Walter Tydecks

 

Punkt und Eins

Punkt und Eins sind fast Symbole der Mathematik selbst: Wo sie vorkommen, geht es mathematisch zu. Die Entwicklung aller anderen Symbole war lange nur ein Mittel, um sie in größter Prägnanz herauszustellen und auf die anderen Wissenschaften übertragbar zu machen.

Bis 1800 gab es die Schwerpunkte:

Bei den logischen Symbolen handelt es sich z.B. um das Gleichheitszeichen, Zeichen für Implikationen etc. Leibniz verband mit ihrer Einführung die Hoffnung, eine Universalsprache zu schaffen, in der die unterschiedlichen Zeichensysteme der Naturwissenschaften und der verschiedenen natürlichen Sprachen zusammengeführt werden können. Er hat als erster ein klares Bewußtsein von der symbolischen Mathematik gehabt. Frühe Vorläufer sind einige mittelalterliche Logiker wie P. Lullus.

Die Grenzen der formalen Logik blieben zwar Grundlage, aber mit der schrittweisen Einführung neuer mathematischer Rechenoperationen (wie Wurzelziehen und Logarithmus), der Entdeckung allgemeiner Lösungswege für komplizierte Gleichungen und Gleichungssysteme und der Herausarbeitung des allgemeinen Funktionsbegriff wurde für die neuentstehende Naturwissenschaft das notwendige Werkzeug geschaffen. In der Natur konnten immer neue mathematische Beziehungen aufgedeckt werden. Spielten anfangs qualitative Betrachtungen noch eine große Rolle (etwa in der "Weltharmonie" von Kepler), so hieß es schließlich lapidar: Das Buch der Natur ist in Mathematik geschrieben.

Die Geometrie seit Descartes zeigt die gleiche Tendenz. Geometrische Darstellungen galten seit den Griechen als unmittelbares ideales Bild konkreter Formen aus der Natur. Mit dem Koordinatenkreuz rückt dagegen die Größenberechnung ins Zentrum, die durch den Menschen von außen an die Natur herangetragen wird. Mit ihr wird die Natur auf Maße gebracht, die der menschlichen Darstellung optimal erscheinen. Natürlich machen diese Maße nur Sinn, wenn sie die Wirklichkeit der Natur treffen, aber sie sind doch bereits Ergebnis einer Reflexion, eines Nachdenkens, naturwissenschaftlicher Erkenntnisse über die Natur und nicht unmittelbares Abbild der Natur.

Mit einem Wort: Die Figuren der euklidischen Geometrie wie die Gerade oder der Kreis kommen in der Natur zumindest angenähert vor, Koordinatenkreuz und Nullpunkt dagegen nur in der menschlichen Darstellung von Natur. Immerhin ist aber das Koordinatenkreuz noch ein direkt anschauliches mathematisches Hilfsmittel. Die Entdeckung von Symbolen erfolgt nun aber nicht mehr nur, wenn in der Natur Regelmäßigkeiten aufgefunden werden, sondern auch, wenn die mathematische Darstellung Regelmäßigkeiten erzeugt.

Eleganz und Kürze von Beweisverfahren werden zum Maßstab. Die mathematische Methode (und nach ihrem Vorbild die Methoden der Naturwissenschaft) wird immer wieder umgewälzt mit dem Ziel, gleiche Sachverhalte einfacher auszudrücken. Höhere Einfachheit verspricht größere Universalität und nutzt der erfolgreicheren Anwendung des Induktionsprinzips.

Die Einführung der Differentialsymbole (dx, dy) stellt den Höhepunkt in dieser Entwicklung dar. Die Differentialsymbole bieten die Möglichkeit, die Integral- und Differentialrechnung genau so einfach auszuführen wie andere Rechenarten. Während aber in einer gewöhnlichen mathematischen Gleichung wie "a + b = c" noch konkrete Gegenstände "eingekleidet" werden können ("2 Äpfel und 3 Äpfel sind 5 Äpfel"), gelingt dies bei den Differentialsymbolen nicht mehr. Sie sind nicht mehr die Abstraktion sinnlich wahrnehmbarer Naturgegenstände. Sie haben ihre Berechtigung und Bedeutung ausschließlich innerhalb des mathematischen Kalküls. (Als einzige Einkleidung wäre "0/0" möglich, aber genau dieser unmögliche Grenzfall soll durch die Symbolik ausgeschlossen werden.)

