Walter Tydecks

 

Die deutsche Orgelbewegung der 1920er - eine Diskussion

17.11.2005 Die deutsche Orgelbewegung

So wie in Frankreich Orgelkomponisten von Vierne bis Alain ihre Antwort auf die aufwühlenden Fragen der Zeit gesucht haben, so gab es in Deutschland etwas Eigenes, die Orgelbewegung. Da dann einige ihrer Vertreter mehr oder weniger stark im Nationalsozialismus engagiert waren, wurde es einfach, sie pauschal zurückzuweisen und stattdessen im Gegenzug nun auch in Deutschland die bis dahin eher ignorierten Neuerungen aus Frankreich aufzugreifen. Ich bin sicher, dass dies einer der Gründe für den von Sebastian beklagten "Französismus" ist, ein Ausdruck, der mir allerdings auch nicht besonders gefällt.

Vom Ansatz her ist aber die Frage nach den "deutschen Wurzeln" völlig berechtigt und bewegt mich sehr. So merkwürdig es klingen mag, kann ich sehr gut nachvollziehen, von einer "landschaftsorientierten 'Musikerseele'" zu sprechen, einer Musikerseele, die sich in ihrer Landschaft wohl fühlt, von ihr getragen weiß und deren Sprache versteht und in die Musik einfließen läßt.

Sicher droht die Gefahr, in Klischees und Vorurteile abzurutschen, wenn von der "ins Detail gehenden" deutschen Sprache im Unterschied zur Eleganz und Leichtigkeit der Franzosen gesprochen wird. Es gibt seit Anfang des 19. Jahrhunderts, d.h. seit der zur Zeit der Kämpfe gegen die napoleonische Vorherrschaft entstandenen Romantik ein Selbstbild des Deutschen: Tiefsinn, Arbeit, Gründlichkeit sowie die Fähigkeit zum verbindenden Universalismus. Tiefsinn zeigt sich im tieferen Verständnis von Harmonie gegenüber den bloßen Melodien etwa in Italien, gelehrt gegenüber galant, stärker der Natur verbunden und nicht nur ein bloßes Produkt der Kunst, echte Wahrheit statt lokale Gebundenheit (so wie etwa Sibelius nur den charakteristischen Ton Finnlands getroffen hat), poetisch und nicht nur prosaisch, metaphysisch über das Physische hinausgehend, organisch und nicht nur mechanisch, wahre Entwicklung statt bloßer Reihung, Kultur statt Zivilisation, Ideenrepräsentation, die nichts mehr mit einfacher Unterhaltung zu tun hat. (So weit eine kurze Zusammenfassung von Sponheuer "Über das 'Deutsche' in der Musik" in "Deutsche Meister - böse Geister?".)

Diese Ideen wurden von der Orgelbewegung (und der ihr verwandten Singbewegung) aufgenommen. Sie war Teil der Jugend- und Wandervogelbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts, für mehr Gemeinschaft statt der drohenden Anonymität und Kälte in den modernen Städten und der industriellen Arbeitswelt.

Während in Frankreich versucht wurde, die neuen Impulse etwa das Jazz aufzugreifen und aus in ihnen auf Grundlage der eigenen Tradition etwas Neues zu gewinnen, überwiegte in Deutschland die Sehnsucht nach der Zeit des Frühbarock und der Wunsch, an diese Tradition anzuknüpfen und ihr zu neuem Ausdruck zu verhelfen.

Compenius-Orgel

Frederiksborg Slotskirke: Beispiel einer Compenius-Orgel aus der Zeit von Michael Praeteorius (1571-1621). Die Orgel wurde 1610 gebaut.
Urheber: By Elgaard - Eget arbejde, CC BY-SA 3.0, Link

Max Reger nahm eine Zwischenposition ein. Sein Freund, der Organist Karl Straube, entwickelte sich von einem führenden Vertreter der Romantiker zu einem Wortführer der Orgelbewegung. Wichtige spätere Vertreter der Orgelbewegung wiederum wie Helmut Walcha waren dann so konsequent, Reger ganz aus ihrem Programm zu streichen ( Quelle ), weil er ihnen zu romantisch und insofern in gewissem Sinn zu "französisch" war !

Wird diesen Fragen weiter nachgegangen, ergeben sich also ganz überraschende Perspektiven. Abschließend sei erwähnt, dass der Schriftsteller Hans Henny Jahnn ebenfalls Orgelbauer und Vertreter der Orgelbewegung war.

So dürfte Stoff und Anregung genug für ein wichtiges Thema zum Selbstverständnis der deutschen Musik gegeben sein.

20.11.2005 Wolfgang ('Tastenwolf')

Ich kann nicht erkennen, daß die Orgelbewegung als wichtiges Thema zum Selbstverständnis deutscher Musik gesehen wird.

Mit der Orgelbewegung assoziiere ich immer eine spezielle religiöse Haltung, die ich mit Askese und Buße charakterisiere; und eine eigenartige Auffassung zur neuentdeckten Atonalität (bitte nicht den Begriff zerpflücken, ich meine nur eine spröde und dissonante Harmonik.)

Ich glaube überhaupt nicht, daß diese Musik einen Teil des heutigen Musiklebens repräsentiert. Sie ist fast nur im zeitlichen Zusammenhang zu verstehen, da sie sehr viel an Weltanschauungen transportiert, die heute fremd sind.

Während meines Studiums habe ich mich mit J.N.David befaßt und versucht, seine klangliche Entwicklung nochzuvollziehen. Schließlich sind seine Frühwerke ganz klar für andere Instrumente geschrieben als die der Orgelbewegung. (Vor allem die a-Moll Chaconne und die f-Moll Fantasie.)

Die Bezeichnung Selbstverständnis der Deutschen Musik bewegt mich, da ich nicht erkennen kann, wo ein solches Selbstverständnis vorhanden wäre...

Ich hoffe, ich verstehe dich richtig, wenn ich den Vergleich mit meiner Heimatstadt Wien bringe, die ja als Musikstadt mit großer Vergangenheit bezeichnet wird, leider übersieht man gerne die Gegenwart... In Wien, und wahrscheinlich allen anderen Zentren der Musik, herrscht das Selbstverständnis, daß die Tradition weitergeführt werden kann bzw. heute noch vorhanden ist... das glaube ich nicht!
Bei uns sind Institutionen und Gewohnheiten vorhanden, die zwar gepflegt werden, aber den Sinn längst eingebüßt haben.

Wenn ich Selbstverständnis Deutscher Musik auf Kompositionen beziehe, stehe ich vor einem Rätsel, denn die vielgerühmte Vergangenheit findet keine Fortsetzung... Oder sind wir nur zu kritisch, um jungen Komponisten Erfolge zuzugestehen.

