Inhaltsverzeichnis
Einleitung
2. Sinfonie B-Dur - die Liebe und das Mädchen
Klaviersonate in c-Moll D958 - an den Grenzen der Zeit
Der Tod und das Mädchen
Verräumlichung ist das Grundmerkmal der abendländischen Musik. Schon aus Ägypten und dem antiken Griechenland sind erste Notenschriften vermutet und in wenigen Bruchstücken überliefert (siehe Wikipedia), doch erst in den christlichen Klöstern des 9. Jahrhunderts wurden sie systematisch eingesetzt. Mit der Notenschreibweise entstand ein räumliches Verständnis der Musik: Musik wird nicht mehr nur - in der Zeit - gesungen und gespielt, sondern auf einem Blatt Notenpapier aufgeschrieben und gelesen. Mit der Notenschreibweise entstand die Mehrstimmigkeit, seit sich die verschiedenen Stimmen graphisch übereinander auf parallel verlaufenden Linien darstellen lassen und jeder Sänger auf dem Blatt seine eigene Stimme lesen kann und zugleich sieht, was die anderen singen. Die Mehrstimmigkeit erlaubte wiederum die Gleichberechtigung der Terzen und Dur-Tonarten, als unterschiedliche Stimmen im Terz-Verhältnis standen und mit der Terz die Dur-Tonarten erschlossen wurden. Diese Entwicklung vollzog sich über einen langen Zeitraum bis schließlich Rameau im 18. Jahrhundert das vollständige System der Obertöne entwickelte. Das hat das Verständnis der Musik völlig verändert. Musik wandelt sich von einer spontanen Ausdrucksfähigkeit zu einer Wissenschaft. Töne gehen nicht mehr zeitlich auseinander hervor, sondern werden vom Komponisten auf dem Notenpapier gesetzt. Die Musik wird seither überwiegend in räumlichen Metaphern beschrieben, wenn z.B. von hohen und tiefen Tönen gesprochen wird statt von schweren und leichten Tönen wie noch in der Antike, neben- und übereinander verlaufenden Melodien und Begleitungen, architektonischem Aufbau, Nah- und Fernwirkung.
Das hat die Musik mehrere Jahrhunderte lang ungeheuer beflügelt. Ihr Fortschritt, mit immer neuen technischen Möglichkeiten Melodien aufzugreifen, kontrapunktisch zu gestalten, zu verarbeiten ("durchzuführen"), rhetorische Figuren einzusetzen und die Dynamik in völlig unbekanntem Maß zu entwickeln, wirkte wie eine Entfesselung und Vorbild des allgemeinen Fortschritts-Optimismus. Alle großen Aufklärer waren seit Descartes an der Musik interessiert und entwickelten von ihr aus ihre Ideen einer allgemeinen Vernunft und Harmonie.
Die Verräumlichung zeigte sich auch in einem immer virtuoseren Umgang mit der musikalischen Zeit und wurde daher lange nicht als vorherrschender Trend erkannt. Mit Beethoven wurde der Höhepunkt erreicht, als in seiner 9. Sinfonie die Untiefen der Zeit bis hin in die ersten Tage der Schöpfungsgeschichte ausgelotet wurden. Dann kam der Umschlag. Was im Untergrund als Verräumlichung schon lange gewirkt hatte, die Loslösung musikalischer Techniken von Alltag und Volksgesang, brach sich um so schneller Bahn.
Das mehrstimmige Singen hatte anfangs die Freude am Gesang noch steigern können, bis es zur extremen Vielstimmigkeit etwa bei Palestrina kam, den nur noch gut ausgebildete Spezialisten vortragen konnten. Der Kirchengesang der Reformation belebte zwar nochmals das Volkssingen neu, aber wiederum entwickelte sich eine immer komplexere Instrumental- und dann auch Gesangsmusik. Im 19. Jahrhundert wurde die Gesangskunst erneut professionalisiert, und die Wandervogel-Bewegung um 1900 war der letzte Versuch, das Volkssingen wieder zum Leben zu erwecken. Als dies durch die vom Nationalsozialismus geförderte Singbewegung politisiert wurde, war endgültig die alte Unbekümmertheit des Singens dahin.
