Walter Tydecks

 

Maurice Ravel: Konzert für die linke Hand (1929-30)

Ich kann nicht besser beginnen als mit den Worten von Gavrilov, der dieses Konzert 2004 in Osnabrück gespielt hat:

"Ravels Konzert für die linke Hand ist die Krone der gesamten Konzertliteratur. Das philosophische Niveau ist unerreicht, musikalisch und technisch ist es enorm stolz und nobel. Und es ist ein existenzialistisches Werk. Ich habe es immer gern gespielt, aber als grausam und dunkel empfunden. Vor kurzem, nach einem Konzert in Stockholm, habe ich dann herausgefunden, dass das Hauptthema eng mit dem 'Dies irae'-Motiv verwandt ist: Dieses Werk ist ein Totentanz. Aber es ist auch eine schöne Geschichte vom Tod, eine sehr süße, sehr jazzige. Ich finde, dieses Konzert muss mehr gelebt werden." (Neue Osnabrücker Zeitung, 2004)

Ravel und der Jazz: Ravel hat erstmals 1927 in seiner Violinsonate einen Blues komponiert. 1928 traf er in New York Gershwin, der ihm alle seine Stücke vorspielte. Dessen "Rhapsody in blue" war 1924 uraufgeführt worden, unter den begeisterten Zuhörer waren u.a. Heifetz, Kreisler, Godowski, Mengelberg, Rachmaninow, Stokowski, Strawinsky. Der Bolero entstand 1928 (die an anderer Stelle erwähnte Aufführung von 1930 ist also nicht die Uraufführung), das Konzert für die linke Hand 1929 - 30.

Hat sich Ravels Hirnerkrankung bereits ausgewirkt? Auch in Antwort an Franks Frage zum Bolero: Wie der Bolero ist dies Konzert durch seinen eignen Rhythmus, hier würde ich direkt sagen: seinen Herzschlag geprägt. Dies ist für mich in beiden Werken das Einzigartige, wodurch sich diese Kompositionen auszeichnen. Ich wage nicht zu beurteilen, ob er hier bereits von der Krankheit geprägt war, oder wie kaum ein anderer Komponist wahrnahm, was zu seiner Zeit vorging. Aber ich stelle mir am ehesten vor, dass es seine Zeit war, die er in diesen Stücken eingefangen hat und die ihn krank gemacht hat.

Paul Wittgenstein: Wie ich jetzt gesehen habe, schreibt Nubar im Thread über die schwierigsten Stücke, er habe es "viel zu spätromantisch, besser gesagt schwülstig und auch noch mit eigenen Verbesserungen gespielt". Im Internet fand ich ähnliche Hinweise, dass er es verändert, später jedoch immer mehr geliebt hat. Das in seinem Auftrag von Hindemith geschriebene Konzert hat er ganz abgelehnt. Es ist erst kürzlich in Berlin uraufgeführt worden! Jean Echenoz beschreibt in seinem Roman "Ravel" ausführlich die Konflikte zwischen Ravel und Wittgenstein.

Wittgenstein

Paul Wittgenstein (1887 - 1961), Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein, doch nicht zu verwechseln mit "Wittgensteins Neffen", den Thomas Bernhard porträtiert hat.
Urheber: Von Unbekannt - BFMI, CC BY 3.0 nl, Link

Nachtrag zu Mahler

Je öfter ich jetzt das Werk in verschiedenen Aufnahmen gehört habe, um so mehr festigt sich die Präferenz für die Einspielung durch Wittgenstein und Bruno Walter. Da stellte sich die Frage, ob das nicht auch am Werk liegt, es also Beziehungen zu Mahler gibt, und es scheint sie zu geben! Ravel konnte zwar nicht an dem legendären Konzert 1910 teilnehmen, als Mahler in Paris seine 2. Sinfonie dirigierte und Debussy und Dukas demonstrativ das Konzert verließen. Es gibt von ihm keine einzige Äußerung zu Mahler, weder positiv noch negativ.

Aber er war seit dem Studium bei Gabriel Fauré eng mit Alfredo Casella befreundet, der in Paris der Wegbereiter für Mahler war. 1920 fuhr er mit Casella nach Wien, um dort den La Valse in der Fassung für 2 Klaviere uraufzuführen. In Wien traf er Schönberg und wohnte bei Alma Mahler.

Die Anklänge an Mahler sind also kaum zufällig (gibt es bei Ravel überhaupt Zufälle?). Dies Werk entstand in den 1930er Jahren, als auch andere Komponisten stärker im Stil von Mahler zu komponieren begannen (Berg, Schostakowitsch). Das wurde dann im deutschsprachigen Raum unterbunden, als nach 1933 (bzw. in Österreich 1938) Mahler verboten wurde. Im Grunde ist es umgekehrt überraschend, wie lange Mahler noch nach 1945 in Deutschland und Österreich vergessen blieb und bis heute in den Klassikforen immer wieder die Meinung geäußert wird, Mahler sei erst dank Solti wieder entdeckt worden. Das gilt nur für den deutschsprachigen Bereich, sicher auch für Frankreich. Ravels Konzert für die linke Hand ist zweifellos in Frankreich eine überraschende Ausnahme, die nochmals zeigt, wie viel es bei Ravel zu entdecken gibt.

© tydecks.info 2006 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum im Juni 2005