Es hat in der Deutschen Musik 2 Brüche im 20.Jh gegeben - entsprechend den beiden Nachkriegszeiten. Zuerst die wilden 20er Jahre mit einer Lust an der Atonalität (ich weiß, eine schlechte Formulierung) und aufsehenerregenden Konzerten, die den Begriff der Modernen Musik bis heute beeinflußen.

und die 50er mit einer radikalen Experimentierfreude und Lust an der Zerstörung, Provokation... Das ganze in Kombination mit einer polarisierenden Pädagogik, die ganzen Generationen den Zugang zu moderner Musik verbaut hat.

Erst in den letzten Jahren wurden die "anderen" Komponisten des 20. Jhs. entdeckt.
Wie würde unser Musikleben aussehen, hätte man schon früher damit begonnen, Pfitzner, Schreker, Korngold etc. statt Hindemith und Schönbergs 12 Tonsystem zu unterrichten?

20.11.2005 Antwort

Da gebe ich dir ganz recht, dass weder die Orgelbewegung als wichtiges Thema zum Selbstverständnis der deutschen Musik gesehen wird, noch überhaupt ein solches Selbstverständnis erkennbar ist. Eben weil dies alles fehlt, suche ich nach Ansatzpunkten, um dort hinzukommen, und freue mich, wenn du hier antwortest und in der Grundrichtung gar nicht so anders zu denken scheinst.

Die Orgelbewegung entstand als eine von mehreren Antworten auf den ersten von dir genannten Bruch in den 1920er Jahren. So wie ich sie verstehe, wurde nicht nur die Atonalität abgelehnt, sondern die ganze Richtung der Musikgeschichte, die schließlich zu Expressionismus und gesteigerten Ausdruck subjektiver Gefühle geführt hat (und daraus ging auch die Atonalität bei Schönberg hervor), und die um dies verwirklichen zu können, immer differenziertere Gestaltungsmöglichkeiten gesucht hat, sei es in den Riesenorchestern bis zu Richard Strauss oder den Orgelstücken, die alle neuen technischen Möglichkeiten des Orgelbaus nutzten.

Dagegen wurde eine Rückbesinnung gesucht, die im Prinzip noch hinter Bach zurück ging. Denn auch Bach hatte ja versucht, die unterschiedlichen nationalen Stile zu vereinbaren und insbesondere italienische Einflüsse übernommen. So wurden dann im 19. Jahrhundert seine Solowerke für Klavier, Violine und Cello sicher noch einflussreicher als seine Orgelmusik und standen im Zentrum der bürgerlichen Musikkultur mit Hausmusik, Privatkonzerten, Konzertreisen, den neuen Konservatorien für Musik.

Der ursprüngliche Kantor, der an der Orgel für die Gemeinde spielte, wurde demgegenüber weit zurückgedrängt, und erst als eine Folge der Orgelbewegung wurden die Kantoren in Deutschland wieder deutlich aufgewertet und gewannen an Ansehen für die Musikkultur.

Ich kann verstehen, warum mit Orgelbewegung eine religiöse Haltung bis zu Askese und Buße verbunden wird, würde aber in andere Richtung assoziieren. Lange bevor ich die Komponisten und ihre Zeitepochen kannte und als Kind einfach in Norddeutschland in der Kirche die Orgelvorspiele und ersten Orgelkonzerte hörte, prägte sich mir ein bestimmter Klang ein. Das beste Hörbeispiel ist für mich nach wie vor die CD von Helmut Walcha "Orgelmeister vor Bach" mit Werken von Buxtehude, Pachelbel, Lübeck, Bruhns, Sweelinck und anderen. Gerade Sweelinck, der älteste von ihnen, wurde nach meiner Erinnerung früher noch recht häufig gespielt und ist zumindest bei den Konzerten, die ich in den letzten Jahren gehört habe, fast vollständig verschwunden, während französische Orgelmusik immer häufiger gespielt wird.

Ich habe nichts gegen die französische Romantik, sondern höre sie sehr gern, aber sie beantwortet nur im Vergleich die Frage nach dem Selbstverständnis der deutschen Musik.

Und mit deutscher Musik verbinde ich ganz wesentlich das Wirken der Kantoren im Frühbarock und noch weiter zurück, den Stil, den bereits diese Kirchen verkörpern. Mir gefallen einfach die norddeutschen Backsteinkirchen, von außen klobig, und innen oft von ganz überraschender Helligkeit. Jetzt im Urlaub war ich wieder in der Marienkirche in Greifswald, eine meiner Lieblingskirchen. Vielleicht sagen Bilder mehr als Worte:

Greifswald Marienkirche

Marienkirche Greifswald;
Urheber: Von Greifen - fotografiert von Greifen, Gemeinfrei, Link

Die frühe Orgelmusik hat versucht, mit ihren einfachen Mitteln ohne großen Prunk eine Aussage zu finden, die tief zum Selbstverständnis des Deutschen gehört, jedenfalls, so wie ich es sehe und suche. Gehe ich in solch eine Kirche und höre, wie gerade frühe Orgelmusik geübt wird, ist das ein Gefühl innerer Ruhe und des Aufatmens, für einen Moment einen Punkt der Sammlung gefunden zu haben, der sonst nicht einmal als fehlend empfunden wird.

Die Orgelbewegung hat dies auf ihre Art angesprochen, konnte sich aber dann nicht freihalten von zahlreichen anderen weltanschaulichen Einflüssen. Daher ist dies weiter für mich ein offenes Thema.

20.11.2005 Wolfgang ('Tastenwolf')

Schön, einmal über dieses Thema zu reden.

Ich teile dieses Gefühl, daß die symphonische französische Musik unserem Wesen - oder einfach unserer Idee von Orgelmusik - nicht ganz entspricht.

Es mag auch an Konzerttraditionen liegen, an der Eigenständigkeit der französischen Virtuosen mit den lange bestehenden Spielhilfen, daran, daß die Orgel in der Liturgie eine andere Bewertung hat - und in Österreich wird die Orgel vom Publikum nicht angenommen - da nützen auch die jahrelangen Missionierungsversuche nichts.