Musik verliert die Melodien, stattdessen werden die Klangfarben dominanter, komplexe Instrumentierung, ausgefallenere Rhythmen. Musik zerfällt in Fragmente bunter Bilder und zeichnet die Reflexe der modernen Welt auf. Schubert steht an der Grenze. Er war der letzte Komponist, der echte Volkslieder schreiben konnte. Bei ihm ist zu sehen, wie die innere Einheit der Zeit zerfällt. Er trifft instinktiv die Themen, an deren weiterer Entwicklung sich anschaulich zeigen lässt, wohin Verräumlichung der Musik führt.
Schuberts 210. Geburtstag ist ein schöner Anlass, an das Werk zu erinnern, wo ich ihn völlig unbeschwert und erfüllt von Glück sehe, seine 2. Sinfonie in B-Dur. Im Winter 1814-15 entstanden, als Schubert 18 Jahre alt wurde, ist auch sie wie Beethovens 7. Sinfonie eine Musik der Liebe. Er hatte im November 1813 die Uraufführung der 7. Sinfonie gehört, und das war wohl immer sein Lieblingswerk von Beethoven. Wo Beethoven im Adagietto gerade eben die drohende Katastrophe vermeiden kann, komponiert er sie 1825-26 im langsamen Satz der Großen C-Dur Sinfonie aus (Gülke). Doch davon ist die 2. Sinfonie noch 11 Jahre entfernt.
Seinen Lebensweg zu finden wurde ihm nicht einfach gemacht. Er kam als das 12. von 14 Kindern zur Welt. Die meisten von ihnen waren sehr früh gestorben, ein älterer Bruder und die jüngste Schwester während seiner ersten Lebensjahre. Mit wie viel Liebe wird sich die Mutter gesorgt haben, dass er - immer der Kleinste von allen - als einer der wenigen überlebt. Der Vater liebt die Musik, Schubert spielt im familiären Streichquartett die Bratsche. Als er 1808 die Aufnahme als Sänger für die Hofkapelle bestanden hatte, sieht der Vater ihn mit großen Erwartungen in das erst neu gegründete Konvikt ziehen. Doch bald kam es zu zermürbenden Auseinandersetzungen. Während der Vater wenigstens für eins seiner Kinder die Karriere durch den Besuch der kaiserlichen Eliteschule zum Greifen nahe sah, wollte Franz nichts als Zeit und Muße zum Komponieren.
Das erste Lied entstand 1811 und handelt von Hagar, die verstoßen von Abraham in der Wüste Gott um Hilfe für sich und ihren Sohn bittet. Schubert kann sich mit ihr identifizieren. Als er den Forderungen des Vaters nicht folgt, verbietet der ihm von der Schule nachhause zu kommen. In dieser Zeit der Trennung starb im Mai 1812 die Mutter. Danach kommt es vorübergehend zu einer Versöhnung, doch im Herbst 1813 entscheidet sich Schubert gegen den Rat des älteren Freundes und des Vaters, das Konvikt zu verlassen. Die Anforderungen insbesondere in Mathematik werden ihm zu schwer, und er fühlt, dass er unter diesen Bedingungen keine Lieder schreiben kann.
