Walter Tydecks

 

Deutsche Musik und Deutsche Politik - Annäherungen an Richard Wagner

Einleitung

Seit längerem mache ich mir zu diesem Thema Gedanken, aber den letzten Anstoß gab der Hinweis, dass heute unter dem Druck der amerikanischen Kriegsdrohungen in Teheran die westliche Musik verboten werden soll und der Kampf der Kulturen auch auf dem Gebiet der Musik eine neue Runde erlebt. Was hat das mit Wagner zu tun: Seine Schrift Das Judentum in der Musik war ein früher Beitrag in dieser Richtung. Wobei es sicher völlig verfehlt wäre, den "Fall Wagner" auf dieses Thema zu beschränken.

Vorweg muss ich gestehen, dass ich erst vor kurzem zum ersten Mal eine Oper von Wagner gesehen habe, Tristan und Isolde, ansonsten die üblichen Auszüge im Fernsehen zu Festspieleröffnungen in Bayreuth und so. Den Walküren-Ritt lernte ich durch Coppolas Apocalypse Now kennen, als gefilmt wurde, wie amerikanische Hubschrauber den kambodschanischen Dschungel und alles Leben dort zerfurchen. Das bestätigte nur das lange gepflegte Vorurteil, Wagner könnte reduziert werden auf Musik, die gut zu Aggression und Faschismus passt.

Das war nicht nur ein Vorurteil gegen Wagner, sondern überhaupt fällt mir der Zugang zu Opern schwer. Wie überraschend, dann bei Wagner eine Kritik der Oper seit der italienischen Oper zu lesen, die genau das trifft, was mich stört: ein Rückschritt hinter das, was in der Vokalmusik gerade auch in Italien schon längst erreicht war, belanglose Arien, auf den Tag und für den jeweiligen Sänger geschrieben, lange nichtssagende Zwischenperioden zwischen den großen Melodien, offenbar nur zum Zweck, als Tafelmusik zu dienen, damit das Publikum sich besser unterhalten und zuprosten kann.

Und wie überrascht war ich, in den Texten von Wagner so vieles zu finden, was ich bis dahin für Ideen von Nietzsche oder Ernst Bloch gehalten hatte.

Wagner scheint keine religiöse Bindung gekannt zu haben. 1813 im Jahr der Völkerschlacht gegen Napoleon in Leipzig geboren, war er wie Schumann ein Kind der Kriegszeit (Schumann stammt aus dem nicht weit entfernten Zwickau). Sein Vater starb kurz nach seiner Geburt, auch sein Stiefvater lebte nicht lange, und so war er als Kind hin und her geworfen ohne feste Heimat.

Überlieferungen von deutschen Märchen, Sagen, Erzählungen hat er sich regelrecht per Lektüre erarbeiten müssen. Wie unterscheidet ihn das von den Romantikern in Dresden, Freiberg, Jena, die in jungen Jahren den letzten Gestalten der mittelalterlichen deutschen Mystik begegnet waren. Die Erzählungen von Novalis, E.T.A. Hoffmann und auch noch Heinrich Heine zeigen, auf welchen Schatz an mündlich überlieferten Geschichten sie zurückgreifen konnten.

Bei Wagner scheint das einfach zu fehlen, und das machte ihn so empfindsam gegenüber allen kulturellen Erscheinungen, die er als oberflächlich und bloßen Zeitvertreib kritisierte. Es machte ihn zugleich buchstäblich krank. Und erzeugte eine innere Leere, aus der ein nie zu stillender Hunger nach Luxus und grenzenloser Verehrung entstand.

Wagner als Rembrandt

Richard Wagner, als neuer Rembrandt, siehe dessen Selbstporträt von 1638; Quelle

Diese Bemerkungen sollen als erste Annäherung genügen. Der "Fall Wagner" ist nicht nur ein Fall Wagners, sondern auch derjenigen - zu denen ich mich durchaus zählen muss - die sich lange weigerten, sich überhaupt mit ihm näher zu beschäftigen. Als erster Schritt sollen ein paar Ideen zum Judentum in der Musik folgen, um mittendrin dort anzusetzen, worauf sich die Vorurteile leicht abstützen lassen. Weitere Einzelbeiträge sollen dann das Thema weiter spannen, etwa zu den Reaktionen in Frankreich (Mallarmé und Debussy), die Wirkung auf Bruckner, vielleicht auch zu Tristan und Isolde, spannend sicher auch das Verhältnis von Wagner zu den Frauen.