Auch wenn ich mich im Studium angepaßt habe - immerhin ist das Problem mit den unpassenden Orgeln weiterhin gegeben - ist mein Klangideal von der Orgel ein anderes.
Eine Rolle spielen auch die Choralmelodien, die mir anderswo fehlen. Aber auch schon in der Barockmusik - bei aller Schönheit der französischen Kompositionen (besonders Grigny) - ist sie der "weltlichen" Musik sehr ähnlich.
Bei deutschen Komponisten finde ich eher die Strenge, die Klarheit einer Aussage, im Gegensatz zu gefälligen Melodien, von denen man sich manchmal belästigt fühlt.

ein Versuch: Mendelssohns Sonaten mit Widors Symphonien zu vergleichen (zeitlich nicht ganz passend) - so sind auch bei Mendelssohn viele Klavierelemente (= IMO orgelfremd) zu finden. (f-Moll Sonate, 4.Satz) aber Schlichtheit im Ausdruck steht den Effekten des Widor Stils gegenüber.

die letzten 2 Symphonien Widors haben zwar gregor. Themata, aber das weist auch auf verschiedene Traditionen der Kirchenmusik hin...
es ist schwer, pauschale Aussagen zu treffen, daß die Gregorianik im deutschen Raum nicht so eine Rolle spielt und anders im Bewußtsein verankert ist als in Frankreich (da fehlt mir die Kenntnis..), aber fundamentale Unterschiede in der Liturgie können eine große Bedeutung haben, da die rituellen Handlungen sehr tief in die menschlichen Seele hineinreichen. Nationale Eigenheiten, wie vielleicht das Orgelspiel in der Liturgie prägen die Menschen mehr, als wir zugeben wollen.

Allein bei unterschiedlichen katholischen Bräuchen entsteht dieses Unbehagen, nicht Teil der Gemeinde zu sein, von allen angestarrt zu werden...
Möglicherweise ist der Stil, in dem wir den Klang der Orgel gewohnt sind - auch abgesehen von Kindheitserinnerungen - entscheidend für die Rezeption.

Übrigens: gab es z.B: in Frankreich etwas vergleichbares zur Cäcilianistischen Reform? Ein Kirchenstil als eingegrenzter musikalischer Bereich, der Elemente der weltlichen Musik ausschloß, läßt sich mit den französ. Orgelwerken schwer vereinbaren.
Und diese Erfahrung gehört zu unserer Kultur.
Die Polyphonie in franz. Werken wie Widor oder Dupre hat nicht denselben eigenständigen Charakter... (schwer auszudrücken...)

aus meiner Ausbildung muß ich erwähnen, daß ich als Kind fast nur von deutschen Komponisten erfahren habe, den Ausgleich, die Erfahrung, daß in anderen Ländern auch wichtiges geschrieben wurde, habe ich viel später kennengelernt.

Ich finde es schwierig, die nationale Musik zu definieren, noch dazu, weil mir vorkommt, daß es noch immer verpönt ist, etwas als speziell deutsch zu bezeichnen.
ich bin zwar Österreicher, aber will nicht nur als Walzerinterpret gesehen werden...

21.11.2005 'Reklov 29'

Ein Thread, der viel an Historie besitzt und bis in unsere heutige Zeit Nachwirkungen zeigt

Das Phänomen der deutschen Orgelbewegung geht bis in die Zeit von 1920 zurück. Hier stritt man sich bis in die 1970er Jahre vor allem im Orgelbau.

Vorausgegangen war eine elsässische Orgelreform mit Emilie Rupp, Albert Schweitzer und Franz Xaver Matthias die allerseits den modernen Orgelbau heftig kritisierten und von Fabrikorgeln sprachen. Die Klangvorstellung der Orgelneubauten müsse sich klanglich an den Vorbildern Silbermann und Cavaille-Coll orientieren, was aber neuere technische Möglichkeiten nicht ausschließen sollte.

Die Auswirkungen der elsässischen Orgelreform war eine Synthese zur Verwirklichung von barocker und romantischer Orgel anzustreben.

Aufgrund ausgiebiger Diskussionen in der deutschen Orgelbewegung kristallisierte sich die Forderung heraus, zu alten Dispositions- Mensurierungsgrundsätzen, zu historischen Registerbauweisen, Ladensystemen und Prospektgestaltungen zurückzukehren oder diese bei Neubauten zumindest verstärkt zu berücksichtigen.

So nahm die deutsche Orgelbewegung gegenüber der so genannten romantischen Orgel eine Oppositionshaltung ein und führte damit einen Traditionsbruch herbei.

Als ein Hindernis wirkte sich die deutsche Orgelbewegung für eine an den zeitgenössischen Entwicklungen der musikalischen Sprache orientierte Orgelmusik aus. Nachdem die Bauprinzipien Vorromantischer Orgeln als Wert wieder entdeckt und durch Nachbauten und Restaurierungen der entsprechenden Musik allmählich fruchtbar gemacht worden waren, begann man im Umkehrschluss, die Musik aus der Zeit vor 1750 als Maß aller Orgelkomposition zu verklären.

Als einzig mögliche Orgel galt die alte Orgel, als einzig adäquate Orgelmusik die sich an den Stilprinzipien der dazugehörigen alten Musik orientierte. So ergab sich für Orgelwerke in Deutschland seit den 1920er Jahren fast zwangsläufig das Stilideal neobarocker Kontrapunktik, sowie innerhalb der Bewegung die Meinung grosses Gewicht besaß, nur liturgisch verwendbare Orgelmusik und in der Regel die Cantus-firmus-gebundene Form als ihre alleinige Daseinsberechtigung verstanden werden müsste.

So ist es nicht verwunderlich, dass in Deutschland jahrzentelang über Hindemiths Sonaten hinaus kaum etwas gewagt wurde.

Die Neubewertung historischer Orgeln und deren Einbeziehung in die Spiel und Konzertpraxis führten ferner dazu, dass auch die Interpretationsausgaben älterer Musik, die bisher auf die modernen Instrumente zugeschnitten waren, revidiert wurden. Karl Straube legte 1929 mit der Edition "Alte Meister" des Orgelspiels - Neue Folge - eine Ausgabe vor, die nun, anders als die bereits 1904 von ihm herausgegebene Sammlung "Alter Meister" des Orgelspiels - völlig auf den Gebrauch Jalousieschweller, Walze und Kombinationen verzichtete und deren Registrierangaben auf die Arp-Schnitger-Orgel der Hamburger Jacobikirche bezogen waren. Ähnlich zog Karl Matthaei für die Registrierangaben seiner Pachelbel-Ausgabe die Freiburger Praetorius-Orgel heran.

Der durch seine frühe Begegnung mit den sächsischen Silbermann-Orgeln geprägte Helmut Walcha traf 1938 die lapidare Feststellung: "Das Wesen der Orgel ist statisch" sowie eine weitere Walcha Aussage: "Walze und Schweller sind orgelfremd weil sie der Orgel Übergangsdynamik aufzwängten." Mit dieser Aussage stand Walcha nicht allein, ähnliche Aussagen wurden auch von Hugo Distler getätigt.