Franz Schubert, Zeichnung von Kupelwieser 1813
Daher geht er für kurze Zeit auf ein Lehrerseminar und beginnt in der Schule des Vaters als Hilfslehrer. Der Unterricht ist hart, aber er kann durchsetzen, dass ihm täglich einige Zeit zum Komponieren bleibt. In diesem Jahr entsteht die F-Dur Messe. Unter den Sängerinnen fällt ihm die etwas jüngere Therese Grob auf. Als er sie kennenlernt, komponiert er im Oktober 1814 das Lied von Gretchen am Spinnrad. Anfang 1815 schreibt er in einem Brief über seine Gefühle zu Therese. Alle Verdüsterung nach dem Verlust der Mutter, die gestorbenen Geschwister, von denen er höchstens die Gräber kennt, die Enge zuhause und die demütigende Prügel durch den Vater, der Unterricht am Konvikt, dem er nicht folgen kann und mag, das ist wie verflogen, wenn er sie trifft. In diesen Monaten entsteht die 2. Sinfonie.
Therese Grob (1798 - 1875), heiratete 1820 den Bäcker Johann Bergmann, beide hatten ein Kind, Amalia Bergmann (1824 - 1886), Schuberts Bruder Ignaz heiratete 1836 ihre Tante Wilhelmine
Für einen Moment ist er in der Musik mit sich selbst völlig im reinen. Wie viel Selbstbewußtsein, das Gefühl erwachender schöpferischer Kraft und Lebenslust. Das wird sich in keiner der späteren Schubertiaden mehr wiederholen, auch wenn er im Mittelpunkt eines Zirkels aufgeschlossener Musikliebhaber stehen wird. Zu Therese konnte er alle noch längst nicht überwundene Trauer vergessen, ohne sich irgend jemandem gegenüber schuldig fühlen zu müssen, und ohne die unsichere Frage, ob die Hörer an ihm und seiner Musik oder nur am gesellschaftlichen Ereignis interessiert sind.
Zwar weiß er früh, dass es mit Therese nicht so gehen wird, wie es anfangs erschien - er verfügt über kein ausreichendes, geregeltes Einkommen, ihre Eltern würden daher einem Eheantrag nicht zustimmen -, aber er hat seine musikalische Sprache gefunden. In den folgenden 2 Jahren schreibt er unter den schwierigen Bedingungen als Hilfslehrer 250 Lieder, darunter Wanderers Nachtlied Juli 1815, Heideröslein August 1815, Erlkönig Oktober 1815, Der König in Thule Anfang 1816. Wer will urteilen: War das schwerer für ihn, wie die erste Liebe ihn reif gemacht hatte für seine großen Lieder und seine unverwechselbare Ausdruckskraft, und ihn das Komponieren zugleich vom geliebten Mädchen wegführte in eine andere Welt, in der all die innersten dunklen Regungen doch hervorkommen konnten; oder für sie, die ihn gerade dadurch wachgerufen hatte, dass sie ganz einfach alles Gute für ihn wollte, und nun spüren mußte, wie er sich immer mehr von ihr entfremdete, je mehr sie ihm geholfen hatte, den eigenen Weg zu finden?
7 Jahre später schrieb er im Juli 1822 einen Traum auf, der wie eine Lebensbilanz klingt. "Lieder sang ich nun lange lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe." Wenige Monate danach entstanden 1822 die beiden Sätze der unvollendeten h-Moll Sinfonie.
Die 2. Sinfonie steht unmittelbar bevor sich Schubert von Schmerz und Liebe "zerteilt" fühlte, wie er sich selbst im Traum sah. Als einziger hat William Steinberg mit dem WDR Sinfonieorchester Köln genau den Ton getroffen, wie ich diese Sinfonie verstehe. Die Aufnahme ist hin und wieder im Radio zu hören, aber bei YouTube ist die Einspielung von Steinberg mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra von 1954 zugänglich.
Gern nehme ich die Idee von 'observator' auf, endlich den einzelnen Klaviersonaten von Schubert das gebührende Recht zukommen zu lassen. Für meine Annäherung an Schubert ist die c-Moll Sonate ein Schlüsselstück geworden. Das Finale hat eine Dynamik, die einen so schnell nicht wieder los läßt.
