Gewöhnlich kann sich die Mathematik auf ihre Symbole verlassen. In den axiomatischen Systemen ist festgelegt, welche Symbole benutzt und wie mit ihnen operiert werden soll. Wenn Fragen aufkommen, die innerhalb dieser Systeme nicht gelöst werden können, werden erst einmal weitere Axiome und Regeln ergänzt oder ihr Verhältnis zueinander neu bestimmt. Typische Beispiele sind der Übergang zur nicht-euklidischen Geometrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Neubegründung der Axiomatik durch die Mathematiker-Gruppe Bourbaki in den 1930er Jahren, als sie die Axiome der Algebra, Topologie und Verbandstheorie neu zusammenstellten. Das ist hier aber nicht mit Wendepunkten gemeint.
An den Wendepunkten ihrer Geschichte wird sich die Mathematik nicht nur der Unvollständigkeit der überlieferten Symbole bewußt, sondern überhaupt ihrer Grenze, mit Symbolen arbeiten zu müssen. Zwei Ereignisse müssen zusammentreffen: Es muß eine ungeheure, ungefesselte Energie geben, die zur mathematischen Lösung neuer Probleme drängt. Wenn dies fehlt, stagniert auch die Mathematik. Das war der Fall in den langen Jahrhunderten der römischen Vorherrschaft, von Archimedes bis zur arabischen Mathematik in Bagdad, und nochmals, als die arabischen Reiche untergegangen waren, aus Indien und China keine neuen Impulse mehr kamen und die neu entstehenden Nationen und Staaten in Westeuropa sich noch in der von vielen Rückschlägen unterbrochenen Aufbauphase befanden.
Und die Mathematik muß sich bereits weit in den Prozeß der Hervorbringung neuer Erkenntnisse und Produktionsverfahren begeben haben, muß also auf der Höhe ihrer Erfolge stehen, und dann aus sich selbst heraus wahrnehmen, wie sie an ihre Grenzen stößt. Beispiele:
Kepler. Mit der kopernikanischen Umwälzung der Astronomie und den experimentellen Methoden von Galilei hatte die neue Naturwissenschaft in Europa endgültig ein Stadium erreicht, wo sie in der Lage war, ihre Fragen mathematisch zu formulieren und mit der Mathematik die Sicherheit gewann, über Richtig und Falsch der Antworten zu entscheiden. Das beflügelte natürlich auch die Mathematik enorm. Als dann die traditionellen Leitbilder der Mathematik versagten, die Gesetzmäßigkeiten der Natur geometrisch mithilfe idealer Figuren (Kreisen und Geraden) darzustellen, war die Mathematik zutiefst über den Gehalt der von ihr benutzten Symbole verunsichert. Das war die Frage, vor der Kepler stand. Woher beziehen die Symbole ihre Kraft? Wie sind neue Symbole mit überlegener Kraft zu finden? Um welche Kraft geht es hier? Die Mathematik mußte durch die Magie hindurch und sehen, dass sie heil wieder daraus hervorkam.
Leibniz. Zur Zeit von Kepler wurde ein gordischer Knoten durchschlagen. Es war nicht nur die Vorstellung aufgegeben, dass die Erde im Mittelpunkt der Welt liegt, sondern auch die Prämisse, dass sich alle Himmelskörper naturgemäß auf Kreisbahnen bewegen. Das scheint ein eher nebensächliches technisches Problem zu sein. Doch ohne gleich zu verstehen, wie das eigentlich geschehen war, empfanden auf einmal Physik und Mathematik eine ungeahnte Offenheit, hatten sie sich doch im Grunde befreit von der geometrischen Ebene und der ihr mathematisch äquivalenten Kugeloberfläche und buchstäblich den vollen dreidimensionalen Raum erobert. Wie in einem Rausch entstanden im 17. Jahrhundert die verschiedensten mechanischen Systeme und Bewegungsmodelle, seien es die Keplerschen Bewegungsgesetze der Planeten, die mechanischen Stoßgesetze, die Gesetze der Lichtbrechung und Lichtwellenausbreitung, die Fallgesetze und Anziehungsgesetze der Gravitation und so fort.
