissheit der Mathematik verlassen und dort für sein Denken den sicheren Grund finden, andererseits will er die Täuschungsmanöver der Sophisten entlarven. Wie wird er dann mit dem Problem fertig, einerseits seine Philosophie nach dem Vorbild der Mathematik auf einer Grundlage zu errichten, die keinen Schein kennt und daher Trug und Täuschung als Seinsmöglichkeit auszuschließen scheint und zugleich in der Kritik der Sophisten Trug und Täuschung als deren Haltung und damit als Seinsmöglichkeit anzuerkennen? Dieser drohende Widerspruch war genau das Argument, mit dem die Sophisten Platon in die Enge treiben wollten. Sie sagten, wenn das aufklärerische Denken, dem auch Platon sich verpflichtet fühlt, die gleiche Gewissheit bietet wie die Mathematik, sind Trug und Schein unmöglich, und sie selbst scheinen nicht nur Philosophen zu sein, sondern können sich mit der gleichen Berechtigung Philosophen nennen wie Platon und dessen Schule.

Für Heidegger ist das eine Frage von größter Aktualität. Leben die Sophisten nicht weiter in den Aufklärern, Liberalen, Meinungsmachern, der von ihm beklagten »Diktatur der Öffentlichkeit« und des »Man«? Wie konnten die Mathematik und ihr Anspruch auf Objektivität und Genauigkeit, der Wunsch der Phänomenologie »zurück zu den Sachen« so sehr versagen? An Platons Dialog Sophistes ist genau zu studieren, wo Platon dort auf die Mathematik zurückgreift und wo auf philosophische Grundlagen. Heidegger ist auf der Suche nach einer Neubegründung der Philosophie unabhängig von der Mathematik und will zeigen, wie bereits Platon - ohne sich selbst dessen bewußt zu werden - den Boden der Mathematik verlassen hat. Das hat dann aber in der Beurteilung der Mathematik die niederschmetternde Konsequenz, dass die Mathematik ganz dem Geist der Sophisten, dem Schein und der Berechnung verfallen oder ihm zumindest hilflos ausgeliefert ist. So bewegt sich die Frage nach Mathematik und Dialektik in dem Spannungsverhältnis, entweder die Mathematik auf zweifelhafte Art durch den Nachweis einer Dialektik der Mathematik zu »retten«, oder die Mathematik der Dialektik gegenüberzustellen und sie den Sophisten zu überlassen. Im folgenden geht es um diese zweite Gefahr, der Stellung der Mathematik zwischen Sophistik und Philosophie.

Was ist ein Sophist? Platon charakterisiert ihn sehr abfällig: Er ist auf der Jagd nach Menschen, insbesondere den Jugendlichen aus reichen Elternhäusern, und gehört insofern in eine Gattung gemeinsam mit »Räuberei, Sklavenfängerei, Tyrannei und die gesamte Kriegskunst« (Platon "Sophistes", 222c). Er handelt mit Kenntnissen und zeigt seine Stärke als überlegener Streitkünstler, der sich in Streitgesprächen durchzusetzen und seine Gegner in Widersprüche zu verwickeln vermag. Gegenüber den Reichen gehört er im Grunde in die Gruppe »von knechtischen Diensten« (226b), wenn er sich um die Reinigung der Seelen der Jugendlichen kümmert und dafür bezahlen lässt.

Doch was heißt Seelenreinigung? So wie zwischen kranken und häßlichen Körpern zu unterscheiden ist, unterscheidet Platon auch kranke und häßliche Seelen. Bei kranken Seelen kommt es zum inneren »Aufruhr« und Unmaß der Seele, wodurch »Bösartigkeit« entsteht. Häßliche Seelen sind dagegen Seelen voller Unverstand, und eine Gestalt davon ist die Torheit: »Wenn was man nicht weiß man glaubt zu wissen; woraus wohl Alles was unserer Seele mißlingt Allen entstehn mag.« (229c). Von dieser »leeren Scheinweisheit« (231b) will der Sophist reinigen. - Heidegger spricht von Menschen »in einem unglücklichen Zustand seelischer Art« (Heidegger, Sophistes, S. 364) und noch deutlicher vom Phänomen der »Verranntheit« (Heidegger, Sophistes, S. 367).

Und damit scheint bereits alles klar zu sein. Platon hat mit unverhohlener Bosheit seine Antipathie und aristokratische Überheblichkeit herausgestellt, wenn er vom Zug zu den »Strömen des Reichtums und der Jugend« spricht (222a), der »Sklavenfängerei« (222c), dem »Seelengroßhandel« (224b) und den »knechtischen Diensten« (226b). Er lässt anklingen, dass wer gezwungen oder gar freiwillig bereit ist, sich in eine solche Stellung zu begeben, kaum mehr anders kann als auch ein knechtisches Bewusstsein zu entwickeln. Das widerspruchslos hinzunehmen zwingt jeden zur Selbstverleugnung, der anders als Platon nicht in der Lage ist, aus einem sicheren Vermögen heraus sich frei von äußeren Zwängen der Philosophie widmen zu können. Hegel hat in seinem Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes die treffende Antwort gegeben, was ihm sicher nicht leicht gefallen ist, da er in den Jahren der Arbeit an der Phänomenologie selbst mit größten materiellen Sorgen zu kämpfen hatte.

