Walter Tydecks

 

Nichts Neues seit Joseph Joachim und den deutschen Gründerjahren?

Sind wir Klassik-Hörer beim Geschmack der Bismarck-Ära stehen geblieben, mit viel Anspruch und abgeschottet von allem, was um uns herum vorgeht? So muss es aussehen, wenn die Programme in Berlin ab 1869 betrachtet werden, als dort mit der Gründung der Hochschule für Musik das Musikleben neu gestaltet wurde.

Dieser Beitrag kann aber auch anders eingeleitet werden: Richard Wagner empfahl den Juden den "Untergang" als Erlösung von ihrem Fluch. Ist Joseph Joachim, der erfolgreiche Violinvirtuose, Freund von Brahms und Clara Schumann, Gründer und langjährige Leiter der Berliner Hochschule für Musik ein Gegenbeispiel? Ich glaube nur auf den ersten Blick. Sein Leben zeigt, wie schwer es in dieser Zeit eine Musik ohne Selbstverleugnung hatte, besonders für einen Juden.

Und was hat beides miteinander zu tun: ein deutsches Reich, das sich auch musikpolitisch universal und über allen Nationen stehend definieren will, und ein Violinvirtuose, der bitter in seinem Leben lernen musste, alle ursprüngliche Identität aufzugeben zugunsten eines neuen Staatsideals? Die Starre, die seit 125 Jahren eingetreten ist, ist voller innerer Spannung. Ihren Anfang zu verstehen soll helfen sie aufzulösen.

Joseph Joachim

Joseph Joachim, gemalt von Adolph Menzel 1853; Urheber: By Adolph von Menzel - harenberg Konzertfuehrer blz 159, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3414489

Joseph Joachim lebte 1831 - 1906. Geboren in Ungarn. Wunderkind. Violinausbildung in Wien 1839-43. Statt dann nach Paris zu gehen, entscheidet er sich für Leipzig (1843-50), wo er in Mendelssohn einen Förderer und Vorbild findet. Es folgen 1850-52 Jahre in Weimar, wohin sich Liszt zurückgezogen hatte, dem Joachim zu dieser Zeit durchaus nahe stand. Hier kam er 1852 in den Kreis der mit Liszt befreundeten Bettine von Arnim (1785-1859) und lernte dort deren Tochter Gisela kennen. 1853 bot sich die Möglichkeit einer ersten festen Stellung in Hannover, das damals zu einem führenden europäischen Musikzentrum wurde, und blieb dort bis 1868. Trotz günstiger Bedingungen litt er unter der persönlichen Abhängigkeit vom König. Am Hofe galten noch die alten hierarchischen Ordnungen und Musiker gehörten zum dienenden Personal. Obwohl er inzwischen London schätzen gelernt hatte, entschied er sich 1869 für Berlin, wo ihm die Chance gegeben wurde, die Hochschule für Musik aufzubauen, und blieb dort bis zu seinem Tod 1906.

Kein Ort für Psychologische Musik

Eine Lebenskrise fiel in die Jahre ab 1852, als er Gisela von Arnim kennen lernte und in die turbulenten Ereignisse rund um Schumanns Selbstmordversuch und Tod verwickelt wurde. Welcher Tradition fühlt er sich zugehörig (Ungarn, Deutschland, Judentum, Christentum)? Wird er Komponist oder Violinvirtuose werden?

Gisela von Arnim

Gisela von Arnim (1827 - 1889); Urheber: Von Louise Caroline Seidler - http://www.onlinekunst.de/august/arnim_gisela_seidler.jpg, Gemeinfrei, Link

Als Joachim 1853 die Schumanns besuchte, war er auch Liszt noch freundschaftlich verbunden. Welche Art von Musik galt es um diese Zeit zu komponieren? Nachdem Berlioz, Chopin, Mendelssohn und Schumann neue Wege geöffnet hatten, waren jetzt nicht mehr wie um 1830 durch auffallende Effekte Schranken zu durchbrechen. Auch die poetische Musik hatte mit diesen Komponisten ihren Höhepunkt erreicht. Wohin Liszt gehen würde, war für ihn anfangs noch nicht absehbar. Später wandte er sich enttäuscht ab.