Bis ungefähr 1800 hat die Einführung mathematischer Symbole im wesentlichen der besseren Normierung der Mathematik gedient und dabei die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Mathematik gegenüber der Philosophie und den Naturwissenschaften zweifellos vergrößert. Alle neuen Zeichensysteme ließen sich aber noch als endliche Größenlehren interpretieren: Logische und mathematische Verknüpfungen diskreter Objekte (einzelne Zahlen oder logische Begriffe) bleiben stets endlich. Das Koordinatenkreuz war gerade das beste, neu gewonnene Hilfsmittel für endliche Größenbestimmungen. Die Symbolik des Differentialkalkül kann so verstanden werden, dass die neuen Methoden der Differential- und Integralrechnung wenigstens in der formalen Darstellung den früheren Rechenmethoden mit endlichen Größen vergleichbar gemacht wurden.

Alle Wissenschaften wurden nach und nach in dem Sinne mathematisiert, dass sie auf Punkt und Eins gebracht wurden. Die klassische Mechanik idealisiert die Natur dahin, dass die Körper zu Punkten schrumpfen, die den Impuls Eins und die Masse Eins tragen oder Vielfache davon. Sofern die räumliche Ausdehnung nicht ganz vernachlässigt werden kann, werden jedoch Mittelpunkt, Schwerpunkt und Berührungspunkte konstruiert. Entsprechend verfahren die Elektromechanik (elektrische Ladungen) und Biologie (Zellkern und später Molekularbiologie) sowie die Wirtschaftswissenschaft (Waren als Träger von Wert und Preis, Subjekte als Träger von Angebots- und Nachfragevermögen und darauf aufbauend betriebswirtschaftliche Kalkulation und volkswirtschaftliche Statistik).

Aber ab 1800 setzten neue Entwicklungen ein, die diesen Rahmen eindeutig sprengen. Endliche Größen werden überschritten und die Mathematik beschränkt sich nicht mehr auf das Gebiet, das die Philosophie ihr eingeräumt hatte. Vor allem werden die ursprünglichen Atome, die spezifischen Einheiten der Mathematik infrage gestellt. Die Mathematik wird unanschaulich. Die Emanzipation von der Philosophie erscheint als Verlust der Anschauung.

Schwerpunkte der neuen Entwicklungen:

Überall zeigt sich, dass die mathematischen Elementarobjekte ihrerseits eigene Qualitäten haben, die mathematisch faßbar und variierbar sind. Der 'natürliche' Kern liegt also tiefer als bis dahin angenommen. Die natürlichen Zahlen und die Punkte der euklidischen Ebene sind nicht der voraussetzungslose Beginn der Mathematik, sondern bereits bestimmte Konkretionen von Strukturen, die tiefer liegen und auch anders gefaltet werden können.

Während die Mathematik bis dahin auf einem festen Boden stand und die Axiome diesen nur benannten, entstand jetzt eine im Prinzip unendliche Bewegung, indem Schritt für Schritt eine Struktur nach der anderen auf eine darunterliegende zurückgeführt wurde. Axiome sind keine endgültige Basis mehr, sondern nur Zwischenstufen in dieser Bewegung des Erkenntnisprozesses. Will sich die Mathematik ihrer selbst bewußt werden, ist weniger zu fragen, welche Axiome gerade anerkannt sind, sondern wie von einem Axiomensystem zum nächsten vorgeschritten werden kann.

Erstens: Mit der nicht-euklidischen Geometrie wurde erkannt, dass die Ebenheit eine qualitative Eigenschaft der euklidischen Geometrie ist, aus der sich die quantitativen Größenbestimmungen innerhalb dieser Geometrie erklären lassen. Die seit den Griechen bekannten Eigenschaften von Gerade und Kreis gelten ohne Voraussetzung der Ebenheit nicht. Gerade und Kreis und ihre mathematischen Eigenschaften wandeln sich, wenn der Raum gekrümmt ist. Die Raumkrümmung erweist sich als elementarer, und es ist weiterzufragen, worauf sie wiederum zurückgeht.

Die Geometrie lässt sich nicht mehr aus den einzelnen, isolierten Punkten aufbauen. Der Punkt verliert seine Eigenschaft als einfachste geometrische Figur. Er verliert seine Eindeutigkeit: In der euklidischen Geometrie konnte jeder Punkt eindeutig durch seine Lage im Raum, d.h. durch den Wert der kartesischen Koordinaten bestimmt werden. Mit der qualitativen Eigenschaft der Ebenheit war sichergestellt, dass der Raum überall gleich ist und überall die gleichen Längenmaße gelten. Wenn aber die Raumkrümmung berücksichtigt werden muß, ist zur Beschreibung der Lage eines Punktes entscheidend, wie stark der Raum an dieser Stelle gekrümmt ist. Die Raumkrümmung ist aber offensichtlich eine Eigenschaft, die nur durch die Betrachtung der Umgebung des jeweiligen Punktes erkannt werden kann.