Doch Platon spürt, dass er sich zu verrennen droht und die Häßlichkeit der eigenen Seele zum Vorschein kommt. So ist den Sophisten nicht beizukommen, sondern im Gegenteil droht er selbst die Philosophie zu verfehlen. Er fährt fort:

»Zuerst laßt uns etwas stillstehen und ausruhen, und laßt uns bei uns selbst zusammenrechnen indem wir ausruhen, als wie vielerlei uns der Sophist erschienen ist.« (231c-d)

Irgendetwas stimmt noch nicht. Dies ist der Moment der Intuition, in der Platon aus seiner Befangenheit herausfindet, noch einmal alles durchgeht und prüft, ob es miteinander stimmig ist. Platon begibt sich in die von Heidegger beschriebene Haltung des Stehenbleibens. Stille, Ausruhen, Zusammenrechnen sind unverzichtbar für diese Art von Mathematik, wenn es denn überhaupt angemessen ist, hier von Mathematik zu sprechen. Aber Platon nennt es ausdrücklich »Zusammenrechnen«. Gibt dies dann nicht umgekehrt einen Hinweis, wann die Mathematik ihre Sicherheit verliert, nämlich dann, wenn ihr die Bedingungen der Ruhe und des Zusammenrechnens genommen werden?

Was kann nicht stimmen: Die Sophisten beanspruchen, alles zu wissen, und das ist unmöglich (233a-d). Da kann es sich nur um »eine scheinbare Erkenntnis« (233d) handeln und es muß geklärt werden, was »scheinbare Erkenntnis« ist. So ist die Frage nach Sein und Schein aufgeworfen. (Auch dies ist nicht ohne Ironie formuliert, wo doch die Sophisten die Seele gerade von der Torheit der Selbstüberschätzung reinigen wollen, »Wenn was man nicht weiß man glaubt zu wissen«.)

Beispiele für Schein sind Trugbilder und unwahre Rede. Doch wie lassen die sich fassen? Was unterscheidet ein Trugbild (phantasma) vom Ebenbild? Im Ebenbild (eikon) bleiben die mathematischen Größenverhältnisse (symmetriai) »in Länge, Breite und Tiefe, dann auch jeglichem seine angemessene Farbe« erhalten (235d). Doch ist das bereits Kunst? Ist das nicht nur bloße Widerspiegelung, photographische Abbildung? Wahre Künstler vermögen sich in ihren großen Werken davon los zu machen:

»Denn wenn diese die wahren Verhältnisse des Schönen (tón kalón) wiedergeben wollten, so weißt du wohl würde das obere kleiner als recht und das untere größer erscheinen, weil das eine aus der Ferne das andere aus der Nähe von uns gesehen würde.« (235e)

Hier geht es um das Beispiel der perspektivischen Verzerrungen. Heidegger nimmt diesen Gedanken auf und sagt, dass es darauf ankommt, »dass das Dargestellte als einheitlich wirkt«, »dass es nur so aussieht wie eine geschlossene Wirklichkeit« (Heidegger, Sophistes, S. 402). Gibt es also höhere Gesetze der Schönheit, die der mathematisch getreuen Abbildung der Größenverhältnisse überlagert sind? Damit ist bereits genauer angesprochen, wo innerhalb der Mathematik Schein und Täuschung entstehen. Auf den ersten Blick scheint die Täuschung da zu liegen, wo in den großen Werken die Größenverhältnisse in Länge, Breite und Tiefe verletzt werden, wo also der Künstler bewusst verzerrt und insofern täuscht, um im Ganzen einen treffenden Eindruck zu erzielen. Platon legt die umgekehrte Deutung nahe, dass die von der Mathematik studierten unmittelbaren Größenverhältnisse nur Schein sind, die die dahinter stehenden Gesetze der Schönheit verdecken. Es ist die Frage, ob sich auch die Gesetze der Schönheit wiederum mathematisch formulieren lassen. Sind dies nicht genau die Gesetze des Zusammen-Stimmens, auf die in den Momenten der Besinnung das Zusammen-Rechnen Bezug nimmt? All diesen Fragen wird nicht weiter nachgegangen. Unausgesprochen bleibt im Hintergrund Platons Meinung, dass sich die tiefen Gesetze der Mathematik mit denen der Schönheit decken, während ebenso unausgesprochen Heidegger die Mathematik auf die Betrachtung der unmittelbaren Größenverhältnisse reduziert sieht.

Statt diesen Fragen weiter nachzugehen will Platon das Problem noch grundsätzlicher aufwerfen. Wenn davon ausgegangen wird, dass Trugbilder die wahren Größenverhältnisse verfehlen, setzt das dennoch die Annahme voraus, dass auch Trugbilder Gegenstand der Mathematik sind und sich ebenso wie Ebenbilder und die Urbilder in der Wirklichkeit messen lassen. Wenn in der Vorstellung intuitiv zwischen Trugbildern, Ebenbildern und Urbildern unterschieden werden kann, muss es etwas Gemeinsames geben, das ihnen allen zugrunde liegt, sie dadurch miteinander vergleichbar macht, und von wo aus Sein und Schein unterschieden werden können. Trugbilder, Ebenbilder und Urbilder lassen sich nur messen, wenn sie in einem ganz elementaren Sinn von der Mathematik erreicht werden können. Was ist das? Mindestens können sie gezählt werden.