Und noch mehr: Einmal unabhängig geworden von den Grenzen der Axiome und Konstruktionsprinzipien der euklidischen Geometrie, wagte sich die Naturwissenschaft, überhaupt das vorsichtige deduktive Vorgehen zu verlassen. In allgemeiner Weise hatte das Francis Bacon verlangt, der als erster die ganze Tragweite des Bruchs mit der Naturphilosophie der Antike empfand und daher konsequent eine neue "Anleitung zur Interpretation der Natur" für notwendig hielt. Zwar war es auch ihm am Anfang dieses Weges nicht anders möglich, als den Bruch noch innerhalb der von der Antike überlieferten logischen Systeme zu interpretieren und als Wechsel von der deduktiven zur induktiven Vorgehensweise zu verstehen. Das führt natürlich wörtlich genommen in Widersprüche und Paradoxien. Doch die Naturwissenschaft hatte verstanden, was er sagen wollte, auch wenn ihm noch die adäquaten Begriffe und Symbole fehlten. Denn was geschah: Die physikalischen Gesetze wurden auf Grundlage empirischer Beobachtung aufgestellt, ohne zu warten, bis es möglich war, sie deduktiv aus einem umfassenderen mathematischen Raumverständnis abzuleiten. Die Physiker setzten in ihren Gleichungen Buchstaben ein, die als Platzhalter dienten, um dort die empirischen Beobachtungszahlen einzutragen, z.B. für die Masse, die Zeit, die Beschleunigung. Begeistert von ihren Erfolgen verließen sie sich darauf, dass intuitiv im Hintergrund ein neues Raummodell und eine neue Logik stehen, wodurch alle diese Gesetze sich integrieren lassen. Einmal von den Grenzen der euklidischen Geometrie befreit, wollten sie nicht nochmals auf die Mathematik warten, bis die ihnen neues Werkzeug bereit stellt, sondern sahen ihre eigenen Berechnungen und Methoden als unmittelbar mathematisch an. Seit Giordano Bruno fühlen sie sich frei, unmittelbar in den unbegrenzten Weiten unendlicher Universen operieren zu können, was ihnen die Philosophen bis heute übel nehmen, die seit Aristoteles das Gebiet der Transzendenz für sich gepachtet hatten.
Das ist in gewisser Weise die große Auseinandersetzung von Newton und Leibniz. Leibniz hatte nicht im geringsten die Absicht, die Erfolge der Naturwissenschaft aufzuhalten. Im Gegenteil war er von ihnen nicht weniger begeistert als Newton und konnte auch dessen physikalische Erkenntnisse voll würdigen. Aber er sah als erster, dass hier mit den neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen auch eine neue Mathematik, eine neue Symbolik der Mathematik am Entstehen war, und dass auf Dauer alle neuen Erkenntnisse gefährdet sein würden, wenn es nicht gelingt, diese neue Mathematik zu verstehen und zu sichern. Aber im Gegensatz zu Newton wollte er nicht wahrhaben, dass sie immer mehr in Widerspruch geraten würden zu allen überlieferten Weltanschauungen. Beide - Leibniz und Newton - standen am Anfang einer Bewegung, die 200 Jahre später Nietzsche als "europäischen Nihilismus" diagnostizieren sollte.
Krise im 20. Jahrhundert. Mit seinem Kalkül der Infinitesimal-Rechnung hatte Leibniz den Weg gewiesen, auf dem nun die Mathematik nicht nur nachziehen, sondern sogar im 19. Jahrhundert durch die Bereitstellung neuer mathematischer Methoden und Rechenverfahren im Vorgriff den Naturwissenschaften Möglichkeiten bieten konnte, die dann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von der Relativitätstheorie und den verschiedenen Modellen der Quantenmechanik mit neuen Inhalten gefüllt wurden. Die Physik hatte aufgenommen, was Leibniz Newton sagen wollte: Nachdem einmal der dreidimensionale Raum (gegenüber der euklidischen Fläche) erobert war, waren prinzipiell den Entwürfen neuer Raum- und Zeitvorstellungen keine Grenzen gesetzt, wenn sie sich nur wie Leibniz beim Entwurf des Differentialkalkül und der neuen Differentialsymbole daran hielten, klare algebraische Regeln aufzustellen, die zwei Bedingungen erfüllen: Sie dürfen nicht in sich widersprüchlich sein und sie müssen den klassischen euklidischen Raum als Grenzfall enthalten. So entstanden die neuen räumlichen Vorstellungen: im Großen über die Geschichte und die Dynamik des Weltalls und im Kleinen über die Erhaltungsgesetze und Übergangswahrscheinlichkeiten der Elementarteilchen, die sich ineinander verwandeln.
