Walter Tydecks

 

Qualitäten und Atome

Im Grunde besteht die ganze Mathematik nur aus Symbolen. Die Zahlen und dann auch "Platzhalter" wie Kleinbuchstaben, griechische Buchstaben und einige spezielle Sonderzeichen sollen sagen, womit gerechnet wird. Mit Zeichen wie +, -, √ (Wurzel), ∫ (Integral) und so weiter wird festgelegt, wie gerechnet werden soll. Während die Zahlzeichen einstehen für irgendwelche gezählten Objekte, also in allgemeinster Weise die Wirklichkeit in der Mathematik repräsentieren, ist das bei den Rechensymbolen nicht so offensichtlich. Vielmehr stellt sich die Frage, ob sie aus Konvention entstanden sind, oder ob sie nicht letzten Endes ebenfalls auf Objekte verweisen, mit deren Vorstellung die Möglichkeit der jeweiligen Rechenoperationen verbunden ist.

Anders gefragt: Ist es möglich, sich vorzustellen, was mit '+' gemeint ist, ohne dabei an irgendwelche konkreten Objekte zu denken, die addiert werden können? Und kann dann nicht bereits das Zeichen '+' ähnlich wie die Zahlzeichen einen Bezug zu diesen Objekten herstellen? Das Zeichen '+' beschreibt eine gemeinsame Eigenschaft aller Objekte, die addiert werden können. Kann es dann nicht als ein Symbol für alle diese Objekte angesehen werden? - Und welche Objekte können nicht addiert werden: Das sind immer Objekte, die Grenzen beschreiben, sei es der Himmel, der Punkt des Urknalls oder die mathematischen Symbole für Unendlichkeit. Jede Philosophie der Mathematik stößt schnell auf diese Grenzobjekte, auf die das Zeichen '+' nicht anwendbar ist. Das Zeichen '+' kann anschaulich interpretiert werden als Symbol alles dessen, was nach außen offen ist.

Normalerweise denkt aber niemand beim alltäglichen Rechnen über solche Fragen nach. Wenn überhaupt, dann wird so argumentiert, dass Zahlzeichen und Rechensymbole Eindeutigkeit und Einfachheit beim Rechnen sicherstellen sollen. Es gibt 10 verschiedene Ziffern, weil sich das Rechnen im Dezimalsystem eingebürgert hat. Der Einsatz von Buchstaben erfolgt ganz unter Gesichtspunkten der besseren Übersichtlichkeit (wenn z.B. die ersten Buchstaben wie 'a' und 'b' zur Darstellung einfacher Axiome wie 'a + b = b + a' genutzt werden, die letzten Buchstaben wie 'x', 'y' und 'z' für Unbekannte in Gleichungen stehen und 'i',' j', 'k' für die Indizes in Zahlenfolgen und Matrix-Elementen, z.B. 'ai', 'aij'.).

Offenbar gibt es zwei verschiedene Grundvorstellungen über die Bedeutung der mathematischen Symbole. Das wird am klarsten bei den Zahlen: Werden Symbole als Zeichen für Qualitäten verstanden, so bekommen auch Zahlsymbole eine jeweils qualitative Bedeutung (Zahlenmystik). Die Pythagoreer gingen gerade davon aus, dass die Naturharmonien durch Zahlen symbolisiert werden. Jede Zahl erhält eine individuelle Eigenart. Dem normierenden Verständnis geht es dagegen genau entgegengesetzt darum, widerspruchsfrei und unter Vermeidung drohender Zirkelschlüsse die Zahlen als Abstraktionen von allen qualitativen Eigenschaften zu verstehen und logisch zu definieren, um auf diesem Weg ihre universelle Anwendbarkeit erklären und sichern zu können.