»Wie könnte nun jemand ohne Zahl das nichtseiende nur mit dem Munde aussprechen, oder auch nur in seinen Gedanken auffassen?« (238b)

Auch im unwahren Wort wird über  ein Etwas  gesprochen und daher gibt es eine erste Hoffnung, auf die Zahlen zurückzugehen und von hier aus der Unwahrheit beizukommen.

Doch ist klar, wie der Sophist antworten würde: das Nichtseiende ist weder Eines noch Vieles noch Etwas und entzieht sich der Zahl. Es scheint nur so, als könne das Nichtseiende als etwas Nichtseiendes, als ein oder vieles Nichtseiendes angesprochen werden. Und ebenso gelingt es nicht, das Trugbild zu fixieren.

Aber Platon gibt nicht auf, sondern betrachtet die verfahrene Lage:

»In einer solchen Verflechtung scheint freilich das nichtseiende mit dem seienden verflochten zu sein, die ganz ungereimt ist.« (240c)

Offenbar hat sich das Denken in einem Knoten verfangen und der kann nur aufgelöst werden, indem nochmals ein Haltepunkt gesucht und alle Voraussetzungen geprüft werden, von denen ausgegangen wurde. Wenn es nicht gelingt, das Nichtseiende zu fassen, vielleicht ist bereits das Seiende noch gar nicht gefasst bzw. sind im Seienden zahlreiche Annahmen impliziert, die es aufzudecken gilt?

Diesen Impuls des Weiterfragens will Heidegger als das Wesen des Menschen ergreifen. Eine solche Wendung des Gedankenganges, solches Gewinnen größerer Distanz, um das Problem in seiner ganzen Weite zu sehen, ist für ihn nur als Philosophieren möglich. Platon geht einen Schritt zurück und fragt, was glauben wir eigentlich über das Seiende zu wissen, von welchen bekannten Lehren gehen wir aus. Heidegger ist überzeugt, dass Platon hier den Weg von Aristoteles einschlägt. Er vermutet, dass dieser Dialog erst geschrieben wurde, als Aristoteles bereits mächtig die Diskussionen in der Akademie durcheinander gewirbelt hat und Platon angeregt war, darauf zu antworten. (Hier ist sicher in erster Linie die Physik von Aristoteles gemeint, die wahrscheinlich schon veröffentlicht war oder zumindest in ihren wichtigsten Gedanken in der Akademie diskutiert wurde.)

Und doch trennen sich hier die Wege von Platon und Heidegger. Während Platon nach etwas Umfassenderem sucht, wo Seiendes und Nichtseiendes  entflochten  werden können, stellt Heidegger die Frage, wie das Nichtseiende  angesprochen  werden kann. Er sagt bei der Interpretation dieser Passage:

»Ist so etwas überhaupt möglich, dass etwas, als etwas, was es selbst nicht ist, angesprochen werden kann? Die Frage nach der Möglichkeit eines solchen logos und des logos überhaupt, die Frage nach der Möglichkeit des Ansprechens von etwas als etwas, gründet darin, ob es überhaupt hinsichtlich des Seienden etwas gibt, das als ein anderes, als es selbst ist, sein kann.« (Heidegger, Sophistes, S. 431)

Das muss natürlich noch klarer herausgearbeitet werden. Zunächst sieht Heidegger Platon dem jungen Aristoteles folgen, wenn Platon fragt, was bisher über das Seiende gedacht wurde. Diese Art des Rückblicks, des Zurückverfolgens, wie ein vorliegendes Problem in einer vorangegangenen Geschichte der Meinungsbildung entstanden ist, wie es von verschiedenen Seiten angesprochen wurde, wurde in Heideggers Sicht erst von Aristoteles in vollem Bewusstsein eingeführt und hier von Platon übernommen. Wie wurde also das Seiende und das Nichtseiende von den Philosophen angesprochen, und warum ist das misslungen?

Platon zählt auf: Da gibt es welche, für die alles Seiende aus Vielem besteht, zum Beispiel aus den 4 Elementen, aus unendlich vielen Atomen, aus den Dichotomien einander widersprechender Grundstoffe wie das Trockene und Feuchte oder auch aus der inneren Dreifaltigkeit des Entwicklungsprozesses von Geburt, Leben und Tod. Doch allem diesem Vielen ist gemeinsam, dass die unterschiedlichen Elemente oder Entwicklungsstadien jeweils  sind  und insofern erscheint das  Sein  als etwas Einheitliches, das dem Vielen innerlich gemeinsam ist und dem Vielen als Einheitliches gegenübersteht. Das Sein ist in der Aussage verborgen »alles Seiende  ist  Erde, Wasser, Luft oder Feuer«, »alles Seiende  ist  eine Menge von Atomen« usw.

Wer dagegen umgekehrt annimmt, das Seiende sei Eins, gerät in den Widerspruch, diese Aussage zu denken und auszusprechen und dadurch das Sein in das objektiv Seiende und das Wort ‘Sein’ verdoppelt zu haben. Der Name ‘Sein’ steht dem Sein gegenüber.