Die Sonate ist als Eröffnung der 3 zusammenhängenden späten Sonaten im Jahr nach Beethovens Tod gedacht, Schuberts letztem Lebensjahr, 1828. Er hatte im Jahr zuvor mit der "Winterreise" endgültig seine eigene Aussage gefunden. Die Große C-Dur Sinfonie war erfolgreich abgeschlossen, und er konnte nun frei neue Wege gehen. Wirklich ganz frei? Er war sich der tödlichen Krankheit immer bewusst, die er sich 1822-23 zugezogen hatte. In gründlichen Vorarbeiten wurden alle 3 Sonaten gemeinsam entworfen und stellen ein einheitliches Werk dar. Die c-Moll Sonate übernimmt als eröffnendes Stück am stärksten den Rückblick auf Beethoven.
Die ersten Takte könnten jedoch von Schumann sein, der von diesen Sonaten überaus begeistert war und sie "auffallend anders als die anderen" fand. Der langsame Satz zitiert sowohl Beethoven, wie auch in den unerbittlich pochenden Stellen die Verzweiflung der Winterreise zu spüren ist. Das Menuetto ruft fast noch einmal die längst vergangene frühere Unbeschwertheit wach.
Und nachdem all das gegenwärtigt ist, schließt ein ganz ungewöhnliches Finale. Da ist wieder etwas Beethoven, mal die Sturm- und mal die Waldstein-Sonate, aber ein völlig überraschender Rhythmus, der sich in keine Musikepoche einpassen will. Eine Tarantella, die wie kaum etwas anderes von Schubert auch aus dem 20. Jahrhundert kommen könnte. Die Musik erreicht einen Schwebezustand, entschwindet und kommt von woanders wieder her, taucht auf und geht unter, bleibt stehen und sprudelt über, täuscht Freudigkeit vor und ist doch in Moll gehalten, bringt ein neues festes Thema, wo eine Verarbeitung der etwas leichten ersten beiden Themen erwartet werden könnte. Ist das nun ein Rondo oder eine Sonate? Immer an der Grenze zur Improvisation.
Das Stück hält sich an keine feste Zeitordnung. Gülke schreibt in seinem Buch über Schubert von der
"Diskretion, mit der sie den Zeitlauf durchschimmern läßt und ebensowohl eindeutig konsekutive Momente wie überstarke Prägnanz meidet, welche alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sich vor den Hintergrund des Zeitlaufs schieben und als einzige Realität erscheinen könnte. ... die eigentümliche Indifferenz der thematischen Gestalten, denen man nicht glaubt, daß sie unbeschwert-verspielt daherkommen, das ziellos Geschäftige, und mittendrin das Sirenenhafte, die 'elbische' Verlockung des H-Dur-Themas. In dieser Musik ist nichts festgeschrieben. ... Glaubwürdig erscheint sie am ehesten, weil sie die eigene Glaubwürdigkeit in Zweifel zieht." (Gülke, S. 283f)
Mit den Liedbegleitungen war es ihm ganz zwanglos gelungen, im Fluss der Melodie Zeit und Raum vergessen zu lassen. Ihm gelingt mühelos, die Tradition deutscher Liedvertonungen zu vollenden. Luther hatte begonnen, nicht nur die Bibel, sondern auch die Kirchenlieder in deutsche Sprache zu setzen. Er traf den besonderen Rhythmus der deutschen Sprache und schuf ihr einen eigenen Ausdruck. (Wem es um technische Details geht, kann Georgiades nachlesen. Er spricht von der Betonung auf die jeweils bedeutungsschwere Silbe, und den Auftakten und Abtakten im Sprachfluß, z.B. Abtakte bei Vater, Leben und Auftakte bei begreifen, herunter). Schütz und Bach hielten zwar bewusst den von Luther getroffenen eigentümlichen Klang der deutschen Sprache fest, verbanden ihn aber mit den neuen Errungenschaften der italienischen Musik und gaben ihm dadurch wesentlich größere Freiheit und Ausdrucksfähigkeit. Doch auch sie blieben im traditionellen Geist der Kirche bzw. höfischen Musik. Das änderte sich erst mit der Klassik. Beethoven gelingt es schließlich völlig, das eigene innere subjektive Erleben und Empfinden zu komponieren und nicht mehr auschließlich den Lobgesang auf die Welt, wie sie von Gott eingerichtet wurde und in der sich der Mensch bewegt.
