Walter Tydecks

 

Stätten innovativer Musik - Vorurteile, Hörensagen und eigene Erfahrungen

Wo sind heute die Stätten, an denen etwas Neues, Anregendes geschieht, wohin ein junger Musiker pilgern und völlig verändert, aber zugleich er selbst geworden, zurückkehren kann? Der junge Bach ging zu den norddeutschen Orgelmeistern, sein Sohn in die Zentren der Aufklärung. Mozart wäre am liebsten in Mannheim geblieben, Chopin und Liszt zog es in die Pariser Salons von 1830 - 48. Petersburg um 1911 und Berlin in den 1920er Jahren.

Ist dies alles seit 50 Jahren abgerissen?

Welche Stätten haben Euch angeregt oder enttäuscht, was hätte Ihr gern mit erlebt, wo sucht oder erwartet Ihr heute neue Impulse?

Drei Beispiele: Hamburg um 1980, als Ligeti dort wirkte. Polyrhythmische Strukturen, Ethno-Musik, Anregungen aus der Popmusik (z.B. Sting). Bei einem Kongress in Heidelberg über Mikrotonalität traf ich einige der Schüler. Die Begeisterung war zu spüren, und doch fehlte etwas. Es wirkte etwas akademisch und die Situation in Hamburg isoliert.

Köln in den 1950ern. In den völlig zerstörten Städten schien der Begriff des Werks obsolet geworden. Die Musik wollte sich aus der Geschichte herauskatapultieren. Musik am Reißbrett. Spröde. Hoher Grad an Institutionalisierung. Köln hat bis heute die größte Hochschule für Musik in Europa und dominiert in Deutschland auf ähnliche Weise die Musik wie Darmstadt / Frankfurt die Literatur. Ich empfinde das als Ausdruck von Unsicherheit und eher abstoßend. Es ist heute nur sehr schwer, in dieser Musik im Verborgenen etwas Lebendiges zu entdecken. Und doch: wie haben die Kontarsky-Brüder Brahms, Strawinsky und Ravel gespielt ! Unbestreitbar kommen aus Köln ständig neue Impulse, während andere Städte auf das bloße Geld vertrauen und sich Stars von außen holen.

Hannover. Wurde nach 1945 neben Stuttgart Zentrum der Kirchenmusik. Durch Ernst-Lothar von Knorr gab es eine Verbindung zur Jugendmusikbewegung, dem George-Kreis und damit einer Strömung, gegenüber der bürgerlichen Kultur etwas Eigenes zu entwickeln (woran sich auch namhafte Musiker wie Hindemith beteiligt hatten). Nach 1945 ging das zusammen mit einer neuen Hinwendung zur Kirche, als die antikirchliche Politik der NS in ein Desaster geführt hatte. Kirchenmusik: Besinnung auf Instrumente wie Orgel, Flöte und Gitarre. Einflüsse aus dem Umfeld der 68er Bewegung kamen hinzu, "Kirchentagsmusik". Hier wird geradezu ein nicht-elitäres Verhalten kultiviert (wie ich kürzlich beim Kirchentag in Hannover erneut bestätigt sah). Angesichts der mit der Globalisierung heranziehenden tiefen sozialen Brüche in der Gesellschaft vermute ich, dass all diese Fragen mit großer Dringlichkeit neu aufgeworfen werden.

Literaturhinweise

Moderne Musik aus Hamburger Sicht

Musikszene Köln

Musikantenbewegung

© tydecks.info 2006 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum im Juni 2005