Damit nicht genug findet Platon in der Philosophie-Geschichte den ungelösten Widerspruch, alles Sein sei körperlich (soma) bzw. alles Sein sei die unbewegte Idee, die hinter dem Körperlichen steht (eidos).

Gegen die Lehre der Somatiker vom Sein = Körper wendet Platon die Frage ein, ob dann auch die Seele oder gar ihre Tugenden und Stimmungen wie die Gerechtigkeit und so weiter einen eigenen Leib haben. Sind die Seele, die Gerechtigkeit usw. identisch mit den Körpern, die eine Seele haben, die gerecht sind usf.? Weiter gedacht - so verstehe ich Heidegger - führt dies auf die Frage nach dem Denken. Hat auch das Denken einen eigenen Leib? Wenn das Sein des Denkens der Körper ist, der denkt bzw. an den gedacht wird (und darauf laufen bis in das 20. Jahrhundert alle materialistischen Theorien des Denkens hinaus, die die Nachfolge der Somatiker angetreten haben), wird das Denken mit dem gleichgesetzt, was zum Denken angeregt hat. Aber Denken unterscheidet sich davon, indem es auf Möglichkeiten schauen kann, was noch-nicht ist, und an das denken kann, was nicht-mehr ist. Es denkt dann nicht nur an das, was  ist, auch nicht nur an das, was gerade als Gedachtes im Denken  ist, sondern auch an das, was  war  bzw. sein  wird, und an das, worüber bereits gedacht  wurde  und gedacht  werden kann. Denken eröffnet gegenüber dem Sein und damit für sich selbst den Horizont der Zeit, die Sicht auf das Vergangene und das Zukünftige. Dies ist nicht mehr körperlich oder noch nicht körperlich. (Später wird Heidegger weiter fragen, ob es das Denken ist, das diesen Horizont eröffnet, oder ob das Denken entsteht, wenn und indem sich der Horizont öffnet, wenn sich - in Heideggers späterer Sprachwahl - das Sein lichtet.)

Will es sich nicht in bloße Phantasterei verlieren, sondern bei der Sache bleiben, ist solches Denken nur möglich, wenn es die Sache ergreift und sich zugleich von ihr ergreifen lässt. Dies ist für Heidegger die Frage, wie etwas angesprochen werden kann: Es soll so angesprochen werden, dass sowohl seine Herkunftsgeschichte wie auch seine Entwicklungsmöglichkeiten deutlich werden. Dadurch wird dem Angesprochenen eine Entwicklungsfreiheit gegeben, wodurch es sich angesprochen fühlen kann und dann auf die Ansprache reagiert, »anspricht«, und jetzt umgekehrt dem weiteren Denken eine unvorhergesehene Wendung geben kann, das nun seinerseits »ergriffen« ist. Denken und Gedachtes sind keineswegs identisch, sondern in produktiver Wechselbeziehung. Das war von Heidegger gemeint, als er die Mathematik in einer Stellung zu den Sachen sah, wo diese von sich heraus zum Sprechen gebracht werden konnten.

Heidegger scheint sich weit von Platon zu entfernen und ist um so überraschter, als er im weiteren Platon in volle Übereinstimmung mit seiner Kritik der überlieferten Lehren des Seienden kommen sieht.

Im Gegensatz zu den Somatikern vertreten die Ideenfreunde die Gleichung Sein = eidos. Das bedeutet, dass wir »durch den Gedanken mit der Seele an dem wahrhaften Sein« Gemeinschaft haben, das selbst nicht zum »Werden« gehört (248a). Durch das Denken gelingt es, aus der Welt der Veränderungen hinauszuspringen und im Denken das eidos zu ergreifen, das dem Reich der Ideen zugehörig und daher ewig ist und kein Werden kennt. Und diese Meinung übernimmt Platon nun keineswegs, wie erwartet werden sollte, sondern setzt dagegen, dass diese Gemeinschaft mit dem Gedanken ein Erkennen ist, das in einem Erkenntnisprozess gewonnen wird, wodurch das scheinbar Un-Bewegte (die Ideen) in die Bewegung des Erkennens gerät. Es lässt sich nicht besser sagen als in Platons eigenen Worten:

»Dieses nämlich, dass wenn das Erkennen ein Tun ist, so folgt notwendig dass das Erkannte leidet, dass also nach dieser Erklärung das Sein, welches von der Erkenntnis erkannt wird, wiefern erkannt in sofern auch bewegt wird, vermöge des Leidens, welches doch, wie wir sagen, dem ruhenden nicht begegnen kann.« (248d-e)

Für Heidegger ist mit diesem treffenden Argument der Dialog im Grunde bereits abgeschlossen: »Diese Stelle ist das Zentrum, an dem sich das Verständnis dieser ganzen ontologischen Erörterung entscheidet« (Heidegger, Sophistes, S. 482). Sein ist »Imstande-sein zur Anwesenheit bei etwas« (Heidegger, Sophistes, S. 480), d.h. des Mit-sein mit etwas anderem, »Miteinander-sein-Können« (ebd.). Sein ist das, was durch die Erkenntnis von der »Bewegung, Leben, Seele, Erkennen« (Heidegger, Sophistes, S. 482) des Erkennenden berührt, angesprochen und innerlich bewegt wird. Aber die, die Sein = eidos setzen, sehen die Ideen als unbewegt. Sie geraten dadurch in den Widerspruch, dass diese unbewegten Ideen unmöglich jemals von der Erkenntnis erreicht werden können, und daher umgekehrt die Erkenntnis solche unbewegte Ideen nie erreichen und sich nie in Gemeinschaft mit ihnen setzen kann.