Als ein weiteres unabdingbares Hindernis erwies sich der Nationalsozialismus mit seiner Politik und seiner rigorosen Unterdrückung der musikalischen Neuausrichtung.

Wenig glücklich wirkten sich die Vorstellungen der Orgelbewegung bei Restaurierungen aus. Vermeintlich historische und vorwiegend dem älteren norddeutschen Orgelbau entlehnte Register wie Rankett, Sordun oder Dulcian wurden, gelegentlich auch unter Berufung auf Pretorius, in alte und auch neue Instrumente ganz anderen Klangcharakters eingebaut, während ein gleichzeitiger Verlust von originaler Klangsubstanz ohne Skrupel in Kauf genommen wurde.

Nach 1948 setzte verstärkt eine Orgelbautätigkeit ein, die immer größere Ausmaße annahm. Hier wurde der Forderung der Orgelbewegung nachgekommen, mechanische Spieltraktur, Schleiflade und Gehäusebauweise mehr und mehr Allgemeingut werden zu lassen.

Erst ab Anfang der 1960er Jahre wurde geradezu in missionarischer Tätigkeit durch den deutschen Organisten Gerd Zacher, der Versuch unternommen, Messiaen als einen großartigen zeitgenössischen Orgelkomponisten der Fachwelt in Deutschland schmackhaft zu machen. Zacher persönlich versuchte den Anschluss an Messiaen auf der Orgel durch serielle Strukturen zu verwirklichen.

Die neuzeitlichen heutigen Orgelkompositionen, worin alle Stömungen der Altzeit mit der Neuzeit zusammentreffen, werden immer internationaler und können einer länderspezifischen Ausrichtung kaum noch zugeordnet werden.

23.11.2005 Wolfgang ('Tastenwolf')

ganz kurz nur...

das Phänomen der Antiromantik müßte eigentlich von der Orgelbewegung selbst getrennt werden.

es läßt sich nicht leugnen, daß die Kritik an den bestehenden Instrumenten - bis hin zur Neuschaffung eines Klangbildes - die Ursache in einer veränderten Gefühlshaltung oder Weltanschauung hat.

die Schweitzersche Reform hat mit dem "Aliquotengeklingel" mit 1 1/7' Registern jener Instrumente sehr wenig zu tun...
Schweitzer wollte von einer "Wagnerorchester"- Orgel zurück zu einem echten Klang. andere wollten wesentlich weiter vor Bach zurück - das muß auch mit Klanggewohnheiten zusammenhängen, die man radikal brechen wollte.

daher stehe ich einigen Ergebnissen der Bewgung sehr kritisch gegenüber, die "Lückenregistrierung" (16'+2' etc) war eine Modeerscheinung - bzw. vielleicht wurden die Aliquotstimmen kurzfristig neu erfunden...

nicht jedoch der Absicht der Bewegung, das marode Musiksystem zu erneuern...

26.11.2005

Im Beitrag von Reklov ist sicher zutreffend der Dogmatismus beschrieben, in den die Orgelbewegung hineingeriet, als sie nur die von ihr wieder entdeckte Zeit vor 1750 gelten lassen wollte. Sie war daher nicht fähig zu eigener Kreativität, während es in Frankreich Messiaen - und für meinen Geschmack noch überzeugender Jehan Alain - gelang, sowohl aus ihren französischen Traditionen wie aus zeitgenössischen Anregungen zu schöpfen und etwas Neues zu schaffen, das uns in unserem Lebensgefühl anzusprechen vermag.

Und doch ist die Frage nach einem deutschen Selbstverständnis für mich weiter aktuell, um so mehr, als die zeitgenössische Musik einen internationalen Stil sucht und dadurch eine Leere erzeugt, in die jederzeit eine Neuauflage einer dogmatischen nationalen Musikbewegung hineinstoßen kann. Offenheit und tiefes Verständnis für Musik anderer Nationen und Kulturen ist meiner Meinung nach nur möglich, wenn sie getragen wird von der Sicherheit der Verwurzelung in der eigenen Kultur und Geschichte. Ohne seine Lehrjahre in Norddeutschland hätte Bach nie in solch souveräner Weise die Anregungen aus anderen Ländern aufnehmen können.

1926 hat Willibald Gurlitt in einem programmatischen Artikel "Die Wandlungen des Klangideals der Orgel im Lichte der Musikgeschichte" den Punkt zu finden versucht, auf den die deutsche Orgelbewegung zurückgehen wollte. Im Protestantismus wurde hier versucht, ältere deutsche Traditionen in das Christentum zu integrieren. Das war nicht nur die Übersetzung der Bibel ins Deutsche (wodurch zugleich die Ausdrucks- und Vorstellungskraft der deutschen Sprache gewahrt und gefördert wurde, einen ganz ähnlichen Effekt hatten die Bibelübersetzungen in anderen Sprachen), das war stärker musikalisch ausgedrückt eine Wandlung der transzendenten Klangmystik des Mittelalters in eine immanente Klangmystik (so versucht Gurlitt es in Worte zu fassen).

Während in Italien im frühen Barock die Streicher bevorzugt wurden, waren es in Deutschland die Bläser. Daher das große Ansehen der Stadtpfeifer gegenüber den Bierfiedlern und die daraus resultierenden Anforderungen an den Orgelbau, der stärker den Bläser- denn Streicherklang nachbilden sollte.

Im Katholizismus durften nur die Priester singen. Sie sangen lateinisch. Die Gesangbücher waren schwere Folianten, die nur innerhalb des Altarraums gehütet werden konnten. Das Kirchengesangbuch des Protestantismus wird dagegen an alle Gemeindemitglieder ausgegeben. Alle können und sollen mitsingen. Die Kirchenlieder begleiten das ganze Kirchenjahr. Ihre Melodien stehen im Zusammenhang mit weltlichen Melodien der Jahreszeiten und ihrer Eigenarten. Der Kirchengesang öffnet sich dem Volkslied und versucht es zu integrieren. Wer gerne sang, für den war es überhaupt kein Problem, sowohl überlieferte heidnische Lieder wie die neuen Kirchenlieder zu singen.