In einem Brief an Gisela von Arnim von Oktober 1854, also aus den Gesprächen mit den Schumanns und dem jungen Brahms heraus, wird er sehr deutlich:

"Ich mußte mir gestehen, daß ein gemeinerer Mißbrauch heiliger Formen, daß eine eklere Coquetterie mit den erhabensten Empfindungen zu Gunsten des Effektes nie versucht worden war - die Stimmungen der Verzweiflung, die Regungen der Reue, mit denen der wirklich fromme Mensch einsam zu Gott flüchtet, kramt Liszt mit der süßlichsten Sentimentalität vermischt und einer Märtyrer-Miene am Dirigierpult aus, daß man die Lüge jeder Note anhört, jeder Bewegung ansieht."

(Übrigens äußert er sich auch in ähnlich direkter Weise über Brahms, dessen seelische Kälte und Egoismus ihn bisweilen verzweifeln ließen.) Das nimmt im Kern bereits vorweg, was später von anderer Seite auch an Wagner kritisiert wurde.

Überall spürte er Unechtheit und übertriebene Selbstdarstellung, so dass sich schließlich niemand mehr seiner eigenen Gefühle sicher sein konnte: was ist bloßer Effekt und angelernte Geste? Aber aus dem eigenen Innern strömte ihm beständig neue Musik zu, meistens Klänge aus der geliebten Heimat in Ungarn, so intensiv, dass er oft gar nicht andere Werke interpretieren wollte. In seinem unverblümten Stil schreibt er in einem Brief Ende 1853 an Hermann Grimm: "So muß es einer Mutter zu Muth sein, der man ihr jüngstes, liebstes Kind von der Brust reißt um ihr eins aus Feindesland dran zu legen."

Aber er war von unüberwindbaren Selbstzweifeln geplagt. Konnte Wagner in diesen Jahren seinen Vorurteilen über die Juden freien Lauf lassen und sich so in bestimmten Kreisen beliebt machen, leidet er unter inneren Selbstzweifeln. Schon Ende 1853 schreibt er Gisela von Arnim sehr offen:

"Ich glaube was andern sich wehmuthvoll in linden Tau der Seele löst, bei mir ist es wie herbes, grimmes Eis, das mit seinen Zacken nur Wunden stößt. Ich habe mir oft Vorwürfe darüber gemacht, es zu überwunden gesucht, aber es ist wohl zu tief in mir gegründet, muß wohl zu meiner Natur gehören, und stammt vielleicht aus dem Orient, daß ich so leicht in so schlimme Stimmung verfalle."

Im Grunde war er der Unzeitgemäße, hier in manchem durchaus Bruckner ähnlich. Sein Anliegen bezeichnete er selbst als psychologische Musik, d.h. Musik, die sowohl die Sehnsüchte und Erinnerungen an die Kindheit zu komponieren vermag, wie auch die eigenen Gefühle der Unsicherheit und Heimatlosigkeit. Ganz anders als Wagner wollte er dies nicht auf Opern-Figuren (wie den Holländer oder Kundry) projizieren, sondern als die eigenen Gefühle zum Ausdruck bringen.

Von seinen Werken habe ich nur einmal die "Hebräische Melodie" op. 9 für Viola und Klavier gehört. Die geht allerdings nahe und zeigt, wie hier eine ganz andere Musik hätte entstehen können. Leider ist es dazu nicht gekommen. Er hatte nicht die Kraft, den eigenen Weg zu gehen, sondern ließ sich immer stärker von der allgemeinen politischen Bewegung treiben, bis schließlich um 1900 seine Hochschule zum Hort der Tradition und des Konservatismus geworden war und er eifersüchtig über die eigene dominierende Stellung im Musikleben Berlins wachte.

