Walter Tydecks

 

Domenico Scarlatti: Sonate d-Moll K141/L422 - die "Nähmaschine"

Diese Sonate ist in der Klavierliteratur ein Sonderfall, nur vergleichbar solchen Werken wie "La Rappel des Oiseaux" von Rameau, die kleine Gigue KV 574 von Mozart, die Triller in den Finalsätzen der Hammerklavier-Sonate und Sonate op. 111 von Beethoven, der Schluß-Satz in Chopins b-Moll Sonate, Schumanns Toccata op. 7, "Vers la Flamme" von Scriabin, Prokofjews teuflische Einflüsterungen op. 4 oder als extremer, vorläufiger Abschluss "Continuum für Cembalo" (1968) von Ligeti. Diese Stücke experimentieren mit den Möglichkeiten, wie weit reine Harmonie und Motorik an die Stelle von Melodik treten kann. Fast unglaublich, wie viel sie bereits von der weiteren Musikgeschichte vorwegnimmt.

Pianisten nutzen sie, um die Fingertechnik für äußerst schnelle Läufe zu trainieren. Offenbar hatte bereits Scarlatti systematisch die Beweglichkeit der einzelnen Finger geübt und bis ins Extrem getriebene Wiederholungen des gleichen Tons. Diese Sonate ist in dieser Hinsicht äußerst geschickt aufgebaut. Sie immer wieder zu üben oder zu hören kann in Trance-Zustände versetzen.

Heute wird meist vergessen, welche technischen Wunderwerke die frühen Klaviere zu ihrer Zeit waren. Zug-, Hammer- und Pedaltechnik waren weit entwickelt, lange bevor in überdimensionalem Maßstab ähnliche Maschinen zur Metallbearbeitung zum Einsatz kamen. Es gehörte ein gutes Stück Technik-Begeisterung dazu, alle Möglichkeiten dieser Instrumente zu erkunden und auzuschöpfen. (Das gilt nicht weniger für den Orgelbau, für dessen technische Aspekte sich z.B. Bach jederzeit interessierte.)

William Horn Cembali: Seite mit einer sehr schönen Übersicht historischer Cembali; Link: williamhorn

Ebenso kann übersehen werden, dass damals die Tonarten und Harmonien noch sehr experimentell waren. Kompositionsregeln lagen nicht als jahrhundertelang überliefertes Werkzeug vor, erstarrt in akademischer Routine. Die Komponisten konnten hoffen, mit jeder außergewöhnlichen Technik etwas zum Tönen zu bringen, das in dieser Technik enthalten ist und von ihnen wie von einem Handwerker freigesetzt wird, der innere Spannkräfte von Materialien entdeckt und in neuen architektonischen Entwürfen ausnutzt, einbaut und zum Vorschein bringt.

Scarlatti will den puren Temporausch nach außen treiben und aus der bloßen Geschwindigkeit eine innere Melodie entdecken, die dort bereits enthalten ist und von ihm lediglich aufgespürt und offenbart wird.

Er sucht damit den unfassbaren Punkt zu treffen, der im Innern jeder kreativen Erfindung steckt. Wenn aus der reinen Geschwindigkeit heraus eine ähnliche Melodie entsteht, wie er sie sonst komponiert hat, stellt sich die Frage, ob nicht auch sonst beim Komponieren im Innern des Bewusstseins, vielleicht auch im rein motorischen Ablauf des Muskelapparats auf einer höheren Ebene ähnliche Prozesse ablaufen, die mit ihrem eigenen Zeittakt dem Bewußtsein entzogen sind. Stockhausen und erst recht Techno-Musiker haben damit experimentiert. Das muss Spekulation bleiben, aber Scarlatti ist mit diesem Stück an die Grenze solcher Fragen gestoßen. Viele Komponisten beschreiben, wie sie selbst überrascht sind über die Werke, die ihnen während der harten Arbeit des Tonsetzen zufliegen.

So steht diese Sonate für mich am Beginn einer Reihe vergleichbarer Werke anderer Komponisten, denen es in ungewöhnlichen Momenten ihres Schaffens ebenfalls gelungen ist, das Entstehen eines kreativen Einfalls unmittelbar zum Ausdruck zu bringen.

Der Hörer nimmt sehr fein die schmale, aber alles entscheidende Differenz zu oberflächlich gesehen ähnlichen Werken wahr, bei denen rein mechanisch leere Virtuosität herausgepresst wird.

Niemand hat sie so glasklar und unerbittlich gespielt wie Wanda Landowska in einem Konzert in Paris im Januar 1939. Martha Argerich wählte sie als einen Höhepunkt bei ihren Konzerten 1978 und 1979 in Amsterdam. Ihr gelingt es, sogar in den rasend schnellen Läufe zusätzliche Betonungen unterzubringen.

Nikolai Demidenko hat sie bei einem Konzert als Zugabe gespielt. Das war wie eine schwebende Klangwolke. Das Stück war schon fast verflogen, als ich es in dieser überraschenden Wendung erkannt hatte. Einspielungen gibt es von Andreas Staier, Christian Zacharias, Pletnew, um nur die berühmteren zu nennen. Dank einer Zuschrift wurde ich aufmerksam auf eine in YouTube abrufbare Aufnahme mit Martha Argerich.

© tydecks.info 2008 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum Oktober 2008