Schon im 3-dimensionalen Raum kann es ungewöhnliche Punkte geben, die durch Strudel oder Wirbel angenähert werden. Allgemein: Es gibt singuläre Punkte, deren Eigenschaften von ihrer jeweiligen Umgebung abhängen. Folglich kann nicht alles aus dimensionslosen Punkten zusammengesetzt werden. Die Geometrie hängt auch von globalen und lokalen Eigenschaften des Raumes ab, wie der Krümmung, Bruchlinien, Singularitäten, topologischen Eigenschaften (z.B. Orientierbarkeit nach oben und unten) usw.

Nicht-euklidische Geometrien waren zunächst nur nicht-ebene Geometrien (in denen das Parallelen-Axiom nicht gilt, wonach sich Parallelen erst im Unendlichen kreuzen können). Als aber einmal die Ebenheit als eine variierbare Eigenschaft erkannt worden war, lag es nahe, auch andere geometrische Eigenschaften zu verändern und so weitere Geometrien zu schaffen. Während aber die Einführung der nicht-euklidischen Geometrien mit der Entdeckung der Raumkrümmung die Anschauung nicht verlässt, sondern im Gegenteil genauer aufklärt, gilt das für die nach diesem Erfolg neu eingeführten Geometrien nur noch eingeschränkt. Sie entfernen sich oft immer mehr von der natürlichen Anschauung und werden ausschließlich durch die innere Konsistenz ihrer symbolischen Darstellung zusammengehalten. Die Frage nach Elementarfiguren der Geometrie stellt sich völlig neu.

Die Unanschaulichkeit der neuen Geometrien setzt sich bei ihrer Anwendung in der Physik direkt fort in Unbeobachtbarkeit: Schwarze Löcher, Quarkteilchen, virtuelle Teilchen, Higgs-Teilchen, super-symmetrische Teilchen. Das alles gibt es bisher nur in der Theorie und jedes Mal ist eine weitere Theorie gefordert, um zu erklären, warum gerade dies in der Natur noch nicht direkt nachgewiesen werden kann. Damit ist inzwischen zweifellos die Situation erreicht, wo nach dem Wert dieser Geometrien und der auf ihnen aufbauenden Theorien gefragt werden muß. Solange es mit diesen Geometrien nicht gelingt, weitere qualitative Eigenschaften vergleichbar der Bedeutung der Raumkrümmung zu erkennen, solange diese Geometrien also nicht ihrerseits zu einer verbesserten Anschauung beitragen, muß auch die Möglichkeit akzeptiert werden, dass ihre Konstruktion sich als Irrweg erweist.

Zweitens: Die gleiche Entwicklung vollzog sich in der Algebra. Ausgehend von den natürlichen Zahlen waren die anderen Zahlenmengen schrittweise erschlossen worden, indem für die Umkehroperationen neue Zahlbereiche notwendig wurden: negative Zahlen für die Subtraktion, rationale Zahlen für die Division, reelle Zahlen für Differentiation und Integration. Alle diese Zahlen liegen auf der Zahlengerade, deren Urbild die ungefähr eine Reihe bildenden 10 Finger sind. Ihre Eindimensionalität war ebenso selbstverständlich hingenommen worden wie die Ebenheit der euklidischen Geometrie. Indem alle Zahlenoperationen auf die Addition zurückgingen, bildet die Eins (der Daumen) den Anker des gesamten Systems.

Wenn aber gefragt wird, welche Zahlen so quadriert werden können, dass ein negatives Ergebnis entsteht, wenn also z.B. √-1 (Wurzel von minus eins) gesucht wird, können die Lösungen nicht mehr auf der Zahlengerade eingeordnet werden. Sie liegen in der Ebene der komplexen Zahlen. Damit mußte auch für die algebraischen Zahlenklassen Mehrdimensionalität zugelassen werden. An die Stelle der einfachen, unteilbaren Eins tritt bei den komplexen Zahlen der Einheitskreis mit seiner vielfältigen Struktur.