Der Kunstcharakter wird jedoch immer wichtiger, bis schließlich erwartet wurde, durch das Zuhören eine innere geistige Bewegung zu erreichen, wodurch sich der Geist dem Evangelium öffnet. Das Zuhören wird zu einem geistigen Zugang. Damit setzte eine Entwicklung ein, wodurch die Musik sich immer weiter vom Klang der vertrauten Natur und überlieferten Sprache, ihren jahreszeitlichen Rhythmen und ihrer inneren Bewegung der Freude und der Trauer, des Entsetzens und Entzückens entfernte und damit auch den überlieferten "rituellen Handlungen" (die Wolfgang anspricht), wieder zum seelischen Gleichgewicht zu finden, und stattdessen immer stärker zu einer Angelegenheit von Bildung und intellektueller Zerstreuung wurde. Am Ende dieser Entwicklung konnte Brahms sagen, dass er am liebsten Musik "hört", wenn er eine Zigarre rauchend auf einem Sofa einen Notentext liest. Die Orgelkunst ging allmählich in Klavierkunst über. Der Raum der Musik wandelte sich vom Kirchenraum und heiligen Ort zum Privatgemach, Salon oder Konzertsaal und schließlich zum Studierzimmer und elektroakustischen Studio.

Erst dort konnte der moderne internationale Stil entstehen. Messiaen mit seinen lebenslangen Forschungen über den Vogelklang würde ich hier ausdrücklich ausnehmen. Er hat in den Vogelstimmen den Klang der ihm vertrauten Landschaft gesucht und ich glaube auch gefunden, und er ist insofern für mich neben Pärt eins der ganz wenigen Vorbilder, von deren Wirken ich mir Impulse für eine neue zeitgenössische Musik erhoffe.

Die Brüche der deutschen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts sind nicht nur aus der Politik gekommen, sondern auch in ihrer eigenen Geschichte zu suchen, etwa den 3 Schlägen des 19. Jahrhunderts: Der frühe Tod von Mendelssohn und seiner Schwester Fanny, der Tod von Schumann in Bonn-Endenich, der "Fall Wagner". Das ist zum vollen Verständnis der deutschen Orgelbewegung auch zu bedenken, soll aber an anderer Stelle weiter dargelegt werden. Die deutsche Orgelbewegung zeigt, wie dann später ohne Aufarbeitung der eigenen Geschichte versucht wurde, tiefer in die Tradition zurück zu gehen und von dort neu anzufangen, als könne das übersprungen werden, was dazwischen liegt, und wie das zum Scheitern verurteilt ist. Mit ihrer dogmatischen Entwicklung hat sie in den 1950er und 1960er Jahren daher mit dazu beigetragen, dass dann im Gegenzug die Revolte dagegen ihrerseits wiederum dogmatische und weltanschauliche Züge annahm und bis heute kein Ausweg aus den verhärteten Positionen gefunden ist.

26.11.2005 Wolfgang 'Tastenwolf'

Zitat: Offenheit und tiefes Verständnis für Musik anderer Nationen und Kulturen ist meiner Meinung nach nur möglich, wenn sie getragen wird von der Sicherheit der Verwurzelung in der eigenen Kultur und Geschichte.

Respekt, ich wäre neugierig, wie die heutigen Vertreter der Kulturpolitik auf so einen Satz reagieren könnten außer mit Verlegenheit und Standardsprüchen!

Zitat: Die Orgelkunst ging allmählich in Klavierkunst über. Der Raum der Musik wandelte sich vom Kirchenraum und heiligen Ort zum Privatgemach, Salon oder Konzertsaal und schließlich zum Studierzimmer und elektroakustischen Studio.

das kann ich nicht so nachvollziehen - die gesellschaftliche Veränderung seit der Barockzeit sehe ich als Hauptgrund für diesen musikalischen Wandel. Die Kirche verlor an Bedeutung und an Macht und konnte so auch ihre kulturelle Position nicht aufrechterhalten.

danke für die Anregung, mich mit der Gegenreformation näher auseinanderzusetzen, durch die die österreichische Kirche entscheidend geprägt wurde... in Ö hat die Orgelbewegung ja viel schwächere Auswirkungen,

Jedenfalls sehe ich mit Beginn des 19.Jh. den Einfluß der Kirche verschwinden... Einen Zusammenhang zur bürgerlichen Kultur zu sehen, fällt mir nicht leicht. Andererseits sehe ich klare Parallelen zwischen der Industrialisierung und dem "technischen Fortschrittsglauben" in der Musik.

Vor kurzem wurde ich auf die Rolle der franz. conservatoires aufmerksam gemacht, die die traditionelle Pädagogik (und Handwerkskunst) durch ein neues System ersetzten und dadurch einen Bruch der musikalischen Traditionen herbeiführten.
Die rein rationale Bewertung des Notenbildes, die einheitliche Art zu unterrichten, die Leistungssysteme sind damals entstanden und wurden überall nachgeahmt.

IMO hat die Orgelbewegung auch den bis dahin unwidersprochenen Fortschritt der Musik negativ bewertet und deswegen sich um einen Neubeginn bemüht. Daß sie dabei ebenfalls einiges zerstört haben, braucht nicht unerwähnt bleiben.

Ob die Orgelmusik innerhalb des "Mainstream" im 19.Jh gesehen werden kann, bezweifle ich. Mendelssohn, Schumann und Brahms haben die Orgel zwar gefördert, aber es scheint mir, als wäre dieser Einfluß nur am Rande verlaufen.

kleiner Gedankensprung zu:

Zitat: während es in Frankreich Messiaen - und für meinen Geschmack noch überzeugender Jehan Alain - gelang, sowohl aus ihren französischen Traditionen wie aus zeitgenössischen Anregungen zu schöpfen und etwas Neues zu schaffen,

IMO hängt das eher damit zusammen, daß der Bruch der Wiener Schule keine Auswirkungen dorthin hatte - so ist den Franzosen ein "fließender Übergang" zur "nicht tonalen" Musik gelungen, während anderswo extreme Meinungen herrschten und jede Menge Porzellan zerschlagen wurde.

Ich bin überzeugt von der Auswirkung beider Kriege auf das Selbstverständnis des deutschen Volkes, die Identitätsfindung ist seitdem sehr schwierig - vielleicht mag mein Beitrag zur deutlichen Sprache (Vokalmusik) übertrieben erscheinen, aber die Grundlage bleibt IMO, daß die junge Generation nach den Kriegen nicht mehr bei derselben Qualität anschließen konnte, - sowohl aus künstlerischer Sicht, als auch aus moralischer - es war nicht möglich, die Kultur der Eltern nach diesen Katastrophen nahtlos fortzuführen.

dieses Problem stellt sich in Frankreich oder England sicher anders dar: gibt es dort vergleichbare Reformen, bzw. wie haben diese ausgesehen...

ich habe jetzt sehr wenige bis gar keine Beweise für meine Theorien...hoffentlich können wir dennoch weiterdiskutieren...