Richard Wagner: Das Judentum in der Musik

Diese kleine Schrift entstand 1850. Als Wagner anfing, sich wie ein deutscher Rembrandt zu stilisieren, mit Barrett und altmodischen Kostümen, fühlte er sich in seinem neu erwachten ästhetischen Empfinden von den Juden geradezu äußerlich abgestoßen. Ihr ganzes Verhalten und ihre fremdartige Sprache widerten ihn an. Hatte er noch 1848-49 für die Emanzipation der Juden gekämpft im Sinne der Gleichberechtigung aller Menschen, hält er nun eine "Emanzipierung von den Juden" (Wagner Judentum in der Musik, S. 68) für notwendig, die nicht nur auf dem Gebiet des Geldverleihs, sondern auch in der Kunst und insbesondere der Musikkritik eine beherrschende Stellung erlangt hatten. Für ihn ist nur noch die Frage, wie sie in diese Position haben kommen können.

Das erklärt er sich so: Vertrieben in die verschiedensten Nationen Europas haben sie dort nirgends Wurzeln schlagen können. Zu den Einheimischen konnten sie nur Geschäftsbeziehungen aufbauen dank der Erlaubnis, mit Geld zu handeln, waren daher sicher "bei den reicheren Klassen durch Berechnung des Vorteils und Beachtung gewisser gemeinschaftlicher Interessen" (Wagner Judentum in der Musik, S. 76) anerkannt, während ihnen im Volk nichts als Widerwillen entgegenschlug. Daher vermochten sie nie in der Musik oder Dichtung auf den natürlichen Boden zu gelangen, wo alle künstlerischen Ideen ihren Ausgang nehmen. Mir scheint sehr deutlich zu sein, wie Wagner hier eigene Ängste auf die Juden überträgt. Denn ging es ihm nicht gerade so, kreuz und quer durch Europa geworfen zu werden, angewiesen auf das Geld und die Unterstützung reicher Gönner, und nun auf der Suche, einen künstlichen Bezug zum "Volk" herstellen zu können?

Der Hass geht ihm durch: Abgeschnitten vom Volk sei den Juden nur die Möglichkeit geblieben, aus ihrer eigenen Tradition zu schöpfen. Doch dort sieht er seit Jahrtausenden nichts als Stillstand. Der Gesang der Synagoge habe "nichts aus innerer Lebensfülle weiterentwickelt", sei zur "Fratze des gottesdienstlichen Gesanges" verkommen und bot Wagner nichts mehr als "jenes Sinn und Geist verwirrenden Gegurgels, Gejodels und Geplappers, das keine absichtliche Karikatur widerlicher zu entstellen vermag" (Wagner Judentum in der Musik, S. 76).

Und doch sah Wagner die Juden gerade in seinen Zeiten zu Ansehen und Einfluss gelangen. Er nennt Mendelssohn, Meyerbeer, Heine und Börne. Das war ihnen aus seiner Sicht nur möglich, weil sie geschickt von der Verkommenheit der nationalen Kulturen zu profitieren verstanden. Nur weil zum Beispiel das Musikleben bereits auf die bloße Befriedigung von Effekt, Luxus und leerem Schein entartet war, konnten sich hier die Juden prächtig entfalten. Nur weil die politisch restaurativen Verhältnisse verhindert hatten, dass es nach Beethoven einen würdigen deutschen Nachfolger gab, konnte Mendelssohn brillieren, obwohl seine Werke nie über "zerfließende, phantastische Schattenbilde" (Wagner Judentum in der Musik, S. 81) hinauskamen. Und weil nach Goethe die Lüge in die deutsche Dichtung eingezogen war, ergab sich Platz und Raum für einen spöttischen Geist wie Heine.

Woher dieser Hass auf die Juden? Und warum die Heuchelei? Denn Wagner war sehr wohl angetan von der Musik Mendelssohns und hatte eher Minderwertigkeitsgefühle, dass ihm nicht mit gleicher Leichtigkeit Werke solchen Rangs gelangen. Mit Heine hatte er sich in Paris gut verstanden, und noch die Uraufführung des Parsifal vertraute er dem jüdischen Dirigenten Hermann Levi an. Als sich Wagner nach dem Scheitern der 1848er Revolution neu orientieren musste, bot der Angriff auf die Juden eine Möglichkeit, den politischen Konflikt zu verschieben vom Kampf gegen die deutschen Fürsten und Könige auf die Juden. Statt zu fragen, wie es zu seiner eigenen Fehleinschätzung über die Erfolgsaussichten einer Revolution in Deutschland hatte kommen können, und warum die Revolution so schnell und gründlich niedergeworfen werden konnte und was sich in dessen Gefolge nun in Deutschland tat, war es einfacher, gegen das Judentum zu schreiben.