Der Dialog ist für Heidegger bereits entschieden, bevor es zur Einführung der dialektischen Methode und der 5 Hauptbegriffe kommt.

Heidegger folgt in dieser Einschätzung Hegel, allerdings ohne ihn zu nennen. Hegel hat in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie Platon gegen verschiedene Nachfolger verteidigt, die ihn missverstehen. Oft wird gesagt, für Platon residieren die Ideen in einem eigenen Reich, das nur der Intuition, Eingeweihten oder mit außergewöhnlicher Phantasie Begabten zugänglich sei. »Allein dies ist der Sinn Platons und der Wahrheit nicht. Sie sind nicht unmittelbar im Bewußtsein, sondern sie sind im Erkennen. ... Man hat sie deswegen nicht, sondern sie werden durch das Erkennen im Geiste hervorgebracht« (Hegel, Geschichte der Philosophie, HW 19.41). In dieser Einsicht sieht Hegel die vlelleicht größte Leistung der platonischen Dialektik. Dem weiteren Gang des Sophistes mag er jedoch ebenso wenig folgen wie nach ihm Heidegger. Er erwähnt ihn nicht einmal. Kommentarlos biegt er die 5 Hauptbegriffe um in 6 Begriffe, die aus Widerspruchspaaren bestehen: »Im Sophisten untersucht Platon die reinen Begriffe oder Ideen (eidê, Arten; denn die Ideen sind in der Tat nichts anderes) von Bewegung und Ruhe, Sichselbstgleichheit und Anderssein, Sein und Nichtsein« (HW 19.69). In seiner Wissenschaft der Logik läßt er stattdessen aus Sein und Nichtsein das Werden hervorgehen, während Platon dem Einen und dem Anderen die Bewegung folgen ließ und diesen drei Begriffen die Ruhe und das Sein, nicht jedoch das Nichtsein.

Wo Heidegger die Entscheidung gefallen sieht, ist für Platon erst der Weg geöffnet, um weiter zu gehen. Platon wollte zeigen, dass alle vorgefundenen Theorien über das Seiende in Widersprüche geraten und insofern scheitern, und daher über sie hinausgegangen werden muss. Heidegger sieht dagegen bereits in den kritischen Überlegungen gegen diese Theorien das Ergebnis gefunden, was Sophistik und Philosophie unterscheidet: Während die Sophisten formal über alles reden und daher alles zu wissen scheinen, ohne jemals an etwas anderes als ihr persönliches Einkommen oder ihren persönlichen Ruhm und Erfolg zu denken, begibt sich das Philosophieren in die existenzielle Krise, in der es die Ideen bewegt und sich von der Sache ergreifen lässt. Dass Platon diesen Neuansatz hat aussprechen können, kann Heidegger sich nur so erklären, dass Platon hier den Argumenten des jungen Aristoteles gefolgt ist, ohne deren ganze Tragweite zu erfassen.

Wenn Platon dann dennoch weitergeht, ist dies für Heidegger die entscheidende Weichenstellung, wo sich ein wahres Philosophieren in metaphysisches Denken verwandelte und in dieser Gestalt die Geschichte der Philosophie bis zu ihrem Höhepunkt bei Hegel prägte, bevor dann in der Kritik an Hegel eine Gegenbewegung einsetzte, deren volle Bedeutung bewusst zu machen Heidegger als seine Aufgabe sieht. Worin sieht er den Bruch: In der Kritik an den Ideenfreunden war Platon der Einsicht sehr nahe gekommen, dass Erkenntnis ein wechselseitiges Ansprechen und Angesprochen-Werden ist, Ergreifen und Ergriffen-Sein, eine existenziale Situation, die selbst nicht mehr in Worten beschrieben werden kann, sondern aus der die treffenden Worte hervorgehen. Dies ist für Heidegger die Lösung der Frage nach Seiendem und Nicht-Seiendem.

Platon schlägt einen anderen Weg ein: Um die heillos verknüpften Begriffe des Seienden und Nichtseienden aufzulösen, müssen sie in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Die früheren Lehren sind daran gescheitert, dass sie diesen Zusammenhang nicht gefunden haben. Was ist es, wodurch Seiendes und Nichtseiendes verknüpft sind? Was ist es, das beide voneinander trennt und zugleich aneinander fesselt? Nach dem Vorbild der »Sprachkunde« und der »Tonkünstler« (253a-b) sieht Platon die Verknüpfung (symploké eidón) als den Zusammenklang von zugrundeliegenden Begriffen, die auseinander gelegt werden müssen. Dies Auseinanderlegen ist für ihn »die Wissenschaft freier Menschen« (253c), »die dialektische Wissenschaft« (253d).