Standardrepertoire - von der Bismarck-Ära bis heute

Die Idee für eine Hochschule der Musik nach dem Vorbild des Pariser Konservatoriums ging auf Alexander von Humboldt zurück, für den Musik

"ein natürliches Band zwischen den unteren und höheren Klassen der Nation" war. "Unleugbar ist, daß die öffentliche Erziehung die Musik nicht entbehren kann, teils um der so leicht einreißenden Rohheit entgegenzuarbeiten, noch mehr aber um das Gemüt früh an Wohlklang und Rhythmus zu gewöhnen."

Allerdings war umstritten, ob Vokal- oder Instrumentalmusik diese Rolle spielen sollte, zumal es in Berlin bereits die anerkannte Sing-Akademie gab. Mit der Gründung der Hochschule für Musik durch Joachim wurde ein neues Musikideal geschaffen, das im Grunde bis heute die klassische Musik dominiert. Paradigmenwechsel von der Gesang- zur Instrumentalmusik, vom Komponisten zum Virtuosen (es war überraschend, mit Joachim jemanden zu holen, der nicht mehr komponierte, sondern seinen Ruf auf sein Geigenspiel aufbaute, wie anders war es noch, als Mendelssohn und Hiller das Konservatorium in Leipzig leiteten) und schließlich gegen die neudeutsche Richtung von Liszt und Wagner.

Als erstes schuf Joachim auf seinem Gebiet der Violinliteratur den bis heute gültigen Kanon. Da zeigte sich die Wirkung, dass ein Interpret die Leitung des Musikwesens übernommen hatte: die absolute, anspruchsvolle und virtuose Musik rückte in den Vordergrund und verdrängte die Reste von Volksmusik, "Alter Musik" aus der Zeit von vor Bach wie auch neue kompositorische Experimente. Die Konzerte wurden als Andachten gestaltet (bei Musik blieben die Türen geschlossen, von den Zuhörern wurde erwartet, dass sie nicht durch störende Geräusche den Hörgenuss der anderen mindern, idealerweise gingen Kenner ins Konzert, die selbst Musik ausüben oder mit dem Notentext vertraut sind). Solowerke: allen voran die Chaconne von Bach und Beethovens Violinkonzert, dann die Violinkonzerte von Mendelssohn, Brahms, Spohr, Bruch, auch sein eigenes Violinkonzert. Von Mozart nur gelegentlich das A-Dur Konzert, von Bach das E-Dur und a-Moll Konzert.

Bach: neben ihm wirkte Philipp Spitta an der neuen Musikhochschule. Seine Interpretation der Chaconne prägte das im 19. Jahrhundert neu entstehende Bach-Bild, wonach die Chaconne schlicht als "tönende Philosophie" bezeichnet wurde. Die Bach-Begeisterung hatte Joachim bereits von seinem Lehrer Mendelssohn übernommen, für den jedoch noch dessen Vokalwerke größere Bedeutung hatten.

Eine solche Beschränkung des Programms war keineswegs selbstverständlich. Joachims Frau Amalie war Sängerin und entwarf in langjähriger Arbeit ein mehrtägiges Programm, das einen Überblick über die ganze Geschichte des deutschen Liedes gab, während dann von den nachfolgenden Sängern und Sängerinnen die Liedabende immer stärker auf das Kunstlied von Schubert bis Wolf und Mahler eingeschränkt wurden.

Höhepunkt waren aber die Quartett-Soireen, die ab 1869 regelmäßig gehalten wurden und ungeheure Nachfrage hatten. Die Programme konzentrierten sich auf Beethoven. Erstmals wurden konsequent dessen späte Streichquartette hervorgehoben. Dann Schubert und von ihm vor allem "Das Tod und das Mädchen", zu einer Zeit, in der Schuberts Instrumentalwerke im Gegensatz zu seinen Vokalwerken noch keineswegs durchgesetzt waren. Weiter Haydn, seltener Mozart, Mendelssohn, Schumann und natürlich Brahms, dessen Kammermusik fast vollständig von Joachim aufgeführt wurde.

