Walter Tydecks

 

Hypnos - Images et inconscients en Europe (1900 - 1949), Lille 2009

Im Schatten der flämischen Städte Antwerpen, Gent und Brugge liegt Lille. Keine Kutschen stehen für Touristen bereit. Auf den Straßen ein endloser Strom von Autos, die überwiegend das lokale Kennzeichen "59" tragen. Kein Gold auf den Dächern und keine Prunkbauten. Kaum ein Haus ist renoviert, überall bröckelt der Putz. Das erinnert sehr an Berlin und manche ostdeutschen Städte vor 1989. Und doch ist das Stadtbild ungewöhnlich geschlossen und gut erhalten. Die mächtige Zitadelle ist umgebaut in einen Park mit großen Kinderspielplätzen und einen liebevoll gestalteten Zoo bei freiem Eintritt; an einem sonnigen Frühlingsmorgen stehen Schulklassen und Kindergärten lachend vor einem großen Käfig, aus dem ein Kookaburra sie unterhält: Eine Stadt ganz nach meinem Geschmack. Sie führt gewissermaßen an den Nullpunkt zurück, an dem Europa 1945 stand. Sie hat sich ihre eigene Küche bewahrt und den eigenen Dialekt, die Straßen sind voller Leben, in den Kneipen die besten Biersorten. "Willkommen bei den Sch'tis." Durch 'Fairys' Berichte dürfte ihre kulturelle Wachheit dem Forum gut bekannt sein.

Ludwig XIV trennte das frühere Rijsel endgültig von seiner flämischen Nachbarschaft. So gingen die Blüte der Kunst des 19. Jahrhunderts und der Symbolismus ein wenig an Lille vorbei.

Die Stadt sucht jetzt im neuen Europa ihren eigenen Platz und zeigt sich bestens inspiriert. Das Musée de l'Hospice Comtesse bringt bis zum 12. Juli 2009 die Ausstellung "Hypnos - Images et inconscients en Europe (1900 - 1949)" ( Link ). Hypnos, der griechische Gott des Schlafes, steht für eine dunkle Seite Europas, die sonst meist nur in Bruchstücken zu sehen ist. Hier wurden in Zusammenarbeit mit zahlreichen Museen Bilder, Zeichnungen, Filmausschnitte und Fotos gesammelt, die teilweise bereits in Vergessenheit zu geraten drohten und nur im kollektiven Unterbewußtsein präsent blieben. Das Musée d'art moderne Lille Métropole wirbt für die Ausstellung mit einem Foto von Man Ray, das Luisa Casati (1881-1957) zeigt:

Das Foto ist auf verschiedenen Seiten verfügbar, siehe GoogleBilder.

Dies Foto zeigt auch das Konzept der Ausstellung. Was früher den Menschen in Momenten religiöser Ekstase überkam - Katalog und Bilder erinnern an Orphismus und Dionysos -, dann als Besessenheit verfolgt wurde, erscheint heute in einer Vielfalt von Symptomen, die sich medizinisch beschreiben, aber zu keinem geschlossenen Krankheitsbild zusammenschließen lassen. In bedrängenden Wiederholungen erlebt jeder für sich Gefühle der Angst, Verfremdung, den Bruch mit der gewöhnlichen normierten Wahrnehmung, und fühlt sich dafür verantwortlich und zugleich überfordert. Je größer der Zwang auf eine angepasste Bilderwelt der Präsentation und Selbst-Präsentation wird, desto unvermittelter können das innere und äußere Bild auseinanderfallen.

Eine verwirrende Fülle der eigenartigsten Bilder und Sichtweisen, der verschiedensten intellektuellen Strömungen und Standortsuchen zu ihrer Klärung stehen nebeneinander und sollen den Besucher anregen, die eigene scheinbare Sicherheit infrage zu stellen.