PS: die Meinung zum Fall Wagner interessiert mich sehr, da ich Wagner sehr kritisch beurteile als jemanden, der die Musikgeschichte nicht zum Vorteil verändert hat.

27.11.2005 Deutscher Gesang - Kloß im deutschen Hals ? (Beitrag zur "deutlichen Sprache")

Durch Wolfgang ('Tastenwolf') bin ich aus der Diskussion über die deutsche Orgelbewegung auf dies Thema gebracht worden, denn es gab ja auch eine deutsche Singbewegung, die nach 1945 vielleicht noch eine Weile bei Pfadfindern und ähnlichen Gruppen fortgeführt wurde, dann aber abrupt abbrach. Ich habe das in meiner Jugend schmerzhaft erlebt und freue mich sehr, dass solche Themen hier jetzt zur Sprache kommen.

"Sprich deutlicher!" oder "nuschel doch nicht nicht so" kenne ich noch sehr gut aus der Schule. Und es ist heute rückblickend ganz eindeutig mein Eindruck, dass die undeutliche Sprache Ausdruck eines Unwohlseins in der eigenen Sprache war und ist.

In der Grundschule haben wir noch bei Klassenausflügen gemeinsam deutsche Volkslieder gesungen, und obwohl ich mich damals geärgert habe, wie einige lustlos übertrieben mitgröhlten, gab es einige, mit denen es richtig Spaß machte. Bis zum Anfang des Studiums konnte es vorkommen, aus einer guten Stimmung heraus z.B. bei einer gemeinsamen Fahrt nach Italien im VW-Kleinbus mehrstimmig Lieder zu singen.

Aber je älter wir wurden, war mit dem Singen immer stärker ein Schamgefühl verbunden. Vorübergehend wurde das aufgefangen, indem - was heute in der Erinnerung neue Scham hervorruft - dann halt Arbeiterlieder gesungen wurden, selbst betrunken spät in der Nacht. Und irgendwann hörte das ganz auf.

In den Familien wurde kaum noch gesungen, und heute ist es praktisch ausgeschlossen, etwa bei einem Spaziergang durch eine schöne Landschaft ein deutsches Lied zu singen. Obwohl ich viel und gern spazieren gehe, kann ich mich nicht erinnern, jemals Wandergruppen singen gehört zu haben. Nur wenn ich mich ganz allein und unbeobachtet fühle, gibt es für mich selbst eine Chance dafür.

Das Fernsehen mag auch eine Rolle spielen, dass abends nicht mehr gemeinsam gesungen wird. Wird mal auf Parties oder Feten gesungen, ist das wirklich nur noch Gegröhle, meistens eine merkwürdige Mischung von Versatzstücken aus der Mundorgel oder Schlagern aus dem Fernsehen.

"Deutscher Gesang": Welche Möglichkeit gibt es dafür noch, angesichts des Niedergangs von Deutschen Liedtafeln und den unsäglichen Volksmusik-Sendungen im Fernsehen? Es muss nicht gleich die Meinung vertreten werden, jeder deutsch gesprochene Satz klinge nach Goebbels, aber ich finde es wahr, dass es zur deutschen "Folklore" (in Anführungsstrichen, weil dies so ein typisches deutsches Wort ist ...) nur noch ein gebrochenes Verhältnis gibt.

Mit dem Verlust, frei in der eigenen Sprache singen zu können, sehe ich die Unfähigkeit verbunden, über das, was in den Jahren vor und nach 1945 in Deutschland politisch und kulturell geschah, offen sprechen zu können. Statt sich damit auseinander zu setzen, und eine Antwort zu suchen, die sowohl Traditionen fortführen kann, die viel weiter zurück reichen als bis 1933, als auch alles das in klarer Deutlichkeit kritisieren und dann - wenn es auf Verständnis stößt - verzeihen und sich ändern zu können, wurde die Sprache stumm.

Nicht nur im Lied, sondern auch die Literatur. Wenn ich überlege, wo es ernst zu nehmende Ansätze in der Literatur gab, sind gerade diese sehr schnell abgebrochen, ich denke etwa an Wolfgang Koeppen und Ingeborg Bachmann.

Stattdessen flüchteten alle in die Angebote, die von außen kamen. In Chören wird heute entweder klassisches Bildungsgut weiter getragen (wenn vor allem die Chorwerke aus dem 19. Jahrhundert gesungen werden), oder eine Mischung von Gospel und Country-Musik ähnlichen auf der akustischen Gitarre begleiteten Melodien in den Kirchentagsliedern.

Zu diesem Thema ließe sich noch vieles mehr sagen. Seit Schumann gab es in Deutschland eine spezifische Arroganz, die den Komponisten anderer Nationen zwar ihre folkloristischen Fähigkeiten zugestand (Dvorak, Smetana, Grieg, Borodin, usw. usw.), aber die "großen Meister" mit der Fähigkeit, Musik für die Menschheit zu schreiben, nur in Deutschland sah.

Hier waren sich trotz aller scheinbaren Differenzen alle Musikkritiker einig. Auch Schönberg glaubte lange Zeit, mit seiner atonalen Musik die Vorherrschaft der deutschen Musik für weitere hundert Jahre gesichert zu haben.

Es ist buchstäblich ein sehr dicker Kloß im deutschen Hals, der sich da entwickelt und verkrustet hat, kein Wunder, wenn dann alles nicht mehr so recht deutlich herauskommt.

27.11.2005 Wolfgang ('Tastenwolf')(interne E-Mail)

Danke für den Beitrag zur deutlichen Aussprache... die Volkslieder habe ich total vergessen, obwohl ich diesen Gedanken seit meiner Schulzeit (ist ja nicht so lange her) auch gehabt habe - Volkslieder singen ist peinlich - bestenfalls noch regionale Lieder im Dialekt, aber "deutsches Liedgut" klingt verdächtig nach Wiederbetätigung... natürlich, weil es so mißbraucht und schamlos politisch verwendet wurde.
Englische Hits sind dagegen in bzw. werden unbedenklich gesungen...der Ausdruck "Sprache der Sieger" stammt von meinen Eltern...

mit der Nachkriegskultur beschäftige ich mich, weil ich herausfinden will, warum einige Künstler dieser Zeit derartige Berühmtheit und unantastbaren Ruhm erlangt haben, während man heutigen Künstlern nur noch Mittelmaß zugesteht...
z.B: Anton Heiller in der Orgelszene...
im Geschichteunterricht ging es auch jahrelang nur um die Zeit 38 bis 45, nie um das danach... erst in den letzten Jahren kommt in den Medien einiges zum Vorschein.

der Satz mit der "perfekten Aussprache" sollte Widerspruch provozieren...(hat ja geklappt) vielleicht muß jemand (ich) den Anfang machen, klares schönes Deutsch im Alltag zu verwenden, um dieses Bewußtsein für die Sprache allmählich zu schaffen...
Bis jetzt ist es so, daß man mir sagt, mich innerhalb von Österreich nicht einordnen zu können. (meine Eltern haben nie Wienerisch gesprochen, Wiener sind im Rest von Ö nicht sehr beliebt, daher meine Entscheidung, "inkognito zu sprechen")

Im Kontakt mit Fremdsprachigen fällt mir auf, wie sehr die Umgangssprache die Kommunikation erschwert, da kleine Veränderungen des Vokals oder von Wortendungen riesige Hindernisse darstellen können.

