Walter Tydecks

 

Pierre Henrys Zerstörung der Musik Bruckners, um ihren konkreten Gehalt zu gewinnen

- Pierre Henry "Comme une symphonie, envoi à Jules Vernes" (2005)

Pierre Henry, geboren 1927, war mit Pierre Schaeffer Gründer der musique concrète und gilt heute als Großvater der Technomusik. Er begann als Paukist und Schlagzeuger, wurde von Nadja Boulanger am Klavier ausgebildet, seinem Lieblingsinstrument, und war einer der Schüler von Messiaen. Seit 1950 baute er sich ein umfangreiches Geräusch-Archiv auf. In den 1970ern begann er ein monumentales, ständig im Wachsen begriffenes Werk, in dem er alle Klänge der Musikgeschichte und Eindrücke aus der Literatur sammeln will. Hierzu gehört auch die 2005 uraufgeführte "Comme une symphonie, envoi à Jules Vernes". Henry erläutert, dass er seit seiner Kindheit in den Romanen von Jules Vernes wie in einer eigenen Welt gelebt hat. Und ähnlich ist es ihm auch mit Bruckner gegangen.

Henry

Pierre Henry,
Urheber: Von jean-christophe windland - Eigenes Werk, CC BY 3.0, Link

Konkrete Musik, das ist nicht nur eine Reduktion der Musik auf die Geräusche, die ständig im Alltag zu hören sind, sondern ein philosophisches, ja theologisches Programm. Für Henry ist die Kraft des Absoluten, das früher alle Religionen getragen hatte, verloren gegangen. Und mit ihr die Kraft aller absoluten Ideen, wie Mathematik oder Harmonie. Schon 1950 hatte er programmatisch erklärt:

"Wir müssen die Musik zerstören. Musik im Sinne einer HARMONIE DER SPHÄREN entspricht unseren Vorstellungen nicht mehr. Ebenso wie sich das Sakrale aus dem Absoluten in das Leben selbst hineinbewegt hat, muß die Musik sich aus der musikalischen Kunst in den Bereich der sakralen Angst bewegen." (zitiert nach Rudolf Frisius)

Er will "die Harmonie, die Komposition, die Regeln, die Zahlen, de(n) mathematische(n) Aspekt" aus dem Zusammenhang des Absoluten reißen und stattdessen mit dem Konkreten beginnen. Das sind sowohl alle Geräusche, denen das Ohr ausgesetzt ist, wie alle Ängste, die mit diesen Geräuschen verbunden werden und bei ihrer Wahrnehmung eine innere Spannung hervorrufen, z.B. eine Abwehr- oder Angriffshaltung. Musik kann nicht mehr voller Innigkeit erlebt werden. Es ist nicht mehr möglich, beim Musikhören der normalen Zeit zu entrinnen und eine "erfüllte Zeit" zu erleben, sondern die Alltagsgeräusche bleiben immer präsent. Die industrielle Welt stellt völlig neue Anforderungen an die Wahrnehmungsfähigkeit, bis diese sich notgedrungen anpasst. Pierre Henry will die klassische Musik zerstören, die der neuen Wahrnehmungsfähigkeit nicht mehr gerecht wird, und an ihre Stelle eine neue setzen.

Solche Ideen haben Pierre Henry einerseits in ein ähnlich abgehobenes und überheblich wirkendes Abseits gedrängt wie Stockhausen. Zugleich erlebte er bei der intensiven Arbeit in seinen Akustikstudios die Realität der modernen Arbeitswelt, wie sie etwa in Rechenzentren, Messwarten oder Forschungseinrichtungen vorzufinden ist. Das erzeugt eine ausgeprägte Reizarmut, die wiederum zu einem überspannten Hunger nach Konkretheit und "anfassbarer" Sinnlichkeit führt. Henry unterscheidet sich von Stockhausen, wenn er sich nicht in einer elitären, auf neue Art absoluten Position fühlt, sondern sich der Gefährdetheit seines Werks bewusst ist. In einem Selbstporträt brachte er es mit einiger Ironie auf die Formel: "Ich lebe in einer hermetisch abgeschlossenen Welt, in der es nichts als meine Musik gibt."