Wenn es in der Ausstellung einen durchgehenden Faden gibt, dann ist es die Suche nach einem dritten Zustand zwischen Wachsein und Schlaf, Bewußtsein und Traum. Es werden die verborgenen Orte gesucht, an denen das bewußte Leben etwas mitnimmt und an den Schlaf weiter gibt, und wo umgekehrt aus trance-artigen Gefühlen des Wirklichkeitsverlusts neue Sichtweisen entstehen. Die Künstler versuchen die Bilder und Schemen festzuhalten, die im Moment des Verschwindens und Wiederauftauchens des Bewußtseins stehen bleiben und im weiteren wie eine Hintergrundstruktur die Zustände des Schlafes bzw. Wachbewußtseins unterlegen. In ihnen mischen sich persönliche Anteile und überindividuelle Einflüsse. Statt vorschnell nach Erklärungen zu suchen, sollen diese Figuren und Artikulationen aufgeschrieben werden und für sich wirken. Die Vertreter dieser Richtung wollen sich sowohl unterscheiden von den Bildern der surrealen Traumwelten wie der psychoanalytischen Theorie der "Traumarbeit" durch Freud und dessen Schule (Verschiebung, Verdichtung, Versuchung, Traumlogik). Das ist ein anspruchsvolles Programm, das 1949 liegen bleiben mußte.

Die Ausstellung verfolgt zugleich ein politisches Ziel. Sie will zur Überwindung der Ost-West-Trennung Europas beitragen und erinnert an die früheren engen Beziehungen zwischen Paris und Prag, an die ungarische Kunst, ganz allgemein an die magischen Überlieferungen des Ostens, ohne die Westeuropa seelenlos zu werden droht. Das alles war nach einer scheinbaren weltweiten Einheit im Sieg gegen den Faschismus durch den Kalten Krieg unterbrochen worden und hatte im Westen wie im Osten Europa daran gehindert, den eigenen Weg weiterzugehen. Die 1900 - 1949 aufgeworfenen Fragen sind offen geblieben.

Leider sind keine Bezüge zur Musik angesprochen. Die Ausstellung beginnt mit Fotografien des modernen Spiritismus. Als es nicht gelungen war, Erscheinungen wie den Mesmerismus wissenschaftlich zu erklären, sollten die neu auftretenden spirituellen Phänomene wenigstens fotografisch dokumentiert und damit als wissenschaftlich nachweisbare Ereignisse festgehalten werden. Sie breiteten sich seit den ersten Geistererscheinungen der amerikanischen Schwestern Fox 1848 (Klopfgeräusche, Tischerücken) auch in Europa wie ein Lauffeuer aus. Robert Schumann war sehr empfänglich dafür, was ihm lange als "Beweis" seines ausbrechenden Wahnsinns angelastet wurde. Jetzt bekommen aber mit großer Verzögerung seine späten Werke in der Musikwissenschaft die angemessene Anerkennung, in denen er versucht hatte, entsprechend seiner veränderten Wahrnehmungsfähigkeit zu komponieren.

Alexander Scriabin kam während seiner Zeit in Brüssel 1909-10 mit dem belgischen Maler und Theosophen Jean Delville in Kontakt und ließ sich stark von dieser Bewegung beeinflussen. (Über die Universität Leuven und ihre von deutschen Soldaten 1914 zerstörte Bibliothek ließen sich weitere Bezüge bis zu John Dee, dem "Erzmagier" und dessen Beziehungen zum Hof Rudolf II in Prag herstellen.) Weniger bekannt ist der litauische Komponist und Maler Ciurlionis.

Zurecht ist ein großes Kapitel der Ausstellung dem tschechischen Maler František Kupka gewidmet. Von ihm gibt es Bilder, die direkt hinüberreichen in musikalische Visionen.

Kupka

František Kupka (1871-1957) Amorpha, Fugue en deux couleurs (Fugue in Two Colors), Narodni Galerie.
Urheber: PD-US, Link

Für mein Empfinden hat kein anderer den Klang der Images et inconscients en Europe (1900 - 1949) so gut getroffen wie der französische Organist Jehan Alain, dessen Werke in den 1930ern entstanden.

© tydecks.info 2009 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum, April 2009