Nie darf vergessen werden, wie stark Platon von den Pythagoreern beeinflusst war. Deren Entdeckung des Tonsystems ist für ihn nicht nur Vorbild der Mathematik, sondern über die Mathematik für die dialektische Wissenschaft. Den Pythagoreern war es gelungen, alle gemischten Klänge zurückzuführen auf das System der elementaren Intervalle, wonach es nur ein System weniger Grundtöne und ihrer Intervalle in einem mathematisch genau quantifizierbaren Tonsystem gibt. Sie fanden, wie alle Töne aus Überlagerungen dieser Töne und ihrer elementaren Intervalle entstehen, und sie entdeckten in den Grundbeziehungen dieser Töne die Gesetze des Wohlklangs (und davon abweichend des Missklangs). Das ist das Vorbild der von Platon angesprochenen höheren mathematischen Gesetze der Schönheit. Und auf diese Weise will er auch ein System von gleichberechtigten Grundbegriffen finden, aus deren Beziehungen sich die Frage nach Seiendem und Nichtseiendem lösen lässt.

»Wer also dieses gehörig zu tun versteht, der wird Eine Idee durch viele einzeln von einander gesonderte nach allen Seiten auseinander gebreitet genau bemerken, und viele von einander verschiedene von Einer äußerlich umfasste, und wiederum Eine durchgängig nur mit einem aus vielen verknüpfte, und endlich viele gänzlich von einander abgesonderte. Dies heißt dann, in wiefern jedes in Gemeinschaft treten kann und in wiefern nicht, der Art nach zu unterscheiden.« (235d-e)

Da für Heidegger der Dialog bereits entschieden ist, kann er mit dieser Stelle nichts mehr anfangen. »Ich gestehe, dass ich von diesem Abschnitt eigentlich nichts verstehe, dass mir die einzelnen Sätze bei längerer Beschäftigung in keiner Weise klar geworden sind.« (Heidegger, Sophistes, S. 528). Heidegger geht diesen Weg von Platon nicht mehr mit. Obwohl er sowohl bei Platon wie in der Mathematik Ansatzpunkte sieht, die seinem Verständnis von Philosophieren entsprechen, fallen dann für ihn sowohl die Dialektik wie die Mathematik in den Bereich des metaphysischen Denkens, das nur noch den Anspruch hat,  über  die Dinge zu denken, statt sich  in  die existenziale Situation der Erkenntnis zu begeben.

Platon dagegen fragt, welche innere Dynamik diese Situation hat und wie diese Dynamik hinausträgt aus der Verschlingung von Seiendem und Nicht-Seiendem. Er zählt 5 Hauptbegriffe (mégista géne) auf (und es wird die entscheidende Frage sein, was solches Zählen bedeutet): Seiendes (to on) - Bewegung (kinesis) - Ruhe (stasis) - Eines (Identität, tautón) - Anderes (Verschiedenes, tháteron). Und er betont ausdrücklich, dass es nicht weniger als 5 Begriffe sein können (256c-d). Heidegger übergeht diese Stelle. Bei Stenzel klingt der Gedanke an, dass diese Begriffe in Übereinklang gebracht werden können mit der Zahlenlehre Platons, wie sie Aristoteles in Über die Seele referiert hat: Eines (1) - Anderes (2) - Bewegung (3) - Ruhe (4) - Sein (5) (Stenzel 1924, 95 mit Bezug auf Aristoteles De Anima 404b17ff). In der Fünfzahl des Seins schließen sich der höchste Begriff (das Sein) und die Anzahl dieser Hauptbegriffe zusammen. Die Bewegung steht in der Mitte und stellt sicher, dass dies nicht 5 starre Begriffe sind, ohne Bezug aufeinander und ohne Ereignis. (Wenn - wovon ich ausgehe - Heideggers Vermutung zutrifft, dass dieser Dialog im Gespräch mit Aristoteles entstanden ist, unterstützt das die These Stenzels. Aristoteles' Über die Seele ist sicher in Zusammenhang mit seiner Physik zu sehen.)

Im Gegensatz Seiendes - Nichtseiendes sind beide Seiten verkürzt, solange sie nur unmittelbar aufeinander bezogen sind. Da findet Heidegger wieder Übereinstimmung mit Platon (und unausgesprochen Hegel), indem er seinem Ansatz folgend fragt, was es bedeutet, wenn Seiendes bzw. Nichtseiendes  ausgesagt  werden. Nichtseiendes bedeutet dann die Aussage der Negation. Beschränkt sich Negation auf die Aussage des Nichtseienden, besagt sie lediglich, dass etwas nicht ist. Platon bringt nun aber den Begriff des Anderen (eteron) herein und gewinnt dadurch ein viel weiteres Verständnis der Negation:

»Das Nicht also und die Negation ist damit verstanden als erschließendes Nicht. Das Ver-nichten im legein, das Nein-sagen, ist ein Sehen-lassen, nicht aber, wie die bloße Ausschließung gegenüber der rein nennenden Setzung, ein Verschwinden-lassen, ein Vor-das-Nichts-Bringen des Gesagten, (...) so dass die Negation selbst produktiven Charakter bekommt.« (Heidegger, Sophistes, S. 560)

Wenn von etwas gesagt wird, was es nicht ist, geht es weder um die leere Aussage, dass es nicht das ist, was es nicht ist, noch um ein beliebiges Aufzählen alles dessen, was es offensichtlich nicht ist (weder »Eine Rose ist nicht eine Nicht-Rose« noch »Eine Rose ist nicht eine Kuh, nicht ein Haus, nicht Notariatsgebühren, nicht ...«), sondern um ein »erschließendes Nicht«. Damit ist gemeint, es wird nach einer »Hinsicht«, einem Horizont gefragt, innerhalb dessen das Vorliegende anders ist als Anderes. Das ist der tiefe Sinn der diairetischen Methode der Unterscheidungen. Es unterscheidet sich von etwas anderem, mit dem es aber auch etwas Gemeinsames hat, einer gemeinsamen Art oder Gattung angehört.

Weiter gedacht führt das zu einem Verständnis von Kritik, der es nicht um die Vernichtung des Gegners oder der Gegenposition geht, indem diese halt-los oder lächerlich gemacht werden. Zutreffende und produktive Kritik findet die innere Krisis, indem sie die Sache - und nun verstanden als Stoff und nicht als Streitfall - so ansieht, dass sie deren innere Entwicklungsmöglichkeiten trifft, wo Ruhe und Bewegung ineinander umschlagen können. Die Sache bleibt verworren, solange das Verhältnis beider un-frei bleibt, wo die Sache also entweder in falsche Ruhe verstockt oder sich in falsche Bewegung verrennt.

Und ebenso bekommt die Aussage, dass etwas  ist, eine andere Bedeutung als innerhalb des engen Widerspruchs Seiendes - Nichtseiendes. Wenn gesagt wird, dass etwas ist, bedeutet das mehr, als einer Sache bloß einen Namen zu geben (dieses Etwas hier ist eine Rose) oder sie auf ihre leere Identität A = A (die Rose ist eine Rose) zu fixieren. Wenn gesagt wird, dass eine Sache zu einer bestimmten Art oder Gattung gehört, wie Schleiermacher übersetzt, gibt Heidegger den erhellenden Hinweis, dass Platon hier von geni bzw. genos spricht, verstanden als Stämme, als Hinweise auf die Herkunftsgeschichte. Eine Sache ist die, die sie geworden ist.

Für Platon bedeutet Dialektik die Auseinanderlegung der Polarität Seiendes - Nichtseiendes in eine Gruppe von 5 gleichberechtigten Hauptbegriffen. Daher ist Dialektik für ihn eine »freie Wissenschaft«, indem sie die Enge der auf zwei Pole beschränkten Polarität öffnet. Erst in dieser Gruppe wird es möglich, das eingeschränkte und sich in Paradoxien verrennende Verständnis von Seiendem und Nichtseiendem aufzubrechen, indem sich das Seiende wie das Nichtseiende nun verteilen auf alle 5 Begriffe und ihr unmittelbarer Gegensatz aufgelöst wird in der inneren Bewegung dieser 5 Begriffe. Platon hebt ausdrücklich hervor, dass es nicht weniger als 5 Begriffe sein können (256d). Heidegger versteht diese Fünfzahl nur in dem eingeschränkten Sinn, dass für ihn in diesem Zusammenhang die Zahl »nichts anderes (repräsentiert) als die Vollständigkeit und Durchgängigkeit der Bezüge innerhalb einer bestimmten, thematisch gesetzten koinonia« (koinonia: Gemeinschaft) (S. 567).

Mathematik und Dialektik muss für Platon eher heißen: Zahl und Dialektik. Die Zahlen spielen hier an zwei Stellen eine entscheidende Rolle: Die Zahlen 1 und 2 sind in die Gruppe der 5 Hauptbegriffe mit aufgenommen und bei ihnen beginnt die innere Bewegung dieser 5 Begriffe, und die Anzahl 5 aller Begriffe sichert die Vollständigkeit. Platon wandelt den Gegensatz Seiendes - Nichtseiendes um in Eines - Anderes (etwas  ist  Eines und  ist nicht  das Andere, von dem es sich unterscheidet), wobei das Eine und das Andere für ihn die beiden ersten Zahlen 1 und 2 bedeuten. Diese Umwandlung ist aber nur möglich durch das »Einzählen« weiterer Begriffe. 1 und 2 für sich allein könnten nicht an die Stelle von Seiendem und Nichtseiendem treten, würden deren Bedeutung nicht richtig treffen. Während aber der Gegensatz Seiendes - Nichtseiendes keine Bewegung eröffnet, ist es die Aufgabe der Zahlen 1 und 2, so an ihre Stelle zu treten, dass mit ihnen eine Bewegung möglich wird, dass von ihnen aus weiter gezählt werden kann.

Platon zählt gewissermaßen »philosophisch«. Er zählt mit den ersten beiden Zahlen beginnend nicht einfach weiter, sondern über die Zahlen hinaus: Eins - Zwei - Bewegung - Ruhe - Sein. Das verändert radikal den Blick auf das Nichtseiende und auch auf die Mathematik. Wird zu zählen begonnen Eins - Zwei - ..., dann besteht keineswegs die Notwendigkeit, ausschließlich im Sinne der eindimensionalen Zahlengerade weiter zu zählen:

    Eins - Zwei - Drei - ... n - (n+1) - ... - ∞ - ...

