Diese Sonate ist ein ähnliches Kleinod unendlich vielfältiger Anspielungen und Entdeckungen wie das kleine Haus, das sich Ravel zur gleichen Zeit in der Nähe von Paris einzurichten begann:
Ravels Haus 'Le Belvédère' in Montfort bei Paris, wo er seit 1921 lebte;
Urheber: Par Henry Salomé (Jaser !) 08:17, 21 November 2006 (UTC) - Cliché personnel, own work, CC BY-SA 3.0, Lien
Während das Trio a-Moll 1914 das "impressionistische Jahrzehnt" Ravels abschloss, markiert die Duosonate 1920-22 den Wendepunkt zu den Werken der Spätphase bis 1932. Sie ist Claude Debussy gewidmet, der 1918 nach einem schweren Krebsleiden gestorben war. Der Ton hat sich gegenüber dem Trio deutlich geändert und ist zugleich melancholischer und motorischer geworden. So etwas war nur Ravel möglich.
Er war schon immer an fremden Klängen interessiert, zuerst an der spanischen und baskischen Musik, der Heimat seiner Mutter. Und nicht von ungefähr nannte sich der Freundeskreis seiner jungen Jahre "die Apachen". Vom Lebensgefühl kamen ihm in der späteren Phase jedoch der Jazz und die Zigeunermusik stärker entgegen.
Diese Einflüsse werden kunstvoll verbunden mit Techniken der Klassik (Sonatenform), aber auch neuen Einflüsse wie die 1911 erschienene Harmonielehre von Schönberg, den er 1920 in Wien besuchte. Das alles lohnt es genauer zu studieren. Als Literatur kann ich empfehlen Walter Pfann "Zur Sonatengestaltung im Spätwerk Maurice Ravels (1920-1932)", Regensburg 1991, und ich will versuchen, in wenigen Worten einige Hauptpunkte wiederzugeben.
Die erste Überraschung liegt aber auf anderem Gebiet: Für den "Geist" des Werks gelten Edgar Allan Poe und Mozart als Vorbilder.
Ravel nennt 1928 ausdrücklich Poes Essay "Philosophy of Composition" von 1846. Dort schreibt Poe:
"I select The Raven, as the most generally known. It is my design to render it manifest that no one point in its composition is referrible either to accident or intuition - that the work proceeded, step by step, to its completion with the precision and rigid consequence of a mathematical problem".
Ist der Gedanke einmal verstanden, fällt es wie Schuppen von den Augen: Poe und Ravel, da gibt es eine tiefe Übereinstimmung! Beide planen alles bis in die kleinsten Einzelheiten, begeistern sich für die absonderlichsten Details und lassen dennoch Werke entstehen, die wie aus reiner Improvisation entstanden scheinen. Mathematische Strenge und seelische Abgründe.
Für den 4. Satz nennt Ravel Mozarts Rondo für Klavier F-Dur KV 494 als Vorlage. Allerdings lassen sich im einzelnen keine "Zitate" oder direkten Parallelen nachweisen. Wie auch beim G-Dur Klavierkonzert, dessen langsamer Satz auf Mozart Bezug nimmt, gibt es wohl ebenfalls eher eine allgemein geistige Übereinstimmung.
Ich kann Walter Pfann sehr gut folgen, der aus einem Brief Mozarts an seinen Vater vom 28.12.1782 zitiert:
"Die Konzerte sind eben das Mittelding zwischen zu schwer und zu leicht - sind sehr brilliant - angenehm in die Ohren. - Natürlich, ohne in das Leere zu fallen - hie und da können auch Kenner allein Satisfaktion erhalten, doch so, daß die Nichtkenner damit zufrieden sein müssen, ohne zu wissen, warum."
Und genau das kann als Motto für Ravels Werke gelten.
Vom ersten Ton an ist unverkennbar Ravel zu hören, und doch klingt es seltsam. Die Kritik sprach nach der Uraufführung von einem "massacre", überall schienen falsche Noten zu stehen. Wie gelingt Ravel das?
Die Sonate wird von Anfang bis Ende von einem äußerst einfachen, kreisenden Motiv getragen, das jedoch zu schweben scheint in einer eigenartigen Mischung von Klassik, Jazz und Zigeunermusik. Das Motiv ist nichts weiter als ein aufsteigender Moll- und dann absteigender Dur-Dreiklang.
Durch die ständige Wiederholung entsteht der vom Jazz bekannte Ostinato-Eindruck. Dort ist es meistens der Bass, der eine sich wiederholende Grundlinie spielt, auf der dann die anderen Instrumente ihre freien Improvisationen entfalten können. Hier dagegen beginnt die Violine, und dann wechseln sich beide Instrumente in ihrer Rollenverteilung ständig ab, wodurch es von der ganzen Anlage viel freier wirkt als zahlreiche Jazz-Stücke. Durch die Unentschiedenheit zwischen Moll und Dur wird für den Höreindruck eine Bluesfärbung erzeugt, da der klassisch gewohnte Dominantklang ausbleibt.
Die größere Freiheit im Wechselspiel der beiden Instrumente wird kontrastiert von einem geradezu pulsierenden Öffnen und Schließen des Tonmaterials. Einige Takte sind rein pentatonisch, dann wird der Notenraum erweitert, später jedoch wiederum reduziert. Unvergleichlich die letzten Takte, als würde die kreisende Bewegung von Violine und Cello in die letzten Drehungen eines Brummkreisels ausklingen. Pfann zeigt Takt für Takt, wie Ravel alles zugleich streng den Regeln der Sonatenkunst folgen lässt als auch Schönbergs Prinzip der entwickelnden Variation. Ravel spielt mit den Grenzen der Tonalität, übernimmt allerdings nicht die freie Atonalität oder Zwölftontechnik. Von dem Spröden der Neuen Wiener Schule ist wirklich keine Spur, und doch ist bisweilen - einmal aufmerksam geworden - wirklich Schönberg zu hören!
Der zweite Satz kann einerseits als klassisches Scherzo gelten, andererseits treten die Jazz-Elemente und Einflüsse von Bartok deutlicher hervor. Das Motiv des ersten Satzes wird jetzt Pizzicato vorgetragen und alles erhält eine funkelnde Dynamik. Die Intensivierung erfolgt hier über die Metrik (Doubletime- und Halftime-Feel).
Im Dritten Satz sind die Techniken der Spätromantik aufgegriffen, sinfonische Dimensionen in kleiner Besetzung für Klavier, Trio oder Streichquartt zu erzielen, aber nochmals reduziert auf zwei Melodieinstrumente (Violine und Cello), Ravels "style dépouillé". Der letzte Satz lässt rondohaft alle bisher eingeführten Elemente vorbeiziehen und schließt wie Mozarts Rondo in ein Fugato. Als besonderes Merkmal kommen Zigeunertonleitern und Glissandi hinzu. Und doch bleibt das Gefühl, dass sich Ravel wieder geschickt in eine Welt voller Spiegel und Finessen entzogen hat, in schützender Distanz und Kälte.
© tydecks.info 2006 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum, Juli 2005