Aber auch Beethoven hielt sich bei aller Freiheit an die klassischen Formen der Sonate und mit wachsender Ehrfurcht der Fuge. Schubert scheint zunächst zum Geist von Bach zurückzukehren, dessen Hineinhorchen in die innere Unendlichkeit der Klänge. Doch ist er nicht mehr vom Glauben gesichert. Neben Mathematik waren seine Leistungen in Religion stets zweifelhaft. Er konnte nie zu einem festen Lebenswandel finden. Aber ganz anders als die jugendbewegten Generationen 100 Jahre später gerät er auch in keine anti-bürgerliche oder anti-gesellschaftliche Attitüde. Hier ist er wieder Schütz und Bach nahe, wenn er sich im Fluss der ihn umgebenden Fülle von Liedern geborgen weiß. Das ist sicher ein Erbe des aus Böhmen nach Wien eingewanderten Vaters.
Wozu so weit ausholen: Im Finale der c-Moll Sonate stößt beides aufeinander. Die Themen werden nicht streng gegeneinander gestellt und dann thematisch verarbeitet, entwickelt und schließlich in der Reprise wieder kunstvoll zusammengefügt, wodurch eine sichere Zeit-Architektonik entsteht, sondern führen einander fort, strömen aus den Gesetzmäßigkeiten der Sonate hinaus, werden daher plötzlich abrupt unterbrochen und kehren doch wie verjüngt und mit neuer Frische wieder.
Aber seit dem "Leiermann" ist Schubert auch die innere Dynamik des Liedschaffens abhanden gekommen. Zu lange hat er sich unverstanden gefühlt, konnte in seinem Leben keine Richtung erkennen und ihm keine Richtung geben, und empfindet nun das früher unbeschwert in "himmlische Längen" alle Maße der Zeit überschreitende Singen nur noch als leeren Gleichklang, den niemand mehr hören mag. Der Leiermann steht an der Grenze zum Verstummen, die Klavierbegleitung spinnt keinen durchgehenden Faden mehr.
Vom Leiermann her ist die Tarantella des Finale zu hören. Und dann lässt sich verstehen, wie sich hier erstmals jene leerlaufende Motorik und eine Rastlosigkeit zeigen, die alle Gefühle erkalten lässt, wie es dann zum Grundzug der Musik bei Tschaikowsky, den Scherzi von Bruckner, Scriabin, Ravel, Prokofjew, Schostakowitsch, Strawinsky, dem Jazz wird, der seither die Musikgeschichte antreibt. Wurde versucht, mit technisch immer aufwändigeren, intellektuell anspruchsvolleren Werken seit Brahms dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, erwies sich das als unmöglich. Der Geist koppelte sich vom Lebensgefühl ab.
Gustav Klimt: Schubert am Klavier, 1899 (1945 verbrannt). Eine geniale Idee, Schubert in das Ambiente des Fin de Siècle in Wien zu versetzen und so den Kontrast von Schubert und seiner Umgebung so grell wie möglich zu beleuchten.
In diesem Finale ist der Anfang zu spüren, wie die Musik auseinander zu brechen beginnt. Es hat eine fast betäubende Wirkung, wie die Zeit abwechselnd beschleunigt und zum Stehen gebracht wird. Schubert beginnt seine eigene Identität nicht mehr wahren zu können und fühlt entgegengesetzte Gefühlsinhalte einander durchkreuzen. Kein Bild fasziniert ihn am Ende stärker als Heines Gedicht vom "Doppelgänger", der sich selbst als einen Fremden vor dem Haus der verlorenen geliebten Frau stehen sieht und dem alle tiefen Gefühle vor sich selbst zu Theatralik erstarrt sind.
