Walter Tydecks

 

Musik und Politik - eine Einleitung

"Musik und Politik" enthält überarbeitete Diskussionsbeiträge für das Tamino-Klassikforum. "Musik und Internet", so kann auch gleich das erste Kapitel lauten. Im Grunde soll in diesem Forum Politik gar nicht angesprochen werden. Zu häufig gab es fruchtlose, erbitterte Kontroversen, wenn in der Anonymität des Internet über Politik geschrieben wird. Klassische Musik erscheint da als ein Rückzugsgebiet, gewissermaßen eine politik-freie Zone.

Das Internet ist ein interessantes neues Medium, wo möglicherweise Veränderungen früh zu erkennen sind. Hier kann zunächst einmal jeder alles sagen, wozu er sonst im Gespräch vielleicht nicht die richtige Gelegenheit findet. Unausgegorenes und Vorläufiges sind ausdrücklich erwünscht, und niemand braucht sich zu schämen, der radikal seine eigene Meinung in Frage stellt und umzuwerfen bereit ist. Im Gegenteil. Und Menschen kommen ins Gespräch, die sich im realen Leben wahrscheinlich kaum begegnet wären. Jede Überheblichkeit oder Attitüde wird sofort von irgendeinem Dritten wahrgenommen und aufgespießt. Oft ist überraschend, wie sich ein bestimmtes Thema zum Renner aufschwingt, mit zahlreichen Beiträgen in wenigen Tagen, und dann monatelang untertaucht und an anderer Stelle wiederkehrt. Eine gewisse Übersicht ist im Grunde nur entlang der Kunstwerke und Künstler möglich, oder in den vielen beliebten Rankings der Top 10 Dirigenten, Pianisten, Stücke seit 1945, größten Flops und Enttäuschungen ...

Und doch kristallisieren sich in den unterschiedlichen Foren bestimmte wiederkehrende Themen heraus. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen lässt sich die Politik und Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht fernhalten. Kaum etwas ist bis heute umstrittener als die Frage nach den beiden großen deutschen Dirigenten Furtwängler und Karajan, ihre Verstrickung im Nationalsozialismus und ihre Intrigen, einmal gewonnene Macht- und Einflusspositionen zu behalten.

Unter den beliebten Komponisten bestätigt sich der Kanon, der sich seit dem späten 19. Jahrhundert eingespielt hat: Vorneweg Beethoven, dann Bach, Mozart, Schubert, bereits mit Einschränkungen Schumann und Mendelssohn, Wagner, Brahms, Haydn, nicht von allen geteilt Bruckner, Mahler. Also eine eindeutig deutsche Vormacht. Nachfolgend werden noch Debussy, Ravel, Strawinsky, Bartok, Schostakowitsch gelten gelassen, mehr oder weniger die "klassische Moderne", aber schon ein Saint-Saens - in vielem sicher Brahms vergleichbar - ist klarer Außenseiter. Eher werden dann die Russen wie Mussorgsky, Tschaikowsky oder Rachmaninov gehört, die musikalisch in der Tradition der Neudeutschen Liszt und Wagner stehen. Erstaunlich populär immerhin Verdi. Daneben Sonderinteressen an Alter Musik, Komponisten aus England, Skandinavien oder Nordamerika.

Wenn es mal langweilig zu werden droht, kommt mit großer Sicherheit in irgendeiner Weise die Frage hoch, ob moderne Musik ab 1950 noch ernst zu nehmen ist, ob ihr überhaupt ein Platz auf den bürgerlichen Bühnen eingeräumt werden darf, oder ob das nicht im Grunde alles verkorkste Machwerke einer fehlgeleiteten Autoritätskritik durch die 68er sind. Und sofort ist wieder Leben da und erhitzte Gemüter. Einerseits laufen die Provokationen der Neuen Musik längst leer, weil ihr unmittelbarer Gegner, die bürgerliche klassische Musik, ihrerseits schon längst an den Rand gedrängt ist. Und umgekehrt drückt sich in den wütenden Attacken auf ihre Aktionen das angeschlagene Selbstbewußtsein der klassischen Musik aus. So sind beide in einer Hassliebe miteinander verbunden, mit der sie gemeinsam immer stärker ins Abseits zu driften drohen. --- Andererseits gehen aber auch von der kommerzialisierten Pop-Musik immer weniger Impulse aus. Da entsteht ein eigenartiges Vakuum, und es ist noch kaum zu erkennen, welche Kräfte es anzieht.

Wird zum ersten Mal ein Klassikforum gelesen, ist sicher der lockere Ton am verblüffendsten, aus dem aber geradezu überfallartig und mit unerwarteter Härte im Grunde ganz harmlos wirkende Meinungsdifferenzen aufflammen können. Obwohl im Internet kaum einer den anderen persönlich kennt, kann die Unpersönlichkeit rasend schnell "wie aus dem Nichts" in persönliche Angriffe und Beleidigungen umschlagen.