Während jedoch früher von der Physik, von Newton, unerschütterliches Vertrauen in den zugrundeliegenden Raum ausging, und im Grunde gar nicht verstanden wurde, was Leibniz eigentlich wollte, ist es heute umgekehrt eher so, dass die Mathematik sich mit der formalen Eleganz der von ihr entwickelten Kalküle und Systeme zufrieden gibt, während die Physik sich nicht damit abfinden kann, dass es nicht gelingt, im Großen und im Kleinen ein einheitliches, durchgehendes Raumkonzept zu entwerfen. Sie zweifelt daher - zu Recht - zunehmend an ihren eigenen Erfolgen. Verzweifelt sucht sie nach anschaulichen Vorstellungen wie einem "gekrümmten Raum", einem "Urknall" oder "Schwarzen Loch", was alles der Mathematik genau so ungereimt und verworren vorkommen muß wie ein "blauer Begriff" oder ein "zähes Urteil".
Auf diese Frage gibt es bis heute in der Mathematik keine Antwort, und diese Frage scheint sogar ähnlich unverstanden zu sein, wie früher Newton nicht verstanden hatte, was Leibniz eigentlich wollte. Die unvorstellbaren technologischen Erfolge bei der Anwendung der von der mathematischen Physik entwickelten Methoden und Erkenntnisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verstärkt noch durch den Siegeszug der von der Mathematik angetriebenen Informationstechnologie und der ihr eigenen "Symbol-Verarbeitung", haben diese Frage weiter verdecken können. Aber genau darauf scheint mir die Frage nach der symbolischen Mathematik zu zielen, wie sie in den 1920er Jahren von Oskar Becker gestellt wurde.
Dass der Ansatz von Oskar Becker liegen blieb, lag aber nicht nur an den Erfolgen der pragmatisch orientierten Mathematik, sondern auch an seiner Zugehörigkeit zu einer Denkströmung in den 1920er Jahren, die ihren revolutionären Anspruch beim Faschismus verwirklicht sah. Schlimmer noch: Diese Richtung zeigte sich im weiteren unfähig, über dies Verhältnis ins reine zu kommen und hat daher ein bis heute unbewältigtes Erbe hinterlassen, dessen Folgen sich um so härter zeigen werden, wie die materielle Erfolgsgeschichte der Nachkriegsjahre und die von ihr erzeugte Dauerbetäubung dem Ende entgegen gehen.
Natürlich war es unmöglich, eine eigene "deutsche Mathematik" in dem Sinne zu begründen, dass hier anders gerechnet wird als sonst. Und doch ist in dieser Strömung ein wirkliches Problem zum Ausbruch gekommen, als sie gegenüber einer Mathematik, die zu einem logischen Apparat erstarrte, nach deren verborgenen Visionen fragte. Die Gegenrichtung, die nach den Erfahrungen des Totalitarismus den Schluß gezogen hatte, nun erst recht jede "Weltanschauung" aus der Mathematik zu verbannen, hat auf ihre Art die Stockung verfestigt. Ob Konservative, Sozialdemokraten oder Sozialrevolutionäre, alle berufen sich auf eine "wertfreie Wissenschaft" und sind sich darin einig, Visionen nur im Bereich des Politischen und in ihren Sonntagsreden im aufgesetzten Religiösen zu sehen. Dagegen sollen hier die Ideen zur Mathematik aus der Zeit des Faschismus als Symptom einer Krise ernst genommen und interpretiert werden. Die Krise der Mathematik kann nicht einfach nach dem Modell der Politik als Kampf zweier Strömungen beschrieben werden, der vorläufig durch einen pragmatischen Kompromiß, einer Art Sozialfrieden ausgeglichen ist. Erst recht soll sie nicht weiter verdrängt und totgeschwiegen werden.
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