Waren zuvor Punkt und einzelne Zahl identifiziert worden, geht die klare Zuordnung mit dem Verlust der Eindeutigkeit des Punktes in der Geometrie verloren. Ein Punkt in der Zahlebene kann für viele Zahlen stehen, wenn die Ebene als mehrblättrige Riemannsche Fläche vorgestellt wird. Umgekehrt eröffnen sich den klassischen Fragen der Zahlentheorie völlig neue Möglichkeiten: Die Primzahlen liegen zwar alle auf der Zahlengerade. Ihre elementaren Eigenschaften sind jedoch bis heute unbekannt. Seit den Arbeiten von Riemann (um 1850) wird vermutet, dass neue Erkenntnisse erst gewonnen werden, wenn verstanden wird, wie die Primzahlen in höherdimensionalen Zahlräumen (im einfachsten Fall den komplexen Zahlen) eingebettet sind.

Drittens: Schließlich die Geschichte des Differentialkalkül. Solange die axiomatische Begründung des Kalkül noch unsicher war, war der Ableitungsbegriff untrennbar von seiner Anwendung in der Physik, denn von dort bezog er seine Gültigkeit. So liefert z.B. die erste Ableitung einer Bewegung die Geschwindigkeit, die zweite Ableitung die Beschleunigung. Das Ergebnis der mathematischen Ableitung stimmt mit den Meßergebnissen überein, ist also gewissermaßen experimentell bewiesen. Stetige, kontinuierliche Bewegungen in der Natur wurden mit ableitbaren Funktionen identifiziert (und umgekehrt). Erst 1850 konstruierte Weierstraß eine Funktion, die stetig, aber nirgends ableitbar ist. Noch um 1900 galt Lebesgue als Sonderling, wo er sich auf das Studium nicht-ableitbarer Funktionen konzentrierte.

Mit der systematischen Unterscheidung von Stetigkeit und Ableitbarkeit gewann der Differentialkalkül seine rein mathematische Selbständigkeit. Denn stetige, nicht-ableitbare Funktionen können zwar graphisch veranschaulicht werden, kommen aber nach bisheriger Kenntnis in der Natur nicht vor. Sie sind jedenfalls nicht aus der Naturforschung gewonnen, sondern aus rein mathematischen Überlegungen.

Damit entstand weiter die Möglichkeit, ganze Zahlenklassen zu entwerfen, die nicht aus dem Naturstudium stammen. Vielmehr sind sie so konstruiert, dass sie schrittweise zur Eigenschaft der Ableitbarkeit führen. (Systematisch erfolgt dies erst im 20. Jahrhundert in der Topologie und Funktionalanalysis.)

Diese Zahlklassen sind auch nicht mehr euklidisch. Erst nach ihrer Konstruktion in Hinblick auf den Ableitungsbegriff wird nach ihren geometrischen Eigenschaften gefragt. Für den Ableitungsbegriff ist weder die physikalische Vorstellung (wie bei Newton), noch die geometrische Vorstellung (wie bei Leibniz) ausschlaggebend. Die in diesen Zahlklassen studierten Unstetigkeitspunkte, nicht-ableitbaren Punkte u.s.f. sind dann aber wieder identisch mit den neu aufgetretenen singulären Punkten in der Geometrie.

Der Punkt erhält eine neue symbolische Bedeutung. Er ist nicht mehr der isolierte, eigenschaftslose, überall gleiche Punkt, sondern er symbolisiert eher so etwas wie ein mit seiner Umgebung wechselwirkendes Kraftzentrum. Diese Vorstellung entfernt sich weit von der griechischen Mathematik und hat Vorbilder eher bei mittelalterlichen Mathematikern wie John Dee, die die Mathematik im Zusammenhang alchemistischer Ideen sahen. Dort wurde der Punkt als Feuerpunkt gesehen, aus dem zuerst die Linie fließt und dann in einer zweidimensionalen Bewegung das Dreieck als Element Erde entsteht. Der Punkt war Keimpunkt (Sonnenpunkt im Ei), Stern oder Auge oder Seelenfunken (scintilla). Allen diesen Bildern ist gemeinsam, den Punkt dynamisch innerhalb einer Bewegung zu sehen. (Alle Beispiele aus C.G. Jung: "Mysterium Coniunctionis", 1. Halbband, Seite 64ff). Später ist diese Idee von Schelling und seiner Vorstellung einer dynamischen Atomistik aufgegriffen worden. In gewisser Weise liegt sie auch der Monadologie von Leibniz zugrunde, wenn es sich bei den Monaden um mehr handeln soll als bloßen Punkten. Alle diese Ideen drohten jedoch in leere Spekulationen abzugleiten, solange sie nicht in der Mathematik einen gewissen Widerhall fanden. Mit einem neuen Verständnis von Punkt und Eins auch innerhalb der Mathematik könnte sich das grundlegend ändern.

Literaturhinweise

© tydecks.info 2002