Damit sind sehr viele und ganz unterschiedliche Bezugspunkte zu Bruckner gegeben. In dem 40 Minuten dauernden Stück werden zunächst 11 Minuten lang die verschiedensten Geräusche vorgestellt, die dann mit Bruckner-Schnipseln wie in einer dadaistischen Bildmontage überlagert werden. Von Bruckner hat Henry aus allen Sinfonien solche Stellen ausgewählt, die im Gedächtnis hängen bleiben, markante Steigerungen, bewegte Ostinati, Ruhepunkte in den langsamen Sätzen. Die werden mit den von der Techno-Musik bekannten Methoden in einzelne Elemente zerlegt, wiederholt, vor- und zurückgespult.

Jules Verne kenne ich zu wenig, um Henrys Anspielungen zu verstehen. Aber bei Bruckner gibt es sicher Anknüpfungspunkte. Bruckner selbst hat sein Leben lang ständig frühere Sinfonien neu bearbeitet, so dass ihm alle Melodien und Entwicklungen immer gegenwärtig waren. Bedeutende Werke wie die 3. Sinfonie sind in der Unabgeschlossenheit der verschiedenen Entwürfe und Umarbeitungen im Grunde Fragment geblieben. Und seine Musik kann in gewisser Weise süchtig machen, sie kommt beim Anhören nie an ein Ende. Es gibt viele Hörer, die alle Aufnahmen sammeln und laufend "Bruckner hören" können. In Heidelberg gab es mal ein Projekt, als eine ganze Nacht hindurch vierhändig auf Klavier alle Sinfonien von Bruckner hintereinander gespielt wurden. Offenbar ist in der Musik von Bruckner ein bestimmter durchgehender Rhythmus, eine gewisse Musikhaltung angelegt, die dazu anregt. Das lässt sich kaum in Worte fassen und dafür gibt es wohl kaum musikwissenschaftliche Kriterien, jedenfalls sind sie mir nicht bekannt. Julia Kristeva schrieb jedoch auf ähnliche Weise in ihrem Buch über die "Revolution der poetischen Sprache" (Suhrkamp-Verlag Frankfurt, 1978) vom "Gesang unter dem Text" (ein Ausdruck von Mallarmé) und der "'Musik' in den Buchstaben" (Kristeva, S. 41, 72). Henry hat es unternommen, mithilfe seiner eigenen musikalischen Intuition diese Ebene zu treffen, die sich durch alle Bruckner-Sinfonie hindurchzieht.

Bruckner hat sich an die überlieferten Formen einer "absoluten Musik", etwa Kontrapunktik, Harmonie, Tonarten, Sonatenform gehalten. Doch beginnen sie sowohl auseinanderzufallen, was ihm als das Chaotische und Ausufernde seiner Werke vorgeworfen wurde, wie sie auch durch die ständige Wiederholung in den verschiedenen Werken etwas Beliebiges, Schemenhaftes bekommen können. Bruckners Zählmanie ist bekannt. Genau das will Henry zeigen, wenn er Fragmente aus verschiedenen Werken über- und ineinanderlagert, so dass in gewisser Weise alles zu allem passt. Wird auf diese Weise das "Absolute" leer, dann klingt vielleicht aus dem Innern Bruckners eigenes Gefühl hervor, das ihn "konkret" veranlasst hat, so zu komponieren. Dies ist der Grundklang, der "Text unter dem Gesang" (um den Ausdruck von Mallarmé für die Musik umzukehren), der sich durch alle Sinfonien Bruckners zieht, den Pierre Henry gewinnen will.

