Walter Tydecks

 

Jean Philippe Rameau: La Rappel des Oiseaux (1724)

Wo ist am besten zu beginnen, um die neuere Geschichte der französischen Musik zu verstehen: bei der Mehrstimmigkeit von Leonin und Perotin, mit der die Musik der europäischen Neuzeit begonnen wurde, der Französischen Revolution, den Salons in Paris um 1830, Debussys "La Mer" oder erst Messiaen? Mir scheint Rameau der beste Ausgangspunkt, als die Aufklärung auf der Höhe ihrer Zeit war.

Obwohl nur wenige Minuten lang, hat es dieses Stück in sich. "La Rappel des Oiseaux": da ist ein Geschrei der Vögel zu hören, mal ganz sanft gespielt, wenn die Vögel trösten, dann in einer Aufgeregtheit, die schier in den Wahnsinn treiben kann. Ich kenne es jetzt in vier verschiedenen Interpretationen, die nicht unterschiedlicher sein könnten (Cziffra, Guller, Pinnock, Barto).

Dies Stück hat wie kein anderes den Nerv der französischen Musik getroffen. Es enthält schon alles, was dann bis zu Debussy, Ravel, Messiaen und Boulez reicht. Die Angst des modernen Menschen, vor lauter Erkenntnis und Kunst die Seele zu verlieren, deren Symbol immer die Vögel waren. Niemand gelingt es besser als Yura Guller, der Entmaterialisierung der Klänge zu folgen und dort ihre Sehnsucht ausgedrückt zu finden. Im anderen Extrem Cziffra, bei dem das Geschrei der Vögel klingt wie auf Stahlseiten gezogen, katastrophisch. Das erinnert weniger an die "Vögel" bei Hitchcock, sondern an die Vögel in Sophokles "Antigone", die nach dem Fraß von der Leiche des öffentlich hingeworfenen Polyneikes wie irre durch die Luft fliegen und den Seher Teiresias aufschrecken.

Rameau hat mit seiner konsequenten Lehre der Obertonreihe die gültige Basis der neuzeitlichen Musik geschaffen und sie gegenüber der griechischen, pythagoreischen Tradition unabhängig gemacht. Aufklärer wie Voltaire und die französischen Enzyklopädisten waren begeistert. Und doch fiel noch in sein Leben die Wende hin zur französischen Revolution, als sein Stil bereits überladen und höfisch wirkte und daher zunehmend kritisch aufgenommen wurde.

Die "Rappel des Oiseaux" zeigen ihn auf der Höhe seiner Kunst. Es gehört zum zweiten Zyklus, den "Pièces des Clavecin" (Über die Fingertechnik beim Cembalospiel) von 1724.

Ich möchte an dieser Stelle die Neuerscheinung von Tzimon Barto empfehlen. Bisher war ich von seinen Interpretationen nicht besonders begeistert, aber hier ist ihm eine wunderbare Aufnahme gelungen. Unverkennbar, wie sehr ihn die Musik von Rameau anspricht und er dies in seinem Spiel gestalten will. Gleich das erste "Prélude" zeigt, wie wenig abstrakt die reine Mathematik der Obertöne klingen kann, wenn sie genial in Töne gesetzt ist. Und so hält die CD noch zahlreiche andere Entdeckungen bereit.

© tydecks.info 2006 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum März 2006