Qualität: Wenn mathematische Symbole Beschreibungen von Qualitäten in der Natur sein sollen, muß es in der Natur etwas geben, das symbolisiert werden kann. Das können absolute Maße, Harmonien und Muster sein, die eine innere Einheit der Natur herstellen. Eines der anschaulichsten Beispiele ist der Kreis. In den verschiedensten Wissenschaften werden in der Natur Kreise beobachtet (als Kreisscheiben, Bewegungsbahnen, zyklische Bewegungen etc.). In der Algebra wird sein einzigartiges Zahlenmaß durch π symbolisiert, gewissermaßen eine empirische Größe in der Mathematik. Mathematische Gesetze, in denen π als Größe eingeht, müssen übereinstimmen mit den Maßverhältnissen in den wirklichen Kreisen.

Dieser Ansatz kann dahin verallgemeinert werden, dass überhaupt mathematische Gesetzmäßigkeiten natürliche Eigenschaften wiedergeben. Dieser Grundgedanke ist konsequent bis auf den Zahlbegriff anzuwenden. Auch wenn es auf den ersten Blick paradox klingt, kann gesagt werden: Wenn eine Menge gezählt wird, muß die Anzahl der Elemente mit der Natur der Menge übereinstimmen. Anders formuliert: Wenn z.B. eine Menge in 4 Untermengen zerlegt werden kann, ist die Zahl 4 der Menge keineswegs äußerlich. Vielmehr zeigt sie eine wesentliche Eigenschaft dieser Menge (die Quaternität). Dadurch steht sie in einer inneren Beziehung zu allen anderen Mengen, die ebenfalls in 4 Untermengen zerfallen. Ein willkürlicher Schnitt einer Menge in 4 Untermengen ist nicht zugelassen. Jede Menge muß für sich untersucht werden, ob diese Aufteilung ihrer Qualität entspricht, ob sie die Eigenschaft der Quaternität hat.

Dagegen spricht der erste Augenschein, wonach bei den meisten Mengen die Anzahl der Elemente ganz zufällig und beliebig ist, etwa die Menge der Knöpfe auf einem Hemd, die Menge von Fahrrädern, die an einem Bahnhof abgestellt sind usw. Das qualitative Verständnis der Mathematik geht dagegen von dem Grundsatz aus, dass selbst bei solchen Mengen die Anzahlen nie wirklich willkürlich sind. Auch die Anzahl der Knöpfe ist nach praktischen, kostengünstigen oder ästhetischen Gesichtspunkten ausgewählt. Der Anzahl von abgestellten Fahrrädern liegen bestimmte Regelmäßigkeiten zugrunde, die Fahrräder so abzustellen, dass sie gut erreichbar sind.

Das qualitative Verständnis geht aber natürlich nicht von solchen Alltagserfahrungen aus, sondern von qualitativen Entwürfen der Welt. Gerade hier kann es sich bewähren, wie es umgekehrt die stärksten Vorwürfe auf sich zieht, dies sei nichts als Spekulation, Willkür und Irrationalismus. So enthält z.B. die 1531 veröffentlichte Abhandlung "De Occulta Philosophia" von Agrippa von Nettesheim für alle Zahlen bis 12 jeweils eigene Kapitel über ihre Eigenschaften und ihre "Leiter". In der Leiter der Zahl 4 werden u.a. die 4 Erzengel, die 4 Evangelisten, die 4 Elemente, die 4 Jahreszeiten, die 4 Temperamente des Menschen, die 4 Flüsse der Unterwelt aufgezählt. Es ist klar, dass hier die Aufteilbarkeit in 4 Gebiete jeweils zur qualitativen Eigenschaft der genannten Gruppen gehört. Die Quaternität (und ähnlich Dualität, Trinität etc.) ist keineswegs bloß ein Zahlenwert, sondern eine Eigenschaft, deren Wesen tief in religiöse und psychologische Betrachtungen reicht.