Bei YouTube sind zahlreiche Interpretationen zu hören. Mein persönlicher Favorit ist die Aufnahme mit John Ogdon.
Die Melodie klingt wie ein altes Volkslied, irgendwo auf dem Land entdeckt und aufgegriffen, und ist doch auf den Text eines Aufklärers aus Hamburg geschrieben.
Matthias Claudius (1740 - 1815) schrieb 1796 das Gedicht nach dem Tod der erst 21-jährigen Tochter, nachdem bereits vorher ein Sohn gestorben war.
Mädchen. Vorüber! Ach, vorüber
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung! Geh Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Tod. Gieb deine Hand, du zart und schön Gebild!
Bin Freund, und komme nicht zu strafen.
Sei gutes Muths! ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!
Welche Intuition hat Schubert dazu geführt, in der Zwiesprache von Tod und Mädchen das innerste Geheimnis der musikalischen Zeit zu entdecken: Jugendlichkeit, Todesverfallenheit, weibliche Anmut, suggestive Selbstberuhigung durch kreisende Figuren? Mit welcher Verzweiflung mussten die ihm nachfolgenden Komponisten einsehen, dass das nicht mehr zu wiederholen war. Oder ist es nicht so, dass die Melodie weiter klingt im langsamen Satz von Bruckners 4. Sinfonie, im gespenstischen 2. Satz in Mahlers 2. Sinfonie? Wie oft haben Hugo Wolf und Gustav Mahler ähnliche Melodien schreiben wollen? Unvergesslich das Konzert mit dem Hagen-Quartett 1987 in Schwetzingen.
Ist es stattdessen Gustav Klimt gelungen, sowohl Schubert wie die vom Tode in überirdischer Schönheit gezeichneten Mädchen zu malen?
Gustav Klimt: Beethoven-Fries 1902; Quelle: Von Gustav Klimt - repro from artbook, Gemeinfrei, Link
Hier ist der Sog der Verräumlichung geradezu übermächtig. Ausgezehrt verliert die todkranke Frau alle Körperlichkeit und wird maskenhaft. Ihr Alter ist nicht zu bestimmen. Der Tod hat sich gewandelt von einer personalen Gestalt, in der noch bei Matthias Claudius das Mädchen und der Tod miteinander sprechen, über die verführerische Melodie bei Schubert zu einer rhythmisierten, ornamentalen Gestaltung des Hintergrunds. So ist er allgegenwärtig, und doch ist es unmöglich, ihm gegenüber zu treten. Der Tod - und mit ihm das Musikalische - ist räumlich geworden, und es gibt keine Möglichkeit mehr, sich ihm in musikalischer Zeit, mit betörenden oder beschwörenden Melodien zu nähern oder gar ihn zu bannen.
Was unter solch veränderten Bedingungen der Musik übrig bleibt, das zeigt die "Geschichte des Soldaten" von Strawinsky. Auch er will dem Tod aufspielen, um das geliebte Mädchen zu erobern und dem eigenen Tod zu entgehen. Das misslingt gänzlich. Am Ende triumphiert die leere Motorik des teuflischen Schlagzeugs.