Als Berufsmusiker nehme ich mir selten die Zeit, musikalische Literatur oder wissenschaftliche Literatur zu lesen, meine Gedanken sind daher leider weder fundiert noch ausformuliert, einfach ziemlich spontan hingeschrieben, aber es sind Themen, die mich schon lange beschäftigen...

2.12.2005 Fehlender Bruch in der Orgelbewegung

Verschiedene der angesprochen Themen sind wert, in einem eigenen Thread behandelt zu werden. Was die Orgelbewegung im engeren Sinn betriff, ist für mich nach Deinen Hinweisen besonders auffallend, dass es in ihr weder 1933 noch 1945 einen Bruch gab. Sie ging in den 1920er Jahren aus der Jugendbewegung hervor, und dominierte nach 1945 fast zwei volle weitere Jahrzehnte in ihrem Bereich die deutsche Musikkultur, für die Hauptbeteiligten also ihr ganzes Leben lang.

Allen Studien über die Musikpolitik im Nationalsozialismus kann entnommen werden, dass in der Breitenwirkung die Orgel- und Singbewegung den größten Einfluss hatte. Für sie bot der Nationalsozialismus offensichtlich eine große Chance, die konsequent ergriffen wurde. Aus dem Frühbarock wurde der Kirchenmusik die musikalische Gestaltung der damals geltenden religiösen Riten entnommen. Du hast sicher recht, dass die Ablösung des Kirchenraums durch den bürgerlichen Raum als Ort der Musik aus dem gesellschaftlichen Niedergang der Kirche und dem Aufstieg des Bürgertums zu erklären ist, also im Gebiet der Musik diesen Wechsel zeigt.

Ab 1900 entstand in der damaligen Jugend eine Unzufriedenheit über die Zustände in der bürgerlichen Kultur (nicht an der Kirchenkultur, die bereits verdrängt war), eine Sehnsucht nach früherer Geborgenheit, welche die Kirche hat bieten können. Während jedoch die Romantiker um 1810 und nochmals einige französische Symbolisten (wie Huysmans) zum Katholizismus konvertierten, wollte die Jugendbewegung neue rituelle Formen schaffen, die künstlerische Stilmittel des Frühbarock übernahm, ohne sich jedoch in den Raum der Kirche zurück zu begeben.

Das lässt sich in Texten der Philosophie anhand philosophischer Traditionslinien deutlicher nachweisen, wenn insbesondere Heidegger die wichtigsten Aussagen der christlichen Dogmatik übernimmt, aber für eine neuzeitliche Philosophie umformuliert, die keinen Boden mehr im Glauben an den christlichen Gott hat. (Für "Heidegger-Eingeweihte": siehe etwa seinen Begriff der Angst, der Neugier, des existenziellen Ereignis).

Und ebenso wollte die Orgelbewegung den Ton, das Instrument und die Kompositionsprinzipien aus dem Frühbarock übernehmen, aber aus dem Zusammenhang der Kirche lösen und in einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhang stellen, den der Nationalsozialismus anbot. Die Kleinorgeln waren bestens geeignet, auch in ganz kirchen-freien Räumen aufgestellt und genutzt zu werden. (Die vielzitierte Mammutorgel in Nürnberg ist dagegen eine Ausnahme, die dem Geist der Orgelbewegung gerade nicht entspricht.)

Die Orgelbewegung war nicht in dem Sinn politisch, dass sich aus ihr nationalsozialistische Programmatik hätte ableiten lassen. Aber in ihrem Verständnis des Bruchs nach 1918, der veränderten gesellschaftlichen Situation, dem neu erwachten Verlangen nach Religiosität, ohne der Kirche neue Macht einzuräumen, entsprach sie ganz den musikpolitischen Zielen des Nationalsozialismus. Unheimlicher noch ist die bruchlose Kontinuität der gesamten deutschen Musikwissenschaft über 1945 hinweg. Alle ihre führenden Vertreter blieben in ihren Positionen. Selbst Musikwissenschaftler wie Bötticher, die sich an den extremsten Auswüchsen der NS-Musikpolitik führend beteiligt hatten (das Lexikon über die Juden und den Raub von Musikalien in den eroberten Ländern) konnten völlig bruchlos ihre Karriere fortführen.

Das war dadurch möglich, dass sich die Orgelbewegung nun als rein technische Bewegung des Orgelbaus verstand. Die früheren umfassenderen Ziele wurden nicht mehr direkt vertreten, sondern es wurde darauf gebaut, dass sie durch das von der Orgelbewegung hergestellte Klangideal und ihre nach wie vor bestehende Vorherrschaft gewissermaßen von allein, aus sich selbst heraus wirkt. Mir scheint, dass es erst jetzt mit dem Abstand von einigen Jahrzehnten möglich ist, das alles zu verstehen zu beginnen. Was für Kirchen wurden denn nach 1945 gebaut? Bewusst scheint alles versucht worden zu sein, um ihnen jedes Heilige zu nehmen und sie in gelungenen Fällen als schöne Veranstaltungsräume zu gestalten. Was verherrlicht dieser Kirchenbau? Er ist nicht mehr organisch in die Landschaft und in die Städte eingepasst, sondern versucht die Nacktheit und Funktionalität der Industriebauten nachzuahmen und zu überbieten.

In diesen Kirchen fanden die Kleinorgeln des Frühbarock ihren Platz. Manche dieser Kirchen bieten eine erstaunlich gute Akustik für Kammer- oder Solomusik, aber Orgelmusik mag ich dort nicht gern hören. Die gedämpfte Stimmung großer alter Kirchen bzw. heimelige Stimmung kleinerer Kirchen ist geradezu ausgelöscht. Der Klang der Orgel kann sich daher nicht entfalten.

