Walter Tydecks

 

Maurice Ravel: Klaviertrio (1914) und der Film "Herz im Winter" - ein Gespräch

Thread von 'Cosima', eröffnet am 16.6.2005:

Ich habe gerade auf Arte einen frz. Film gesehen ("Ein Herz im Winter" – blöder Titel, aber schöner Film): Es ging um einen Geigenbauer, der sich in eine Violinistin verliebt, seine Gefühle aber nicht zeigen kann etc.

Diese Violinistin übte nun u.a. das Klaviertrio a-moll von Ravel ein. Mir gefielen diese kurzen Auszüge, weshalb ich Euch nach Empfehlungen für dieses Werk fragen möchte. Es existiert eine Aufnahme mit den Brüdern Capucon – vielleicht kennt sie jemand?

Zuschrift 18.6.2005

Hallo Cosima, dieser Film hat mir auch sehr gefallen. Interessant, wie souverän Du ihn in wenigen Worten zusammenfasst. Mich hat er sehr berührt und ich fand ein Problem dargestellt, das anzusprechen großen Mut bedeutet, ist es doch etwas, das sehr mit Scham verbunden ist. Vielleicht sehen Männer und Frauen diesen Film ganz verschieden (und bei der "Klavierspielerin" nach Jelinek mit Isabelle Huppert wird es genau umgekehrt sein).

Und ich kenne kaum einen Film, in dem die Musik so gut integriert ist. Als ich anschließend die Ravel-Stücke "pur" hörte, war ich fast ein wenig enttäuscht. Der Film hat auch meine Sicht auf Ravel geändert.

Als Interpret sollte auch Heifetz erwähnt werden. Ravel sollte in keiner Heifetz-Sammlung fehlen.

'Cosima' 18.6.2005

Hallo Walter, hallo allerseits, merkwürdig, dass Du das Wörtchen "souverän" gebrauchst. In der Tat habe ich den Film mit einer gewissen inneren Distanz angeschaut, vielleicht weil ich mich nicht so sehr berühren lassen wollte. Ich kann diese Scham (ich nehme an, dass Du die Scham der Violinistin meinst, die allen Stolz fallen ließ und sich quasi "anbiederte") nämlich sehr gut nachempfinden, weil ich selber einmal in ähnlicher Situation war: Man spürt mit jeder Faser seines Körpers, dass die Gefühle beim Gegenüber hinter haushohen Mauern brodeln, aber die distanzierte, "gefühlskalte" Fassade - errichtet zum Selbstschutz - wird niemals fallengelassen. Anziehung und Abstoßung sind die Folge, und dieses Schwanken zwischen den Polen und diese Unzugänglichkeit können zermürben und schließlich zu eigenen, ungewollten Gefühlsausbrüchen führen.

Bei der "Klavierspielerin" konnte ich diese Schamgefühle ebenso nachfühlen, jedoch mit anderen Konsequenzen: Die brutale, selbstzerstörerische und abstoßende Art und Weise, wie die Protagonistin sich aus ihrer Abhängigkeit zu befreien versucht, ruft ein wenig die Abscheu hervor, die auch ihren Klavierschüler später zu diversen Erniedrigungen hinreißen lässt.

Ja, das ist schon eine seltsame Sache mit den Gefühlen ... und um nicht ganz off-topic zu geraten: Mir schrieb einmal ein Mann, dass es verschiedene Perspektiven gäbe, aus denen man Musik betrachten könne - eine emotionale und eine rationale. Mir ist bis heute nicht ganz klar, wie man Musik rational wirklich erfassen kann.

Und wieder ganz zurück zum Thema: Ich habe gestern Abend bereits die Heifetz-Rubinstein-Aufnahme bestellt - welch Zufall! Weiterhin ist die Capucon-CD geordert. Sobald ich beide gehört habe, werde ich mich wieder zum Thema äußern.

Zunächst einmal herzlichen Dank für die Hinweise und Anregungen.

Antwort 19.6.2005

Hallo Cosima, dieser kleine Gedankenaustausch über das "Herz im Winter" hat es in sich. Vorweg muss ich sagen, dass ich den Film nicht kürzlich, sondern schon vor Jahren gesehen habe, mich also nicht mehr an Einzelheiten erinnern kann. Aber mit den Scham-Gefühlen meinte ich den Geigenbauer und seine Unfähigkeit, seine Gefühle zu zeigen, ein Verhalten, das sich kein Mann gern eingesteht. Wenn ich Deine Antwort lese, wird die Scham noch stärker, wie solches Verhalten die geliebte Frau dahin bringen kann, so unglücklich zu werden.

Es geht auch um die Frage, zwischen Arbeit und Liebe ein richtiges Verhältnis zu finden. Der Geigenbauer scheint Angst zu haben, dass eine Frau in seine geliebte Arbeitswelt einbricht und sie durcheinanderbringt.

Damit sind wir mitten in Ravels Trio. Er hat es 1914 bei einem Sommeraufenthalt gemeinsam mit seiner Mutter in Saint-Jean-de-Luz geschrieben, einem Badeort in der Nähe des baskischen Ciboure, seinem Geburtsort und der Heimat seiner Mutter. In der rororo-Monographie von Michael Stegemann ist davon ein Foto zu sehen.

Anschließend zog er in den Krieg, und als er zurück kam, war seine Mutter gestorben. Das Trio bildet also genau die Mitte von Ravels Werk und Leben. Er selbst hat es als "opus postumum" bezeichnet.

Und er hat gesagt: "Mein Trio ist fertig; es fehlen mir nur noch die Themen!" Das Gefühl des Fehlens empfinde ich als die innerste Aussage dieses Trios. Vielleicht kann es etwas verstehen helfen, wie ein solches Verhalten wie das des Geigenbauers möglich ist.

Übrigens kann ich sehr empfehlen, von Lermontov die Novelle "Ein Held unserer Zeit" zu lesen, dem die Geschichte dieses Films entnommen wurde.

'Cosima' 19.6.2005

Hallo Walter, seltsam: Ich ahnte, dass Du vorrangig den Geigenbauer meintest, als Du das Thema "Scham" ansprachst. So unterschiedlich sind die Perspektiven auf diesen Film.

© tydecks.info 2006 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum, Juni 2005