Walter Tydecks

 

Musik in Russland ab 1910 - und die Folgen

Alexander Skrjabin: Etude op. 8 Nr. 12, dis-Moll (1894) - die Sturmvogel-Etüde

Wer kennt nicht das Gefühl, wenn sich alles verdüstert, Enttäuschungen einander überholen und tief im Innern zu verdorren droht, woraus jedes neue Gefühl von Vertrauen entstehen könnte: dann hilft ein Stück wie dieses. Es erhebt so weit seine Schwingen, reißt alles Verkrustete mit sich und lässt es abfallen, dass nichts beim Alten bleibt. Und sage keiner, dass solche Gefühle nur in der späten Jugend möglich sind. Weitaus bitterer können sie später wiederkehren, und um so mehr hilft, diese Kraft immer neu zu gestalten.

Skrjabin war 22 Jahre alt, als er diese Etüde komponierte. Gerade hatte er eine tiefe Krise hinter sich, als 1892 die rechte Hand schwer erkrankte und er alle Hoffnungen auf eine Pianisten-Karriere bedroht sah. Und nun musste er miterleben, wie die Familie seiner geliebten Jugendfreundin ihm alle Kontakte abschnürte und er sie schließlich ganz aufgeben musste. 1895 stürzte er sich in lange Auslandsreisen nach Westeuropa mit Besuchen beim Psychiater Erb in Heidelberg und ausschweifendem Leben in Paris.

Skrjabin 1900

Skrjabin 1900;
Urheber: Public Domain, Link

Alle Kraft und Hoffnung nahm er zusammen, als diese Etüde entstand. Sie wurde wegweisend für die Ereignisse der nächsten Jahre in Russland. Der Musikhistoriker Drosdow erinnert sich an eine Aufführung von 1902 in Saratow:

"Ein neues, ungewohntes Element erfaßte unser Bewußtsein. Ein buchstäblich aufrührerischer Sturm entriß sich den Saiten des Instruments und zog uns in seinen ungestümen Flug hinein. Es waren die Klagen und der Lärm des Kampfes zu hören. Man vernahm den Ausbruch des gefangenen Helden, der die Fesseln sprengt, um in einem letzten Kampf zugrunde zu gehen, der sich aber nicht ergibt: das war es, was uns Skrjabins dis-Moll-Etüde sagte."

Der Name Sturmvogel-Etüde nimmt Bezug auf Gorkis Drama "Das Lied vom Sturmvogel" von 1901. Skrjabin hatte den Ton einer jungen Generation getroffen, die begeistert von Nietzsche mit den gesellschaftlichen Verhältnissen unzufrieden war und nach einem eigenen Weg suchte.

Skrjabin Etüde 8 12

Skrjabin: Beginn der Etüde op. 8 Nr. 12; Einspielung mit Skrjabins Schwiegersohn Wladimir Sofronitsky bei YouTube;
Urheber: By Horndude77 - Own work, CC0, Link

Obwohl Skrjabin in seinem Denken und Verhalten sehr exzentrisch war, ein typischer Vertreter des Nietzscheanismus, sich von theosophischen Ideen beeinflussen ließ und sich bisweilen bis in grotesken Größenwahn verrannte, hatte er viel Sympathie für die russische Revolution 1905. In diesem Jahr traf er in Italien den Marxisten Plechanow. Trotz entgegengesetzter Weltanschauungen verstehen beide sich sehr gut. Plechanow ist von Skrjabins Musik begeistert. Skrjabin wollte ursprünglich dem "Poème de l'extase" das Motto "Stehe auf, erhebe dich, arbeitendes Volk!" voranstellen. Der junge Prokofjew, der in diesen Jahren in Petersburg Musik studierte, war begeistert.

Später spielten bis in die 1920er Jahre Skrjabinisten eine wichtige Rolle in der frühen sowjetischen Musikkultur. Sein Freund und Interpret Sabanejew gründete 1921 das Staatsinstitut für Musikwissenschaft in Moskau, emigrierte aber 1926. Wikipedia verrät uns: Stalins Außenminister Molotow war ein Neffe von Skjrabin.