Beim Hören stellt sich allerdings schnell eine innere Abwehr ein und soll wohl auch erzeugt werden. Die vielen Nebengeräusche stören, und wer hat es noch nicht erlebt, wie er zuhause eine Bruckner-Sinfonie hörte, als von draußen Heimwerker- oder Rasenmäher-Geräusche hineindrangen. Henry hat die Geräusche so komponiert, dass das Ohr viel hellhöriger darauf reagiert, während es im normalen Alltag eine Verteidigungs- und Abwehrstrategie entwickelt hat, alle solche Geräusche zu verdrängen, und zugleich aufmerksam auf drohende Gefahren zu bleiben. Da summt der PC, Fenster klappern, die Heizung springt an oder aus, Autos sind zu hören, Telefone klingeln, und wenn es ganz schlimm kommt, "spinnt" die Hifi-Anlage und erzeugt Fehltöne. So lässt Henry nicht einfach Musik klingen, sondern die ganze Situation des heutigen Hörers, dem fast keine Ruhe und innere Besinnung mehr gelassen wird.

Oder kann umgekehrt die Musik von Bruckner eine Therapie in einer solchen Reizüberflutung und ständigen Über-Aufmerksamkeit sein?

Zugleich hat das Stück von Henry etwas Beklemmendes und Vergebliches. Aus keiner Bruckner-Sinfonie wird zusammenhängend eine vollständige musikalische Entwicklung vorgestellt. Ständig drängen sich Fetzen aus anderen Sinfonien hinein oder werden einzelne Elemente wiederholt, brechen ab, schlagen um. Möglicherweise wollte Henry damit auch die psychische Situation von Bruckner beschreiben, wobei es Bruckner mit seinen musikalischen Fähigkeiten gegeben war, diese Situation in Musik zu gestalten, auch wenn er persönlich immer wieder von schweren Depressionen heimgesucht war. Aber so ist es ihm gelungen, etwas zu gestalten, worunter viele leiden, die dann in seiner Musik Trost und Ausgleich finden können.

Der letzte Teil fällt wieder in die Geräuschwelt zurück. Doch nicht ganz. Einige wenige Male sind einzelne harmonisch zusammenklingende Töne zu hören, und das Ohr erinnert sich an die Bruckner-Fragmente und erzeugt eine innere Erwartung, dass nun wieder einzelne Bruckner-Melodiebruchstücke folgen. Das tritt nicht ein, aber Henry hat den frühesten Anfangszustand getroffen, bevor Musik entsteht. Dazu war er sicher durch die Anfänge der Bruckner-Sinfonien angeregt (letztlich die ersten Takte der 9. Sinfonie von Beethoven), und hat sie nochmals zu unterbieten versucht.

Wird dieses Stück ganz unbefangen gehört, klingt es so, als sollte der Untergang der Musik gestaltet werden, als hätte sich jemand daran gesetzt, bewusst eine "Zerstörungs-Musik" zu schreiben. Das ist die pessimistischste Deutung dieses Werks. Wo ist die Grenze, etwas Schreckliches darzustellen, oder einfach eine schreckliche Musik zu komponieren, ja fast einen ästhetischen Reiz am Grausamen zu empfinden?

Das Stück löst unterschiedlichste Gefühle aus. Es kommt noch hinzu, dass es bisweilen sehr technikverliebt klingt, einen eigenen Glanz von technischer Virtuosität herstellen will, der leer und oberflächlich wird. Henry ist nicht ganz frei davon, aktuellen Modetrends hinterher zu laufen. Dort ist seine Distanz zu Bruckner sicher am größten. Volker Lüke hatte am 27.1.2008 nach einem Henry-Konzert in der ausverkauften "Volksbühne" im Berliner "Tagesspiegel" kritisiert, dass sich hier "gestapelte Töne" nicht zu einem "großen" Ton vereinen, sondern die Musik zum bloßen Event für ein Publikum wurde, dass wenigstens einmal den legendären, 80 Jahre alt gewordenen Urvater des Techno erleben wollte und anschließend in die Discotheken mit ihrer längst weiter entwickelten Technik zog ( Link ).

Patrick hatte über dieses Stück geschrieben:

"Was hat dieses aber nun mit dem Thema dieses Threads - nämlich Bruckners IX. Finale - zu tun? Ziemlich viel, wie mir scheint! Da manche Vertreter der sogenannten 'Moderne' (Penderecki; Milhaud; Henry; Georges Lentz; Rautavaara; ...), nach diversen meistens wichtigen Explorationen 'Richtung Neuland', ein Bedürfnis verspüren sich Bruckner (oder einem anderen wichtigen Vorgänger) hinzuwenden, scheint es mir offensichtlich, dass Bruckner uns noch nicht Alles gesagt hat, was er uns hätte sagen können und/oder wollen. Deshalb auch diese Sehnsucht nach dem Finale... Einem richtigen, vollständigen Finale. Und zwar von Bruckner selbst!"