Adorno verstand die "Geschichte des Soldaten" (und nicht das "Sacre du Printemps") als Strawinskys Hauptwerk. Von hier entwickelt er in seiner "Philosophie der neuen Musik" die These: Nach Beethoven hat die Musik die Fähigkeit zur "dialektischen Auseinandersetzung mit dem musikalischen Zeitverlauf" verloren, "die das Wesen aller großen Musik seit Bach ausmacht" (Adorno, S. 165). Strawinsky ist ein Beispiel für den seither eingetretenen Verfall: "Musik weiß von keiner Erinnerung und damit von keinem Zeitkontinuum der Dauer. Sie verläuft in Reflexen." (Adorno, S. 145)
Die wachsende Macht der Verräumlichung zeigt sich in der "Pseudomorphose der Musik an die Malerei" (Adorno, S. 167). Musik bildet nur noch räumliche Verhältnisse nach. Neue Ideen gehen von der Malerei aus und werden von der Musik aufgegriffen. Debussy wurde als Vertreter des Impressionismus und Strawinsky als Komponist des Kubismus verstanden. Die schöpferische Kraft ist allein auf die moderne Malerei übergegangen. Die Malerei vermag das Lebensgefühl der neuen Zeit besser zu treffen, und die Musik läuft nur hinterher. Die Musik entwickelt keine eigenen Ideen mehr, sondern zerfällt in eine unendliche Beliebigkeit von Stilen und wird unhörbar. Sie verliert ihre subjektive integrierende Kraft und wird schließlich schizophren in einem medizinischen Sinn: Adorno spricht von Hebephrenie (ein 1871 von Erich Hecker eingeführter Begriff), worunter er in diesem Zusammenhang versteht, dass bei aller Sucht nach ständig neuen Reizen und Sensationen der eigene Körper doch immer nur als fremd wahrgenommen werden kann.
So geht es auch den Komponisten. Sie finden keine Antwort auf den Prozess der Verräumlichung, der ihnen die elementaren musikalischen Mittel entzieht. Entweder werden sie zu Ingenieuren der Tonkunst, verstehen mit "visueller Musik" die Verräumlichung ganz wörtlich, oder sie versuchen die Töne der modernen Zeit, die exotischen Klänge, den Jazz und den Punk, pure Großstadtgeräusche und maschinell erzeugte Effekte, in immer unverbindlichere Werke zu montieren.
Wer will bezweifeln, dass Adorno etwas Wahres trifft: Die Spaltung in polare wenn nicht multiple Figuren bei Schumann und die Wahnbilder bei Berlioz waren in den 1830ern erste Anzeichen. Doch sind Adornos Texte ihrerseits Symptom der von ihm beschriebenen Entwicklung: Seit einmal begonnen wurde, mit psychiatrischen Begriffen Kunst- und Musikstile zu beschreiben, ist ein diffamierender Unterton in die Diskussion gekommen, der es liebt, seinen Gegner nicht mehr als Persönlichkeit anzuerkennen, sondern als "Fall" zu verzerren und zu überführen, bis nichts übrig bleibt als karikaturhafte Spottgestalten.
Wie in der Musik das Endergebnis aussehen kann, zeigt das 1970 komponierte Streichquartett "Black Angels" von George Crumb (YouTube mit der Aufnahme durch das Kronos-Quartett 1990). Er zitiert Schuberts Melodie und konfrontiert sie brutal mit Stücken hart an der vom Ohr zu ertragenen Schmerzgrenze (zu erhalten über die CD des Kronos Quartett mit dem gleichen Titel). Schubert hatte das vorweggenommen. Das Scherzo seines Streichquartetts kann nicht hart genug gespielt werden, bevor das Finale in seine Zerklüftungen auseinanderbricht. Auch hier hat das Hagen-Quartett Maßstäbe gesetzt.
Theodor W. Adorno: "Philosophie der neuen Musik", Frankfurt u.a. 1972
Paul Bekker: "Musikgeschichte als Geschichte der musikalischen Formwandlungen", Stuttgart 1926
Richard Benz: "Die Stunde der deutschen Musik", Jena 1943
Thrasybulos Georgiades: "Schubert, Musik und Lyrik", Göttingen 19923
Thrasybulos Georgiades: "Nennen und Erklingen", Göttingen 1985
Peter Gülke: "Franz Schubert und seine Zeit", Laaber 1991
Reinhart Koselleck: "Vergangene Zukunft", Frankfurt 1979
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