Bensheim Laurentiuskirche

Laurentius-Kirche in Bensheim; Quelle

Diese Kirchen stehen natürlich überwiegend in den nach 1945 neu erbauten Stadtteilen, die überwiegend von Flüchtlingen besiedelt wurden. Mir kam es immer so vor, dass sie - gewollt oder ungewollt - stark dazu beigetragen haben, ihnen kulturelle Tradition und neue Identität zu verwehren. Wem solche Kirchen angeboten werden, der kann sich nicht angenommen und heimisch fühlen. Welche Visionen können hier entstehen? Ist das nicht genau der internationale Stil der Neuen Musik? Ich komme selbst aus einer Flüchtlingsfamilie und werde hier daher vielleicht etwas zu emotional. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass diese Art von kultischen Räumen und ihren Orgeln nur möglich war, da nach dem Krieg die deutsche Gesellschaft in einer kulturellen Lähmung verharrte, die sich zwar durch äußere Einflüsse etwa der Pop-Musik gelegentlich in Zuckungen versetzen ließ, aber bis heute keinen eigenen Ton zu finden vermochte.

Ein anderes Thema stelle ich vorerst zurück: Was ist eigentlich geschehen, dass Bruckner als österreichischer Organist sich so von Wagner hat begeistern lassen, der aus dem erzprotestantischen Sachsen kam, warum verwirklichte Bruckner seine musikalischen Ideen in Sinfonik und nicht in Orgelmusik, warum wurde die hinter seiner Sinfonik stehende Orgelbegeisterung nicht von einer Orgelbewegung aufgegriffen?

1. und 10.12.2005 Zwei Kommentare von Oliver

1.12. zu Hans Henny Jahnns Wirken in der Orgelbewegung kann man viel in den 'Schriften zur Literatur, Kunst und Politik 1915-1935' HHJs nachlesen. Wenn ich mich richtig erinnere war wohl ein zentrales Problem dieser Bewegung, das sie von der Fachwelt nicht ernstgenommen wurde.

10.12. Ich halte es für gewagt, die Konversion zum Katholizismus als Ersatzhandlung für nicht geschaffene neue rituelle Formen zu betrachten. Ist nicht grade die 1900er Jugend symbolversessen gewesen? Und hatte das Bedürfnis einem Meister zu huldigen? Wenn ich die Schriften der Glaubensgemeinde Ugrino lese wird mir übel. Dann doch lieber die katholische Kirche.

Zu den Stilelementen: (Ich beziehe mich jetzt auf die Architektur) Die Romanik ist für diese Jugend das Maß aller Dinge. Warum? Manche gotische Kirche wurde auf romanischen Fundamenten gebaut, grade nach der Jahrtausendwende. Sich diese Freiheit zu nehmen, scheint nicht akzeptabel zu sein.

10.12.2005

Mit der Konversion zum Katholizismus dachte ich an Frühromantiker wie die Schlegels und in gewisser Weise auch Schelling, siehe auch die Entwicklung von Novalis. Sie hatten begeistert von der Französischen Revolution für einen Moment die Hoffnung, es könne sich nach einer langen finsteren Zeit eine neue Mythologie durchsetzen, die den Menschen neue Poesie und darauf aufbauend in allen Lebensbereichen neue Antworten zu geben vermag. Der Ausdruck "neue Mythologie" ist nicht im geringsten negativ gemeint. Sie wollten eine Mythologie, in der alles das wieder gewonnen werden kann, was nach dem Untergang der griechischen Mythologie verloren gegangen war. Als das nicht gelang, hatten sie das Gefühl, dass ihre eigene Zielsetzung vergeblich und übertrieben war und kehrten zum Katholizismus zurück.

Um 1900 war es anders. Ich sehe die Verstiegenheiten genau so wie Du. Sie entwickelten neue rituelle Formen, Huldigung von Meistern, und waren kaum zu einer Selbstkritik oder gar Rückwendung zum Katholizismus fähig. Stattdessen blieben viele anfällig für immer neue Verführungen und Führer.

Von Hans Henny Jahnn habe ich nur seine Deutung der Medea gelesen und war im Grunde überrascht, als ich von seiner Beteiligung an der Orgelbewegung gelesen habe. Dass die Orgelbewegung anfangs von der Fachwelt nicht ernst genommen wurde, kann ich mir gut vorstellen.

11,12,2005 'reklov29'

An alle Beteiligte an diesem Thread-Thema möchte ich auf folgende Neuerscheinung hinweisen:

Entnommen aus Klassik Heute vom 11.12.2005
Verfasser: Thomas Melidor (2.11.2005)
Markus Zepf, Die Freiburger Praetorius-Orgel – Auf der Suche nach vergangenem Klang
Rombach Verlag Freiburg 2005 ISBN 3-7930-9433-2
331 Seiten

Auszüge zu dieser Neuerscheinung:

Markus Zepf legte mit diesem Buch auf der Grundlage einer Dissertation über eben dieses, 1944 im Feuersturm des Zweiten Weltkrieges bereits weitgehend unbeachtet untergegangenen Instrumentes Oscar Walckers von 1926 eine Arbeit vor, die nicht nur das Instrument selbst, sondern auch seine Herkunft und Nachwirkung beschreibt. Zepf schlägt also Radien unterschiedlicher Weite um seinen Gegenstand. So zeichnet er zunächst die Entwicklung der "Elsässischen Orgelreform" nach, die der gallophile und zu scharfer Polemik neigende Schwarzwälder Organist Emil[e] Rupp und der sein Lebtag den mitmenschlichen Ausgleich propagierende Oberelsässer Albert Schweitzer auslösten.

Deren Kritik am zeitgenössischen Orgelbau über das Exempel historischer Instrumente beruhte nun keineswegs auf philologischer Forschung, sondern vielmehr auf subjektiven, oftmals denkbar klitterhaften Vorstellungen vom historischen Instrument als Werkzeug des eigenen "Musik-Machens". Beide suchten also nach "ihrer Orgel" nicht aber danach, was eine "Silbermann-Orgel" war. Diese historisch wenig differenzierte "Methode" erregte bereits zeitgenössischen Widerspruch (A. Geßner und M. Allihn), der aber den Bau einiger neuer (vor allem großer) Instrumente nach den auf Schweitzer und Rupp gründenden elsässischen Kompromiss-"Prinzipien" nicht behinderte (z.B. Hamburg, St. Michaelis, Dortmund, Reinoldi- oder Mannheim, Christuskirche).

Anmerkung meinerseits: Eine Interessante Buchlektüre mit den behandelten Zwischenthemen der "Deutschen Orgelbewegung"

© tydecks.info 2006 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum