Walter Tydecks

 

Jehan Alain: Drei Tänze (Trois danses)

- Freuden, Trauer (Sarabande), Kämpfe (1940)

Als ich diese Musik zum ersten Mal in einem Kirchenkonzert gehört hatte, klang danach alle Musik anders. Sie greift in das tiefste Gefüge der Musik, aber sie wirkt sicher nur, wenn sie auf Gegenliebe trifft. Alain schrieb in der Widmung eines anderen Stückes ("Le Jardin suspendu") an Madame Evain:

"Ich verlange nicht, daß man den Aufbau eines meiner Werke bewundert. Ich wäre sogar traurig, wenn es nur das gäbe ... Ich frage einfach: Berührt Sie das, gefällt Ihnen das instinktiv, ohne nachzudenken, einfach so, weil Sie es eben so mögen, ohne Grund ... weil Sie etwas von sich selbst darin wiederfinden." (Brief vom 22.12.1934)

Jehan Alain als Zeichner: GoogleBilder;

Biographisches und Entstehung

Der Vater Albert Alain (1880 - 1971) war Organist, Orgelbauer und Komponist und hatte u.a. private Studien bei Vierne. Jehan lebte 1911 - 1940. Die nächste Schwester Marie-Odile (1914 - 1937) starb bei einem Unglück auf einer Bergtour. Marie-Claire wurde 1926 geboren. Jehan heiratete 1935 Madeleine Payan (1912-1975). Sie hatten 3 Kinder Lise (geb. 1936), Agnes (geb. 1938) und Denis (geb. 1939). Jehan studierte 10 Jahre von 1929 - 1939, unterbrochen vom Militärdienst 1933-34. Dort spielte er Saxophon in einer Militärkapelle. Um seine Familie zu unterhalten verdiente er sich Geld mit Klavierunterricht und Organistentätigkeit an kleineren Kirchen. Nur wenige Monate nach Ende seines Studiums wurde er 1939 für den Kriegsdienst mobilisiert. Anfangs war es noch sehr ruhig und er hatte viel Zeit zum Komponieren. Das änderte sich schlagartig im Mai 1940, und er fiel bereits im Juni 1940, erschossen bei der Dienstfahrt in der Nähe von Saumur auf seinem Militärmotorrad. Wie durch ein Wunder haben die Drei Tänze "überlebt." Schon 1937 hatte er den zweiten Satz begonnen, als er vom Tod der Schwester erfuhr. Ursprünglich als Sarabande geplant, gab er ihm jetzt den Titel "Danse funèbre pour honorer une mémoire héroique", in bewusster Abwandlung der berühmten Marche funébre der Musikgeschichte.

Er arbeitete bis 1940 an den "Trois Danses". Sie waren für Orchester gedacht. Der zweite Satz liegt in einer Kammermusik-Fassung für Quintett, Orgel und Pauken vor, alle Sätze für Orgel. Die Orchesterfassung war möglicherweise in der frühen Phase des Kriegsdienstes abgeschlossen, ist aber in den Kriegswirren verloren gegangen. Alain hatte im April 1940 im Radio ein Orgelkonzert von Noelie Perront gehört, in dem sie Stücke von Bach und ihm spielte. Das hatte ihm so gefallen, dass er ihr vom Kriegsdienst aus die Orgelfassung schickte.

Zum Werk

Während seines 10-jährigen Studiums hatte Alain mit großem Interesse alle Diskussionen über eine Erneuerung der französischen Musik miterlebt. Frankreich suchte als "lateinisches" Land seine Ursprünge sowohl in der antiken griechischen Musik wie in der Gregorianik der großen gotischen Dome und natürlich den Meisterwerken des Barock (die Wahl einer Sarabande ist kein Zufall). War hier ein fester Grund gefunden, dann fühlte es sich fähig, in offenen Kontakt mit den verschiedensten Kulturen der Welt zu kommen, die seinerzeit bekannt wurden. Natürlich ist auch Alains Interesse an der zeitgenössischen Musik in Paris zu erkennen, den Impressionismus und Erik Satie.

Im Tonmaterial greift er bisweilen auf den Nahen Osten zurück, der ehijjaji-Skala (auch Zigeunertonleiter genannt) und der indischen Maya-Malavagaula-Skala. Ein Musikwissenschaftler (Wilhelm Hafner "Das Orgelwerk von Jehan Alain") stellt die Stilmittel zusammen:

"Rhythmische Subtilität aber auch Bizarrheit, monophone bis komplexe Satzgestaltung, blockartige Phrasenbauweise, Repetition, Obstinatotechnik, Verwendung des Tritonus als konstruktives Intervall, Entfaltung verschiedener, den Messian'schen Modi verwandter Skalen, Isorhythmik und -melodik, Ansätze zu polyrhythmischer und -tonaler Gestaltungsweise und serieller Technik." (S. 343)

Das mag - so hingeschrieben - überfrachtet und akademisch klingen. Aber von dem Stück geht ein vollkommen eigener Charakter aus. Am besten trifft das wohl der französische Ausdruck obsession (Besessenheit).

Unterstützt Orgelmusik sonst den Kirchengesang und lässt in der freien Gestaltung den Raum klingen und strahlen, getragen von der jahrhundertelangen Überlieferung des Gottesdienst, so sucht der ebenfalls tief religiöse Alain umgekehrt in seiner Verzweiflung Zuflucht an der geliebten Orgel: Wie wird sie auf seine Gefühle reagieren, was kann sie ihm sagen. Ich kenne kaum eine andere Musik, die konsequenter solch ein Hineinhorchen in den Raum zeigt, statt ihn gestalten zu wollen. Die Sarabande sucht in den einleitenden Takten den Klang der Kirche, wiederholt siebenmal in unterschiedlicher Dynamik das Thema, über Ruhepunkte hinweg, wie sie sonst nur von Bruckner bekannt sind, bis aus der Mitte des Raums der Klang unendlicher Trauer aufscheint und einen langsamen Rhythmus zum Schwingen kommen läßt. In unbeschreiblicher Kraft bis zum ausgespielten fff wird die Resonanz des gewaltigen Kirchengebäudes berührt, das bis in die Wurzeln getroffen scheint. Ein würdiges Abbild der früh-mittelalterlichen Maße, nach denen die großen Baumeister die gotischen Dome errichtet haben.

© tydecks.info 2006 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum, September 2005