Henry hat seine Arbeiten als "alchemistisch" bezeichnet (Quelle). Im alchemistischen Opus wird etwas völlig zerstört (nigredo), um seine innere Idee entdecken (albedo), neu aufleuchen lassen (citrinitas) und zum Leben erwecken zu können (rubedo). Wenn das nicht gelingen will, hilft vielleicht nachzufragen, wie der Meister vorgegangen ist. Und das führt zu Bruckners 9. Sinfonie. Hat dort nicht bereits Bruckner das musikalische Material immer weiter zerstört und ist hierbei in den erhaltenen ersten Teilen des Finale am weitesten gegangen? Mit welcher Kraft hätte er es dann vollenden können? Und wenn er das selbst nicht hat abschließen können, enthält dann möglicherweise das überlieferte Material die Kraft, die denjenigen beseelt, der tief und lange genug dort eindringt und sich von ihm anregen läßt?

Ich kann dem Gedanken von Patrick sehr gut folgen und möchte noch einen Schritt weiter gehen. Es besteht nicht nur die Sehnsucht nach "einem richtigen, vollständigen Finale", sondern darüber hinaus die Sehnsucht nach Fragmenten, die so hinterlassen sind, dass sie selbst nach dem Tod Bruckners die innere Kraft zur Vollendbarkeit haben. In einer Zeit, in der das Subjekt die eigene schöpferische Kraft verlieren sieht, sucht es nach Texten, in denen diese Kraft bewahrt ist, nach Fragmenten, die aus sich heraus die fehlende Einheit herzustellen drängen. Und wird dann weiter - wie Bruckner selbst es tat - alles Vorangegangene aus den früheren Sinfonien vergegenwärtigt und fortgesponnen, entsteht etwas Neues.

Wenn Henry das überlieferte Gesamtwerk von Bruckner auf eine unterliegende Schicht durchforscht hat und diese zum Klingen bringen will, macht er bewusst, was auch die "Vollender" des Finale wollen: einen inneren Bewegungskeim in Bruckners Notentexten fassen und zum Klingen bringen zu können. Je mehr sich das Subjekt in den Texten unterschiedlichster Art entäußert, desto mehr sucht es in den vorgefundenen Texten eine verborgene Kraft und letztlich das Göttliche, das nun nicht mehr absolut über den Texten steht und dem Subjekt Kreativität einhaucht, nach seinem Ebenbild neue Werke zu schaffen, sondern konkret in den Texten verborgen ist und dort auf sein Erkanntwerden wartet.

Statt um Kreativität geht es um Wahrnehmungsfähigkeit. Henry hatte eins seiner frühesten Werke provokativ "Das wohltemperierte Mikrophon" genannt. Vielleicht entwickelt sich aus der ungemütlichen, "unbehausten" Lage zwischen technischen Signalen, unendlich vielen Geräuschen, die alle beliebig oder gefährlich sein können, die zunächst alle gleichwertig sind und keiner vorgegebenen Harmonie oder überlieferten Ritualen folgen, die Fähigkeit, auf ganz ungewohnte Weise eine konkrete Musik finden zu können. Und möglicherweise ist Bruckner bereits einen Stück dieses Wegs gegangen.

Einen ganz anderen Weg hat Herman Nitsch in seinem 2007 in St. Florian uraufgeführten Orgelstück "Für Anton Bruckner" gewiesen. Beide Stücke zeigen unterschiedliche Extreme, wie heute auf das Werk von Bruckner reagiert werden kann.

Pierre Henry "Comme une symphonie, envoi à Jules Vernes" ist enthalten in "Pierre Henry 8.0" (Philips 4800289 LC 0305, erschienen 2007)

© tydecks.info 2008 - Erstveröffentlichung im Anton Bruckner Klassikforum, Mai 2008