Sergej Prokofjew: Toccata op. 11 (1912)

Dieses Stück von Prokofjew nimmt sicher in der Klavierliteratur einen Sonderplatz ein. Es hat keine Themen oder Motive, besteht aus reiner Motorik, und das wird jetzt vielleicht jeden abschrecken, der bisher schlechte Erfahrungen mit der Musik des 20. Jahrhunderts gemacht hat. Das Gegenteil ist der Fall! Das Stück wirkt bis heute so frisch wie kaum ein anderes Werk für Klavier. Für mich ist es ein echtes Pendant zum Bolero von Ravel. Lange vor den Einflüssen des Jazz nimmt es bereits alles vorweg, was dann in den 1970er Jahren in den anspruchsvolleren Werken des Rockjazz wieder aufgenommen wurde.

Natalia Gontscharowa (1881- 1962) tritt die Stimmung dieser Zeit wunderbar in ihrem Gemädel Pfau auf der strahlenden Sonne von 1911, siehe Darstellungen über GoogleBilder

Prokofjew (1891 - 1953) hat es 1912 am Ende seiner 10-jährigen Studienzeit in St. Petersburg komponiert. In diese Zeit fällt die Revolution 1905 und in ihrem Umfeld eine der spannendsten Aufbruchphasen, die die Kunst je erlebt hat. Davon ist in diesem Stück viel zu spüren. Es wurde erstmals 1916 öffentlich aufgeführt (von Prokofjew selbst, der ein hervorragender Pianist war) und war von Beginn an eins seiner erfolgreichsten Stücke.

Eine Übersicht verschiedener Einspielungen: Link

Le Coche et la mouche - Alexander Skrjabin: Sonate Nr.10 op. 70 (1912/13)

Lange fehlten mir die rechten Worte für die "Insekten-Sonate", die "Triller-Sonate" von Skrjabin, und dann kamen sie wie von selbst bei einem kurzen Urlaub in Frankreich über das Radio herbeigeflogen. Dominique Jameux brachte am 22. April 2007 bei Radio France Musique einen Beitrag "Rupture : Emission Scriabine / La Fontaine", in dem er einen Großteil der Skrjabin-Einspielungen auf der Horowitz-CD entlang der Fabel "Die Landkutsche und die Fliege" (Le Coche et la mouche) von Jean de La Fontaine interpretierte (Französischer Originaltext).

Von Salvador Dali (1904- 1989) gibt es eine 1974 entstandene, kongeniale Zeichnung zu Le Coche et la mouche (1974): GoogleBilder.

Skrjabin hat natürlich eine ganz andere Sicht auf diese Fabel als Dali. Die 10. Sonate gehört neben "Vers la flamme" op. 72 zur Gruppe der Werke, die er kurz vor seinem Tod komponiert hat.

Da steigt bei sengender Hitze eine Kutsche gezogen von 6 Pferden den Berg hinauf. Zeit, Luft und alle Gefühle scheinen in langsam kreisender Bewegung still zu stehen. Kann das besser beschrieben werden als mit Skrjabins Prélude opus 67 Nr. 1 oder den beiden Préludes opus 59 Nr. 1 und 2?

In der Kutsche sitzen ein Weib, ein Greis und ein Mönch. Wie so oft auch in Erzählungen von Maupassant bringt die Reise Personen in ein gemeinsames Abenteuer zusammen, die einander sonst kaum begegnet wären. Aber nun muss der Mönch sein Brevier beiseite legen, die Frau zu singen aufhören. Alle müssen aussteigen und helfen, die Kutsche zu schieben. Der Schweiß steht ihnen auf der Stirn.

Wäre das nicht schon genug, kommt eine Fliege geflogen, summt den Pferden um die Ohren, setzt sich mal auf die Deichsel und dem Kutscher auf die Nase, bringt mit ihrer Aufgeregtheit und Geschäftigkeit alles in mürrische Bewegung, und glaubt dann auch noch, dank dieser Leistung sei ihr gelungen, die Kutsche wieder in Fahrt zu setzen und schließlich auf dem Berg anzukommen.

Als alles sich erschöpft ausruht, bläht sie sich auf, sonnt sich und erwartet Dank von allen Seiten. Dazu erklingt die Etude opus 8 Nr. 12, die "Sturmvogel-Etüde", nun in völlig konträrer Bedeutung.

Oder doch nicht? Ist alles revolutionäre Wirken des Menschen nichts anderes als solche Überheblichkeit einer Fliege, im Glauben, der Mensch könne die Schöpfung umwenden? Oder hat Dali recht, dass sich zwar alle über die Fliege ärgern, und sie dennoch mit ihrer unbekümmerten Munterkeit alle ein wenig aus ihrer zähen Trägheit gerissen hat?

Jameux sieht bei La Fontaine wie bei Skrjabin hinter dem Moralisieren beißenden Spott, einen verzweifelten Anblick der menschlichen Nichtigkeit. Nach dem Verlust des Glaubens bleibt ihnen nur noch die Sucht, sich in religiösem Eifer oder pseudo-religiösen Gefühlen entflammen zu lassen. Sie verbrauchen ihre letzte Kraft der Hoffnung im leeren Flügelschlagen zum gleißenden Licht, beim Trillern der Musik. Es ist ein stechender Rhythmus, der hinter den Versen von La Fontaine und in der Musik von Skrjabin wie eingebrannt ist. - Ich mag jedoch - um all das ein wenig zu relativieren - die freudigere Sicht von Dali nicht missen, und sehe ein wenig davon auch bei Fontaine und Skrjabin umgesetzt.

Um das Gemeinsame von La Fontaine und Skrjabin zu zeigen, wählt Jameux als Drittes die Bagatelle opus 9 Nr. 1 von Anton Webern, gespielt vom Emerson Quartett.

Skjrabin ging seinen Weg zuende. Seine Stücke zeigen zugleich den ständigen Aufstieg in die Höhe wie depressives Absinken in das Dunkle. Das ist schließlich vollendet in der 10. Sonate opus 70.

Referenzaufnahme ist zweifellos Vladimir Horowitz. Eine echte Alternative ist die frühe Einspielung von Igor Shukov.

Luo Ping: Ameisen

Das Thema Insekten ist faszinierend. Innere Verwandtschaft in der Kunst verläuft oft über verborgene, geheime Wege. Oder wie ist anders zu erklären, dass 1774 der chinesische Maler Luo Ping Ameisen in einer Weise malte, die kongenial zu der Musik von Skrjabin passen? Kann der Farbton von Skrjabin besser getroffen werden?

Luo Ping gilt oft als der letzte große chinesische Maler, bevor unter dem Druck des Einbruchs der europäischen Zivilisation nach China im 19. Jahrhundert diese Sicht der Welt ihr Ende fand und das "Alte China" untergegangen ist. Nach ihm verlagerte sich die chinesische Malerei von Landschaften zu Blumen- und Vögel-Bildern.

Ich kann nur empfehlen, über die Möglichkeiten des Internet mehr von Luo Ping anzuschauen. Hier scheint mit 100 Jahren Vorlauf die Katastrophe der europäischen Kunst vorweggenommen zu sein.

Den Hinweis auf diesen Maler verdanke ich dem überaus empfehlenswerten Buch von Albert Breier "Die Zeit des Sehens und der Raum des Hörens".

Luo Ping Ameisen

Luo Ping (1733 - 1799): Ameisen (1774), Palast Museum Beijing

Sergej Prokofjew: 10 Stücke aus Romeo und Julia op. 75 (1937)

Damit die Toccata keinen falschen Eindruck über Prokofjew hinterlässt, möchte ich dies Stück ergänzen. Ich ziehe die Klavierfassung weit vor. Prokofjew hat sie erstmals 1937 aufgeführt.

Letztes Jahr habe ich zu diesen Stücken eine sehr schöne Einführung in Bensheim gehört. Dort wurden vier Stücke näher erläutert, und so gut ich kann, will ich es wiederholen.

Wrubel

Michael Vrubel (1856 - 1910): Romeo und Julia; Quelle

Die Straße erwacht: Im frühen Morgenlicht scheint alles Unheil vergessen, das auf dieser Stadt liegt. Ein neuer Anfang scheint möglich.

Julia als junges Mädchen: Julia spielt mit ihren Freundinnen, unbeschwert wie ein Kind, und doch nimmt das Treiben eine Lustigkeit an, die über sich selbst hinausweist. Nachdenkliche Stimmen und unbekannte neue Gefühle mischen sich ein, die Julia noch nicht fassen kann. Gern möchte sie in das frühere Spielen zurückfinden, aber es hat auf einmal einen ganz neuen Charakter bekommen. Schöner kann der Moment nicht beschrieben werden, der unmittelbar der ersten Liebe vorausgeht.

Mercutio: Auf der anderen Seite Mercutio, der Jugendfreund von Romeo. Mit viel Faxen treibt er sich durch die Stadt, immer aufgelegt zu Jugendstreichen, aber auch zu ersten Gesprächen über das Leben.

Montagues und Capulets: Schwärzer kann die Übermacht der Tradition nicht gemalt werden. Mit steifen Mienen und voller Verachtung ziehen die Granden der verfeindeten Familien durch die Stadt, ohne zu grüßen. Einen Augenblick sind die traurigen Kinderaugen zu sehen, die im Zug folgen müssen. Selbst ein geheimer und verborgenere Wunsch auszubrechen wird sofort unterbunden.

Zum Hören kann ich die Einspielung von Nikolai Demidenko empfehlen, passenderweise auf einer CD mit der Toccata und Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung".

Arvo Pärt: Für Alina - ruhig, erhaben, in sich hineinhorchend (1976)

Mit Pärt möchte ich die Reihe von außergewöhnlichen Musikstücken aus dem 20. Jahrhundert fortsetzen. "Ruhig, erhaben, in sich hineinhorchend" ist die Vortragsanweisung von "Für Alina".

Kaum ein Werk zeigt wie dieses, dass auch heute noch Musik möglich ist, die unmittelbar die Gefühle anzusprechen vermag ("die meine Seele vollends umgarnt", wie Ulli so schön geschrieben hatte), und doch unverkennbar aus dem 20. Jahrhundert stammt.

1935 in Estland geboren hatte Pärt im Baltikum alle Schrecken des Stalinismus miterlebt. Nach verschiedenen Versuchen, an die westliche Moderne anzuknüpfen, musste er einsehen, dass das alles nicht geeignet war, um seine Gefühle auszudrücken. So gab er 1968 das Komponieren für 8 Jahre auf und vertiefte sich in die mittelalterliche Musik. Er fand zu einem neuen religiösen Verständnis und war sich natürlich klar, wie weit ihn das innerhalb der UdSSR der Breshnjew-Ära isolieren musste.

"1976 erhebt sich aus dem Schweigen Musik - das kleine Klavierstück Für Alina. Es ist offenkundig, dass Pärt mit diesem Stück zu sich gefunden hat und dass das neue kompositorische Prinzip, das er darin erstmals anwendet, sein Werk bis heute inspiriert. Das Verfahren, das Pärt Tintinnabuli (lat. Glöckchen) nannte, wird nicht durch eine progressiv anwachsende Komplexität erreicht, sondern durch äußerste Reduktion des Klangmaterials und Beschränkung auf das Notwendigste." Quelle

Es sollte gemeinsam mit "Spiegel im Spiegel" (1978) gehört werden, einem Stück für Klavier und Violine (bzw. Violincello).

Daher gibt es in diesem Fall eindeutig eine Referenzaufnahme mit Malter, Spivakov, Bezrodny und Schwalke bei ECM, siehe die Besprechung bei KlassikAkzente.

Dort wird "Spiegel im Spiegel" dreimal und "Für Alina" zweimal gespielt, wodurch eine ganz ungewöhnliche Wirkung entsteht. Um den rechten Zugang zu dieser Musik finden zu können, höre ich meist erst ein oder zwei andere Stücke (z.B. die Leonoren-Ouvertüre von Beethoven oder Ouvertüren von Bach), damit die Seele frei wird, sich ganz darauf konzentrieren zu können.

Koserow

Dorfkirche Koserow; Eigenes Foto

Ich konnte "Spiegel im Spiegel" 2002 auf Usedom in einer kleinen Dorfkirche mit Spivakov und Bezrodny hören, eins der beeindruckendsten Konzerte, das ich je erlebt habe. In der Kirche ein merkwürdiges Kruzifix, von dem ich dann erfuhr, dass es aus dem Meer angestrandet war und mit viel Phantasie als Erbmasse aus der versunkenen Stadt Vineta angesehen wurde. Wahrscheinlich war es ein Stück aus Schweden, das in einem untergegangenen Schiff für eine Kirche unterwegs war. Ich kann es nicht mehr von dieser Musik trennen.

© tydecks.info 2006 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum, 2005 - 2007