Walter Tydecks

 

1. Wendepunkte der symbolischen Mathematik

Gewöhnlich kann sich die Mathematik auf ihre Symbole verlassen. In den axiomatischen Systemen ist festgelegt, welche Symbole benutzt und wie mit ihnen operiert werden soll. Wenn Fragen aufkommen, die innerhalb dieser Systeme nicht gelöst werden können, werden erst einmal weitere Axiome und Regeln ergänzt oder ihr Verhältnis zueinander neu bestimmt. Typische Beispiele sind der Übergang zur nicht-euklidischen Geometrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Neubegründung der Axiomatik durch die Mathematiker-Gruppe Bourbaki in den 1930er Jahren, als sie die Axiome der Algebra, Topologie und Verbandstheorie neu zusammenstellten. Das ist hier aber nicht mit Wendepunkten gemeint.

An den Wendepunkten ihrer Geschichte wird sich die Mathematik nicht nur der Unvollständigkeit der überlieferten Symbole bewußt, sondern überhaupt ihrer Grenze, mit Symbolen arbeiten zu müssen. Zwei Ereignisse müssen zusammentreffen: Es muß eine ungeheure, ungefesselte Energie geben, die zur mathematischen Lösung neuer Probleme drängt. Wenn dies fehlt, stagniert auch die Mathematik. Das war der Fall in den langen Jahrhunderten der römischen Vorherrschaft, von Archimedes bis zur arabischen Mathematik in Bagdad, und nochmals, als die arabischen Reiche untergegangen waren, aus Indien und China keine neuen Impulse mehr kamen und die neu entstehenden Nationen und Staaten in Westeuropa sich noch in der von vielen Rückschlägen unterbrochenen Aufbauphase befanden.

Und die Mathematik muß sich bereits weit in den Prozeß der Hervorbringung neuer Erkenntnisse und Produktionsverfahren begeben haben, muß also auf der Höhe ihrer Erfolge stehen, und dann aus sich selbst heraus wahrnehmen, wie sie an ihre Grenzen stößt. Beispiele:

Dass der Ansatz von Oskar Becker liegen blieb, lag aber nicht nur an den Erfolgen der pragmatisch orientierten Mathematik, sondern auch an seiner Zugehörigkeit zu einer Denkströmung in den 1920er Jahren, die ihren revolutionären Anspruch beim Faschismus verwirklicht sah. Schlimmer noch: Diese Richtung zeigte sich im weiteren unfähig, über dies Verhältnis ins reine zu kommen und hat daher ein bis heute unbewältigtes Erbe hinterlassen, dessen Folgen sich um so härter zeigen werden, wie die materielle Erfolgsgeschichte der Nachkriegsjahre und die von ihr erzeugte Dauerbetäubung dem Ende entgegen gehen.

Natürlich war es unmöglich, eine eigene "deutsche Mathematik" in dem Sinne zu begründen, dass hier anders gerechnet wird als sonst. Und doch ist in dieser Strömung ein wirkliches Problem zum Ausbruch gekommen, als sie gegenüber einer Mathematik, die zu einem logischen Apparat erstarrte, nach deren verborgenen Visionen fragte. Die Gegenrichtung, die nach den Erfahrungen des Totalitarismus den Schluß gezogen hatte, nun erst recht jede "Weltanschauung" aus der Mathematik zu verbannen, hat auf ihre Art die Stockung verfestigt. Ob Konservative, Sozialdemokraten oder Sozialrevolutionäre, alle berufen sich auf eine "wertfreie Wissenschaft" und sind sich darin einig, Visionen nur im Bereich des Politischen und in ihren Sonntagsreden im aufgesetzten Religiösen zu sehen. Dagegen sollen hier die Ideen zur Mathematik aus der Zeit des Faschismus als Symptom einer Krise ernst genommen und interpretiert werden. Die Krise der Mathematik kann nicht einfach nach dem Modell der Politik als Kampf zweier Strömungen beschrieben werden, der vorläufig durch einen pragmatischen Kompromiß, einer Art Sozialfrieden ausgeglichen ist. Erst recht soll sie nicht weiter verdrängt und totgeschwiegen werden.

© tydecks.info 2002