Mehr mathematisch gesprochen darf eine Menge nur entsprechend ihrer Symmetrie aufgeteilt werden. Sie darf nur so aufgeteilt werden, dass die Teile untereinander ähnlich sind, dass sie sich periodisch wiederholen. Ein gleichmäßiger Stern mit 5 Zacken kann halbiert werden, in 5 Teile aufgeteilt werden, aber nicht in 3 Teile, 4 Teile usw. Sprachlich kann vielleicht gesagt werden: Eine Menge wird entsprechend ihrer inneren Symmetrie zerlegt, andernfalls wird sie zerschnitten.

Das Zählen darf sich nicht beschränken auf das, was unmittelbar da ist, sondern muß auch spüren, wenn etwas fehlt. Dies ist die äußerste Kritik an der üblichen Mengenlehre: Zu einer Menge gehört nicht nur "das, was da ist", sondern möglicherweise auch "das, was fehlt", was dazu gehört, aber aus irgendwelchen Gründen abwesend, verdrängt oder verborgen ist. Zur Schafherde zählt auch das verlorene Schaf. Zählen ist ein weitaus komplexerer Vorgang als eine Anwesenheitskontrolle. Wenn dagegen eingewandt wird, ein solcher Zählvorgang könne uferlos werden und wird nie zu einem Abschluß führen, zeigt das nur die Verständnislosigkeit für den qualitativen Begriff der Zahl.

Für das qualitative Verständnis der Zahlen bleiben alle Fragen interessant, die explizit seit den Arbeiten von Frege ausgeschlossen werden sollen. Zum Beispiel, ob bestimmten Zahlen bestimmte Farben zugeordnet werden können (etwa: "welche Zahl ist blau" oder umgekehrt: "haben alle blauen Objekte auch verwandte Zahleneigenschaften").

Und es geht nicht nur um die individuellen Eigenschaften der einzelnen Zahlen, sondern zwischen bestimmten Zahlen kann es hervorgehobene "Wahlverwandtschaften" geben, die über ihre Anordnung auf der Zahlengerade hinausgehen. Da dies bisher nicht systematisch studiert wurde, soll es hier nur intuitiv angedeutet werden an Eigenschaften, die durch die Gestalt der Zahlzeichen nahegelegt werden. Es ist hier nicht eine innere Beziehung gemeint, die etwa zwischen den Zahlen 10, 100, 1000, ... , also den Zehnerpotenzen besteht. Sondern, wenn z.B. das Zeichen '4' durch das Kreuz anzeigt, wie etwas gleichmäßig in 4 Bereiche geteilt werden kann und in diesem Sinn dem '+'-Zeichen ähnlich ist. Das kann für dies Verständnis der Symbole kein Zufall sein. Offenbar besteht zwischen den Eigenschaften der Quaternität ('4') und der Addierbarkeit (d.h. der Objekte, die keine Grenzobjekte sind) eine innere Beziehung.

Und intuitiv wird nahegelegt, dass die '8' im Bereich der kleinsten, endlichen Zahlen die Unendlichkeit ∞ repräsentiert. (Für das normale Verständnis ist das natürlich ein offener Widerspruch: "Wie kann die '8' unendlich sein, wo doch schon die '9' größer ist ?" Es wird sich jedoch zeigen, dass schließlich die ganze Mathematik auf Widersprüchen dieser Art aufgebaut ist.) Beide Symbole sind aus zwei einander berührenden Kreisen zusammengesetzt, wobei die '8' die offene '3' vollendet, und zeigen insofern die der '0' gegenüberstehende Grenze des qualitativen Zahlraums, der in dieser Sichtweise aus den Zahlen von 1 bis 7 besteht und diese Zahlen vor den anderen natürlichen Zahlen auszeichnet. (Das ist auch die Antwort an Frege, der dem qualitativen Verständnis der Zahlen vorhielt, welche sinnliche Bedeutung denn eine Zahl wie etwa '753684' haben könne, wobei er interessanterweise in dieser willkürlichen Ziffernfolge auf der einen Seite die 0, 1 und 2 und auf der anderen Seite die 9 aussparte.) In vielen Theorien gelten die Zahlen 0 bis 7 (oder binär geschrieben 000 bis 111) als natürliche Basis und die 8, die dritte Potenz der 2 (8 = 2 * 2 * 2 = 23), als Zahl der Vollkommenheit.

Das Beispiel der Zeichen '0', '3', '8' und ∞ zeigt, wie innerhalb der scheinbar gleichmäßigen Abfolge der Zahlen bestimmte mathematische Symbole wie Sternbilder zu Konstellationen angeordnet sein können. Diese Zeichen gehören zusammen durch eine innere Beziehung, die offensichtlich quer steht zu ihrer Anordnung in der Zahlengerade. Zum Verständnis der '3' und der '8' reicht es nicht aus, beide durch die gemeinsame Eigenschaft aller natürlichen Zahlen zu charakterisieren, dass sie durch gleichmäßige Schritte von der '1' aus erreicht werden können (also 3 = 1 + 1 + 1 und 8 = 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1). Es ist denkbar, dass es innerhalb der natürlichen Zahlen zusätzliche qualitative Strukturen gibt, die sich von der bloßen Vorgänger-Nachfolger-Beziehung unterscheiden und auch nicht identisch sind mit den durch das arithmetische Rechnen definierten Zahlklassen (etwa aller durch 3 teilbaren Zahlen).

Norm: Viel geläufiger ist allerdings die entgegengesetzte Ansicht, dass es ganz überflüssig, wenn nicht sogar von den wirklichen Zielen der Mathematik wegführend ist, über solche qualitativen Zusammenhänge zu "spekulieren". Vielmehr soll das mathematische Denken von solchen Überlegungen frei gemacht werden und sich ganz auf die Weiterentwicklung und Verbesserung der Rechentechniken konzentrieren. Symbole werden nach diesem Verständnis ausschließlich für eine abkürzende und zugleich möglichst aussagekräftige Schreibweise mathematischer Rechnungen gebraucht und dienen so als optimales Verständigungsmittel einer eindeutigen wissenschaftlichen Kommunikation. Bewußt unabhängig von jeder Qualität werden übereinstimmende Quantitäten identifiziert. Die Zahlen sind das erste und wichtigste Beispiel: 1, 2, 3, ... symbolisieren die Anzahl und sollen zunächst nichts über die Qualität der Dinge aussagen, außer, dass sie abzählbar sind. Entsprechend werden später Symbole für Gleichungen, logische Folgerungen (z.B. =, ⇒), Funktionen usw. gesetzt, mit denen die Größenverhältnisse beliebiger Qualitäten dargestellt und berechnet werden sollen. Weitere Beispiele: y = f(x), (y ist Funktionswert von x), df (df ist die abgeleitete Funktion von f), TM (TM ist der Tangentialraum der Mannigfaltigkeit M).

Das normierende Symbolverständnis geht davon aus, dass die Frage nach einer inneren Ordnung der Dinge für die menschliche Erkenntnis prinzipiell unbeantwortbar ist und sich die Ordnung durch Symbole ausschließlich auf die vom Menschen geschaffene Naturwissenschaft beziehen kann. Für die Natur wird nur angenommen, dass sie quantifizierbar ist. Grundsätzlich werden der Natur nur passive Eigenschaften zuerkannt, die sicherstellen, dass sie überhaupt der menschlichen Aktivität als Gegenstand dienen kann.

Das normierende Symbolverständnis korrespondiert mit einer atomistischen Weltanschauung. Die Natur wird letztlich als Summe einfacher Atome gedacht, die nichts weiter sind als die Träger der Quantitäten. (Im Bild der Physik: Ladungsträger mit Elementarladung. Höhere Ladungen treten nur gequantelt, d.h. als ganze Vielfache der Elementarladung auf.)