Vielmehr enthält das mit Eins - Zwei - ... anhebende Zählen eine viel größere Spannweite, was vielleicht deutlicher wird, wenn gezählt wird: das Eine - das Andere - ... Dann wird auch sprachlich klarer, dass nicht unbedingt folgen muss: Das Eine - das Andere - das Dritte - ..., sondern dass auch so weiter gezählt werden kann wie bei Platon.

Und dem Seienden steht nicht mehr frontal das Nichtseiende gegenüber, sondern eine Entwicklung, die mit den Zahlen beginnt. Das Nichtseiende ist in diese Begriffe des Einen, des Anderen, der Bewegung und der Ruhe »zerstreut«. Das Nichtseiende ist polarisiert, wobei »polarisiert« nun nicht verstanden wird im Sinne der Einschränkung auf zwei starre Pole, sondern im Sinne der Ausbildung von Multipletts wie in der Physik. Die Zahlen 1 und 2 sind noch indifferent gegen Seiendes und Nichtseiendes, umfassen sowohl Seiendes wie auch Nichtseiendes, doch der Schritt von der 1 zur 2 zwingt nicht unbedingt in die Eindimensionalität der Zahlengerade, sondern eröffnet den Blick auf die Bewegung überhaupt und dann als ihr Gegenteil auf die Ruhe. Als Ergebnis dieser ganzen Bewegung wird dann im 5. Schritt die Idee des Seins erreicht.

Der Zusammenhang der Zahlen ist für Platon keineswegs bloß das formale »Nacheinander« zweier Zahlen, etwa in der Nachfolger-Relation, wie sie später von Peano als Grundaxiom der natürlichen Zahlen formuliert wurde. Das ist aber das Grundverständnis der Zahlen, von dem Heidegger in dieser Vorlesung ausgeht. In einem eigenen Exkurs behandelt er die Zahlentheorie in der Physik von Aristoteles und fasst zustimmend zusammen: Es »ist nichts zwischen der Einheit und der Zweiheit« (Heidegger, Sophistes, S. 116), ihr Zusammenhang ist das bloße »Nacheinander« (ebd.).

Zweifellos lässt Platon weiteren Auslegungen großen Raum. Wieviel ließe sich allein über die Interpretation der Zahl 2 als »das Andere« sagen! Er hat offenbar bewusst auf eine öffentliche Darstellung seiner »geheimen« Lehre verzichtet. Aber einiges ist vielleicht doch klarer geworden: Die Mathematik steht nicht zwischen der Sophistik und der Philosophie, sondern sie bietet den gesuchten Rahmen, um von dem verstockten Denken der Sophisten, das sich in eine bloß formale Analyse der Probleme zurückzieht, zum öffnenden Philosophieren zu gelangen. Dies Verständnis der Mathematik wurde nur möglich mit der dialektischen Methode, das vorgefundene Problem so auseinander zu legen, dass in der Auseinanderlegung die Zahlen ihren Ort fanden und ihre innere Dynamik entfalten konnten. In gelingenden Momenten können Mathematik und Dialektik zu einem Zusammenspiel finden. Dann verhindert die Dialektik eine bloß formale Vorgehensweise der Mathematik, wodurch diese wirklich der Sophistik verfallen würde und der Sophistik ihre große Macht verliehe. Und umgekehrt gibt die Mathematik der Dialektik den Ansatzpunkt, um erfolgreich eine Frage so auseinander zu legen, dass deren innere Dynamik getroffen werden kann.

2003

Literaturhinweise:

Markus Joachim Brach: Heidegger - Platon, Würzburg 1996

Hans-Georg Gadamer: Hegels Dialektik, Tübingen 1980

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie
in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971 (zitiert als HW); Link

Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Natorp-Bericht), Stuttgart 2003

Martin Heidegger: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (Gesamtausgabe Band 18), Frankfurt am Main 2002

Martin Heidegger: Platon: Sophistes (Gesamtausgabe Band 19), Frankfurt am Main 1992

Dietmar Koch, Klaus Bort (Hg.): Kategorie und Kategorialität, Würzburg 1990

Peter Kolb: Platons Sophistes, Würzburg 1997

Paul Natorp: Platos Ideenlehre, Hamburg 1994

Platon: Parmenides - Sophistes - Politikos, Frankfurt am Main, Leipzig 1991
Nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl und anderen, herausgegeben von Karlheinz Hülser

Stanley Rosen: Hegel und der eleatische Fremde, in:
Manfred Riedel (Hg.): Hegel und die antike Dialektik, Frankfurt am Main 1990

Julius Stenzel 1917: Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles, Darmstadt 1961 [1917]

Julius Stenzel 1924: Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, Darmstadt 1959 [1924]

Wolfgang Wieland: Die aristotelische Physik, Göttingen 1992

Paul Ziche: Mathematische und naturwissenschaftliche Modelle in der Philosophie Schellings und Hegels, Stuttgart-Bad Cannstadt 1996

 

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