Auffallend ist die Beschränkung auf deutsche Musik. Beethoven und Brahms galten als typisch deutsche Musik, deren Männlichkeit und Geistigkeit betont wurde. (Auch Wagner und Liszt galten dagegen als weiblich, um nicht direkt zu sagen krank, wie Clara Schumann sich in ihren Briefen zu Liszts Klaviersonate und Wagners "Tristan und Isolde" äußerte). Die zeitgenössischen Franzosen wie Saint-Saens, Franck, Fauré fehlten. Hier entschied sich, dass Berlin um 1900 den Anschluss an all die neuen Entwicklungen in Paris verloren hatte und für die neuen Komponisten aus Russland wie Strawinsky oder Prokofjew ebenso unattraktiv geworden war wie München.

Joseph Joachim und Clara Schumann musizieren gemeinsam, Kreidezeichnung von Adolph Menzel: akg-images

Die Konzerttourneen runden den Stil dieser Musikauffassung ab. In den 1850er Jahren hatte Joachim miterlebt, wie Clara Schumann sich auf den vielen Reisen aufrieb und riet ihr dringend ab. Später jedoch ging er immer häufiger mit ihr gemeinsam auf Tournee. Während Clara Schumann in ihren Konzerten nie ganz von den Programmen wegkam, die ihr Vater liebte, mit vielen Bravour-Stücken, musizierten beide gemeinsam die anspruchsvolle Kammermusik. Mit den Konzerttourneen wuchs nochmals die Bedeutung großer Virtuosen, und die Hörer waren interessiert, die gleichen Stücke in verschiedenen Interpretationen zu hören. Es ging weniger darum, Musiker zu erleben, für die Musik eine jeweils eigene Sicht der Welt und des Lebens bedeutet, sondern Musik in vollendeter Darbietung.

Heute wird oft gesagt, dass die Beschränkung auf die Klassiker sich gewissermaßen zwangsläufig ergab, weil halt seit 1900 oder 1950 keine spielbare und hörbare Musik mehr komponiert wird. Das zeigt einmal mehr, wie stark im 20. Jahrhundert historisches Bewusstsein verloren gegangen ist. Ich war jedenfalls sehr überrascht zu sehen, wie vor nunmehr 125 Jahren die Programme festgeschrieben wurden, die bis heute die meisten Konzerte klassischer Musik bestimmen. Das war nicht Antwort auf eine Revolte oder auf politische Katastrophen, sondern die Musikpolitik eines Staates, der aus der niedergeschlagenen bürgerlichen Revolution hervorgegangen war und sich nach dem Sieg über Frankreich für ein paar Jahrzehnte der Illusion hingab, Weltpolitik machen zu können.

Besonders bedrückend ist vielleicht, dass im Einzelnen dies Programm von jemanden um- und durchgesetzt wurde, der ursprünglich an den sich abzeichnenden Verhärtungen des Musiklebens gelitten hatte und für sich keinen Weg fand, etwas Eigenes dagegen zu setzen.

Literaturhinweise

Beatrix Borchard: Ein später Davidsbund. Zum Scheitern von Joachims Konzept einer psychologischen Musik.
in: Bernhard R. Appel (Hg.): "Neue Bahnen". Robert Schumann und seine musikalischen Zeitgenossen, Mainz 2002

Beatrix Borchard: Stimme und Geige - Amalie und Joseph Joachim. Biographie und Interpretationsgeschichte, Wien 2005

Diesem Buch habe ich die meisten Informationen über Joseph Joachim entnommen. Die Geschichte von Amalie Joachim ist ebenfalls lesenswert. Joseph Joachim provozierte eine Ehescheidung, wobei sogar Brahms sich gegen ihn stellte.

Joachim Strunkeit: Musikgeschichte im Spiegel der Berliner Friedhöfe - Joseph Joachim http://www.diegeschichteberlins.de/geschichteberlins/persoenlichkeiten/persoenlichkeitenhn/joachim.html

© tydecks.info 2006 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum Dezember 2005