Dies Bild der Natur setzt sich fort in der dazu passenden Erkenntnistheorie: Erkenntnis ist die Wahrnehmung einzelner, protokollierbarer Tatsachen in der Natur ("das, was der Fall ist", wie Wittgenstein so anschaulich formulierte). Die Tatsachen sind die Atome des Wissens. Die Wissenschaft ordnet und strukturiert die Tatsachen, erkennt ihre Muster und Gesetzmäßigkeiten.

Konsequent wird die Mathematik in diesem Sinn atomar aufgebaut. Für die euklidische Geometrie sind die Punkte und die beiden elementaren Figuren (Gerade und Kreis) die elementaren Einheiten, für die Arithmetik die Eins. Aus ihnen kann alles weitere rein quantitativ konstruiert werden. Darüber hinaus gibt es nichts.

Eine Zahl 'n' ist genau dadurch definiert, dass sie durch 'n' einfache Schritte von der Eins aus erreicht werden kann:

n = 1 + 1 + ... + 1

Dies unterstützt das induktive Vorgehen: Mit dem Atomismus ist gesetzt, dass alles einfach und untereinander gleich ist. Was für einzelne Atome gezeigt ist, gilt daher für alle Atome und verändert sich nicht, wenn mehrere untereinander identische Atome zusammengefügt, addiert werden. Es ändert sich ausschließlich die Quantität. Qualitativ sind die Zahlen '1' und '1 + 1' und '1 + 1 + 1' und allgemein 'n' und 'n + 1' untereinander identisch. Daher wurde für die natürlichen Zahlen das Induktionsaxiom aufgestellt. (Wenn eine Eigenschaft für die '1' gilt und nachgewiesen werden kann, dass sie auch für 'n + 1' gilt, wenn sie für 'n' gilt, dann gilt sie für alle Zahlen.) Das Induktionsaxiom wird sich als die eigentliche Grundlage und möglicherweise als die kritische Grenze der heute vorherrschenden Mathematik erweisen.

Im weiteren soll die Geschichte der mathematischen Symbole beleuchtet werden. Ursprünglich dominierte die Vorstellung, dass mathematische Symbole unmittelbarer Ausdruck von Qualitäten in der Natur sind, ja mit ihnen direkt identisch sind. Wenn die euklidische Geometrie Geraden und Kreise zeichnete, wurden diese nicht als Symbole für "das Gerade" oder "das vollkommen Runde" angesehen, sondern sie waren unmittelbar "das Gerade" und "das vollkommen Runde". Mathematische Symbole wurden daher gar nicht als Symbole wahrgenommen. Je nach Weltanschauung war die Mathematik entweder Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft, indem ihre Objekte als Naturobjekte verstanden wurden (vergleichbar der Physik) oder als Ideen des Geistes (so z.B. bei Platon).

Der Weg zur symbolischen Mathematik führte zunächst in das gegenteilige Extrem. Die Seite der Qualität wurde ganz bestritten oder trat mindestens weit in den Hintergrund. Das waren die Jahrhunderte der Aufklärung, in denen das normierende Symbolverständnis vorherrschte. Mit dem Siegeszug der induktiven Methode in der neuzeitlichen Naturwissenschaft hat sich der Empirismus auf ganzer Linie durchgesetzt. Nur noch Tatsachen und Techniken zählen, und alles, was an Qualitäten oder Ideen erinnert, gilt als oberflächliches Gerede. Obwohl Aristoteles die induktive Methode abgelehnt hatte und Francis Bacon am Beginn der Neuzeit mit dem "Novum Organum" einen klaren Trennungsstrich zog, gilt diese Haltung als Aristotelismus. Denn er war der erste Kritiker Platons und in seiner Schule wurde die empirische Naturwissenschaft begründet. Und dann war es das aus dem arabischen Raum kommende aristotelische Denken, das erstmals die starre Dogmatik des Mittelalters angriff und als Befreiung und Öffnung zur Welt erlebt wurde.