Im Unterschied zu anderen Foren wird das Tamino-Klassikforum moderiert, weshalb dort solche Konflikte zwar nicht ganz vermieden, aber wesentlich besser gesteuert werden können. Dennoch kam es einmal zu einem Ausschluss, aus dessen Anlass die folgende Stellungnahme entstand, womit diese Einleitung abgeschlossen werden soll. (Es dauerte übrigens nicht mehr als ein halbes Jahr, bis der Betreiber des Ausschlusses nach weiteren Angriffen auf andere Teilnehmer selbst ausgeschlossen wurde, ein eigenes Forum gründete und als einen der ersten denjenigen aufnahm, der auf sein Drängen gesperrt wurde. Das Internet liebt nicht nur Verschwörungstheorien aller Art, sondern auch Intrigen. Zwar ist alles in ganz anderer Weise öffentlich und jedermann zugänglich als in Vereinen mit ihren Hinterzimmerabsprachen, aber dafür vergisst es auch schnell. Die Fluktuation ist oft so groß, dass Neue kaum verstehen können, wer da mal mit oder gegen wen gestritten hat.)

Verwilderung der Sprache. Unmittelbarer Anlass des Konflikts war der Ausdruck "verbrecherisch", mit dem Frank eine Position von Gerrit angriff. Ich glaube, er ist in seiner Aussage missverstanden worden. Aber es ist ein grundsätzliches Problem, dass überhaupt so häufig in dieser Weise über Interpretationen, Musik und andere Meinungen gesprochen wird. Das ist keineswegs nur in den Klassikforen zu spüren. Es ist einerseits eine Frage, wie es zu dieser Verwilderung gekommen ist. Andererseits sollte jeder, der so formuliert, sich genau fragen, was er da tut.

Begeisterung und Kritik. Kritik an anderen Haltungen ist immer problematisch. Gerade beim Kunstgenuss entwickelt jeder seine eigene Persönlichkeit, und Kritik an seinen Vorlieben hat immer die Gefahr persönlicher Verletzung. Wenn ich z.B. nicht gern Karajan höre, wird mich niemand überzeugen, der mir diese Haltung vorwirft. Wenn ich aber sehe, wie jemand überzeugend seine Begeisterung an bestimmten Aufnahmen oder Konzerten darstellen kann, bringt mich das zum Nachdenken (in diesem Fall, als ich gelesen habe, wie positiv Gould sich über gemeinsames Musizieren mit Karajan geäußert hat).

Künstlerexistenz und Mäzenatentum. Alle großen Künstler führen in gewisser Weise eine Randexistenz. Sie beschäftigen sich so intensiv mit ihrem Gebiet (allein durch das lange Üben) und stehen schnell so im Rampenlicht, dass sie sich vom üblichen Leben ausschließen müssen und fast notwendig eine Außenseiterrolle einnehmen. Das löst bei den anderen meistens eine Mischung von Bewunderung und Verachtung aus, die dann in Starkult umschlägt, wo die einen Künstler nur positiv und die anderen nur negativ beurteilt werden. --- Es gibt nur sehr wenig Stellen, die Künstlern eine freie Arbeit auf ihrem Gebiet ermöglichen, und daher gibt es am Beginn der Karriere extremen Wettbewerb. Fast immer ist ihre Existenz in irgendeiner Weise unsicher und sie müssen mit ständiger Kreativität um ihren Ruf kämpfen. Sie sind auf Mäzene und damit oft auf Personen in hoher Stellung oder mit viel Reichtum angewiesen, die sich zwar gern mit Künstlern umgeben, aber nicht selten aus einer Haltung von Bewunderung und Herablassung (um nicht zu sagen Demütigung). Dadurch ist die Kunstwelt von einer eigenartigen Unwirklichkeit umgeben.

Nazivorwurf. Geradezu extrem wurden diese Schwierigkeiten für die Künstler, deren Mäzene oder Auftraggeber die führenden Größen der NS-Zeit waren. Es scheint, die meisten in diesem Forum haben irgendwo Lieblingsinterpreten, die aus dieser Zeit stammen. (Für mich sind das z.B. Furtwängler und Knappertsbusch.) So ist jeder mit dem Problem konfrontiert, wie es möglich war, dass diese Künstler offenbar in irgendeiner Art und Weise gefühllos oder gleichgültig gegenüber dem waren, was um sie herum vorging. Das stellt - jedenfalls für mich - massiv das Selbstverständnis der Musik infrage. (Wie kann jemand einen schönen Mozart oder Bruckner spielen, wenn es nebenan zum Massenmorden kommt.) Zugleich ist darüber so schwer zu diskutieren, weil immer der Vorwurf der heimlichen Sympathie für solche Politik mitschwingt. Und jeder hat in seiner Familie nahe Verwandte, die Opfer oder Täter waren. Die Familienkonflikte sind meistens nicht ausgesprochen oder gelöst und brechen dann an anderer Stelle hervor.

Verfallserscheinungen seit 1968. Erst das Schweigen der Generation derjenigen, die die NS-Zeit aktiv mitgemacht haben bzw. sich auf die eine oder andere Art schämen, dass es ihnen unmöglich war, dagegen klar Position zu beziehen, dann die 68er Generation, die unfähig war, sich in diese Probleme einzufühlen und eine Lösung zu finden, durch die eine neue Offenheit entstehen kann, haben dazu geführt, dass sich im Ergebnis alle Verbindlichkeit aufzulösen droht. Die Spirale, andere und sich selbst lächerlich zu machen, scheint ohne Ende zu sein und jeden Halt zu verlieren.

April 2006

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