Walter Tydecks

 

Erik Satie: Parade (1915)

"Moderne Musik im Schmollwinkel", vonwegen: die moderne Musik liebt die Provokation! Und das nicht, weil sie provozieren und ärgern oder gar beleidigen will! Das kommt nur bei denen vor, die auf einen Zug aufzuspringen versucht haben, den sie gänzlich missverstanden, - leider sind das nicht zu wenige und oft aus wenig ehrenhaften Motiven. Sondern die moderne Musik fühlt sich umgekehrt provoziert von dem Zustand, in den die traditionelle Musik geraten ist. Indem sie nicht so weiter macht, als wäre nichts gewesen, will sie die Musik aufrütteln und auf ihre Art neu beleben.

Das trifft sicher zu auf Erik Satie, Jean Cocteau und Pablo Picasso, als sie am Ende des 1. Weltkriegs in Paris mit dem russischen Ballett von Diaghilew die "Parade" schufen.

Picasso "Parade": Auswahl über GoogleBilder

Frankreich hatte sich seit der demütigenden Niederlage von 1870-71 und den längst nicht verheilten Wunden der Gewaltexzesse nach der Revolution von 1789 in einer tiefen Krise befunden. Mal ließ es sich ganz von italienischer Musik überschwemmen, dann war es von deutscher Musik (insbesondere Wagner) in fast hysterisch zu nennenden Wellen erst tief empört und dann wieder kritiklos begeistert. Im frühen 20. Jahrhundert kamen geradezu schockartig so entgegengesetzte neue Eindrücke hinzu wie die Industrialisierung, neue Musikrichtungen aus den USA (Jazz, Blues) und andererseits die Konfrontation mit der wilden Musik, sei es aus Russland (Strawinsky, Prokofjew) oder aus den Kolonien (asiatische Exotik, afrikanische Rhythmen). Kriegsbegeisterung und Krieg hatten alle bürgerlichen Werte restlos infrage gestellt und die kurze Idylle des bürgerlichen Glücks (etwa bei Saint-Saens und Proust) aufgerieben.

Aber in Paris suchten viele dies bei den Hörnern zu packen, während sie an anderen Orten in Europa nur noch billigen Aufguss des ewig Gleichen oder Selbstgenügsamkeit sahen.

"Parade" klingt als Musikstück bewusst dürftig und ist doch ungeheuer vielschichtig. Es ist eins der ersten Stücke, die in der Weise provozieren, dass sie Schreibmaschine, Tarolle, Revolverschüsse, Sirene ins Orchester aufnehmen. Was will das sagen? Soll das heißen, dass bei der täglichen Konfrontation mit solcherlei Geräuschen ebenso Musik empfunden werden kann wie in einer idyllischen Szene am Bach? Soll das diejenigen Musiker karikieren, die einerseits anspruchsvolle Musik zelebrieren, andererseits in ihrem Leben nicht genug Errungenschaften der Technik wie schnelle Autos, Jets und moderne Medien benutzen können, ohne dabei schizophren zu werden?

Picasso gestaltete ein kubistisches Bühnenbild. Dort lösen sich Manager in wolkenkratzerförmigen, überlebensgroßen Kostümen aus der Kulisse einer städtischen Szenerie. Satie schrieb die großstädtisch hektische Musik dazu.

Das Konzept stammt von Cocteau:

"Die Szene zeigt die Häuser von Paris. Sonntag. Jahrmarktstheater. Drei Nummern des 'Music Hall' gestalten die Parade. Chinesische Gaukler. Akrobaten. Kleines amerikanisches Mädchen. Drei abscheuliche Manager organisieren die Reklame. Sie verständigen sich in ihrem fürchterlichen Idiom, so daß die Zuschauermenge die burleske Szene für die eigentliche Vorführung im Innern hält; sie bemühen sich, dies den Leuten auf plumpe Weise begreiflich zu machen. Niemand geht hinein. Nach der ersten Nummer der burlesken Szene fallen die erschöpften Manager zu einem wirren Haufen zusammen. Der Chinese, die Akrobaten und das kleine Mädchen kommen aus dem Innern des völlig leeren Theaterraumes. Da sie die ungeheure Anstrengung und den Zusammenbruch der Manager gewahren, versuchen sie nun ihrerseits zu erklären, daß die Vorführung im Innern stattfindet."

Die Provokation liegt in der grotesken Verzerrung, in der der bürgerliche Musikbetrieb gezeigt werden soll: Abgesunken auf das Niveau einer Music Hall, die Reklame und das Treiben um die Musik übertönen diese selbst, so dass die Show wichtiger ist als die Musik.

"Niemand geht hinein". Je geölter der Musikbetrieb läuft, desto ferner wird die Musik. "Der Chinese, die Akrobaten und das kleine Mädchen" vermögen es auch nicht, Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Musik ist nur noch möglich als Metamusik, die eine Oberfläche zeigen kann. Der Hörer muss sie im Innern zusammensetzen.

Das ist eine extreme Aussage. Wurde versucht, sie zu wiederholen, wirkt das genauso lächerlich wie das, was persifliert werden sollte.

Das war natürlich nicht das letzte Wort. Aber es musste einmal gesagt werden und sollte gehört werden, um alles folgende besser zu verstehen.

Wer sich dieser Musik stellen will, dem kann ich die Aufnahme mit Igor Markevitch empfehlen.

© tydecks.info 2006 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum, September 2005