Seit 1800 galt die Mathematik mehr denn je als rein quantitative Wissenschaft. Nachdem jahrhundertelang die Entwicklung der Rechen- und Beweistechniken stehen geblieben war, wurden nun die Symbole nur in ihrer normierenden Funktion akzeptiert, um die stürmische Entwicklung neuer Rechenwege zu unterstützen. Qualitative Eigenschaften und Beziehungen der Zahlen untereinander interessierten nicht, solange die Rechenmethoden immer weiter verbessert werden konnten. Die Beschäftigung mit mathematischen Symbolen beschränkte sich daher ganz auf die Rechensymbole. Angefangen mit den Symbolen für die Integralrechnung und Grenzübergänge werden für den immer komplizierteren technischen Apparat ständig Neuerungen eingeführt (etwa Symbole für mehrdimensionale Integrale, Tensoren, Lie-Algebren). Die Analyse der Zahlsymbole wurde an die reine Logik abgeschoben, die sich seit Frege darum bemüht, den Begriff der Zahl aus einem geeigneten Begriff der Logik abzuleiten. Als das seinerseits in immer technischere Logik-Kalküle führte und nie der Eindruck abzustreifen war, in Zirkularitäts-Sackgassen zu geraten, war das für die Mathematik nur ein Beweis mehr, wie sinnlos es ist, sich mit derlei Fragen aufzuhalten.

Die Emanzipation von der griechischen Mathematik gelang aber nur halb. Zwar wurden alle Vorstellungen von qualitativen Eigenschaften oder Zahlharmonien (die Naturharmonien bzw. ästhetische Harmonien ausdrücken) "aufgeklärt" und galten damit für überwunden. Aber der Anspruch der griechischen Mathematik, ihre Wissenschaftlichkeit durch die Fundierung in einem transparenten Axiomensystem nachzuweisen, wurde übernommen und machte die eigentliche "Renaissance" gegen alles "dunkle" mittelalterliche Denken aus, wozu natürlich gerade Texte wie die "Occulta philosophia" von Agrippa zählten. Das Lehrbuch des Euklid mit seiner vorbildlichen Axiomatik wurde neben der Bibel das Buch mit der höchsten Auflage und der größten Wirkung. Und wenn die Philosophie noch so sehr gegenüber der Mathematik auf ihrem Vorrecht bestand, qualitative Aussagen machen zu können, so bewunderte sie doch zugleich die Mathematik wegen ihres Axiomensystems und versuchte, in einer vergleichbaren logischen Strenge "more geometrico" den hohen wissenschaftlichen Standard der Mathematik nachzuahmen.

Daher war es dann um so bitterer für die Mathematik, schließlich alle Hoffnung auf ein erweitertes bzw. grundlegender angesetztes Axiomensystem für die neu gewonnenen Symbole aufgeben zu müssen, das den Axiomen der euklidischen Geometrie entsprochen und diese als einen Anwendungsfall abgeleitet hätte. Spätestens ab 1830, als der vorläufige Charakter der euklidischen Geometrie bewußt wurde, trat dies Problem in den Vordergrund. Fast 100 Jahre lang wurden bis 1920 ständig neue Axiomensysteme entworfen und mußten wieder fallen gelassen werden. Erst die Grundlagenkrise der Mathematik im 20. Jahrhundert setzte einen abrupten Endpunkt. Worin nun eigentlich das Problem dieser Krise lag, wird innerhalb der Mathematik lieber nicht gefragt. Es gibt in der Mathematik zwar eine klare Beschreibung, um welche Axiome und Formalismen es bei Grundlagenkrise ging, aber keine Übereinstimmung, was zur Grundlagenkrise führen konnte. Hier wird sie als allgemeine Krise der sich auf Aristoteles berufenden Naturwissenschaft gedeutet, das heißt als Krise einer Naturwissenschaft, für die es weder in der Natur noch im eigenen Denken Sprünge gibt.

Literaturhinweise

© tydecks.info 2002