Aber das erklärt noch nicht alles. Denn in den gleichen Jahren 1849-52 verfasste Wagner zahlreiche Werke über Kunst und Revolution, Oper und Drama und schließlich 1860 bereits im Rückblick über Zukunftsmusik. Dort ging ihm die Forderung nach dem Untergang des Staates genau so leicht aus der Feder wie der Wunsch, das Judentum könne durch seinen Untergang erlöst werden. Nein, das Judentum passte nicht in das Weltbild (Gregor-Dellin spricht von einer "verkappten Religion"), das Wagner sich in diesen Jahren nach all den Diskussionen mit den 1848er Revolutionären zurecht legte und das ihm die nötige innere Sicherheit geben sollte, um dann seine großen Opern zu schreiben.

Für ihn hatten die Griechen mit den Tragödien von Aischylos und Sophokles das große künstlerische Vorbild geschaffen. Dort waren die unterschiedlichen Künste noch vereint, und die Kunst war von allen in ihrer umfassenden politischen und religiösen Bedeutung anerkannt. In der Kunst konnte es gewagt werden, sich bis zu solchen Tragödien wie dem Prometheus von Aischylos aufzuschwingen, in der die offene Revolte gegen die führenden Götter auf die Bühne gebracht wurde. Nur wenn Kunst so weit zu gehen vermag, und von einem Volk und einer politischen Gemeinschaft getragen ist, das solcher Ideen fähig ist und in ihnen seinen tiefen Ernst erkennt, dann ist sie lebensfähig.

Aber die griechische Kunst ging unter. Die griechische Polis konnte nicht damit fertig werden, dass sie einen großen Teil ihrer selbst in den Sklavenrang gedrückt hatte. Wer andere versklavt, nimmt schließlich selbst Sklavenmoral an. Wagner dachte durchaus revolutionär. Dies führte in die römische Republik, wo schließlich in allen gesellschaftlichen Schichten das Sklavendenken dominierte. Als Antwort darauf entstand das Christentum, das die allgemeine Sklaverei damit rechtfertigte, dass das Leben nur in Sünde möglich ist und der Mensch in dieser Welt nicht anders als in Sklaverei leben könne. Das Christentum wandte sich damit gegen die letzten Reste, die noch von der griechischen Lebensfreude übrig geblieben waren. Alles, was Nietzsche über Sklavenmoral und Christentum zu sagen hatte, ist bei Wagner vorgebildet. Allerdings hat Nietzsche dann dessen antisemitische Konsequenzen keineswegs übernommen.

Weiter mit Wagner: Erst als dann Jahrhunderte später die Kirche ihre Macht nicht mehr halten konnte und dank Aufklärung und Französischer Revolution ein völliger Neuanfang möglich schien, setzte er alle Hoffnungen auf die Revolte. Ganz ähnlich wie Bakunin, sein anarchistischer Mitstreiter in Dresden, erwartet er durch die Revolution die Wiedergeburt der Religion. Und er will aus der Geschichte lernen: Aus dem Untergang von Staat und Kirche könne jetzt eine neue Kunst nach dem Vorbild der griechischen hervorgehen, nun jedoch ohne Ausschluss der Sklaven.

Dies Weltbild wurde so ausführlich zitiert, um zu zeigen, wie dort das Christentum ausschließlich als eine Phase der europäischen, im Ganzen im Grunde heidnischen Entwicklung dargestellt wurde. Wenn Wagner zugleich den Anspruch hatte, mit diesem Weltbild das "Reinmenschliche" darzustellen, also die Geschichte aller Menschen, dann fällt natürlich auf, wie sehr das Judentum ein Fremdkörper sein musste. Das Judentum steht hier als das für Wagner sichtbarste Beispiel aller nicht-europäischen Kulturen. Sein Hass auf das Judentum ergibt sich daraus, dass es zu stören droht, wenn aus der griechischen Tradition das "Reinmenschliche" in der Kunst neu zur Welt gebracht werden soll.

Wenn Wagner sich dann Stoffe aus den europäischen Heldensagen suchte, um seine Oper der Zukunft zu dichten und zu komponieren, drohten ihm die Juden durch ihre schiere Existenz zu zeigen, wie sein Weltbild zu einseitig aufgebaut war. Und hier ist Gregor-Sellins Hinweis auf die "verkappte Religion" völlig berechtigt: Über solche Fragen ließ Wagner nicht mehr mit sich reden, hier war er Dogmatiker und stieß mit der Geste des Widerwillens alles weg, was ihn infrage stellen könnte.

1998 fand in Bayreuth ein Kongreß Wagner und die Juden statt, über den es im Internet einen ausführlichen Bericht gibt. Dort ging es jedoch stärker um psychologische Erklärungen und Analysen der Nachwirkungen bis zum Holocaust, während der Zusammenhang mit den eigenen 48er revolutionären Ideen Wagners nicht angesprochen wurde. Dies ist für mich jedoch die spannende Frage, die tief in das Selbstverständnis der westlichen Kultur hineinreicht.

Mallarmé und Wagner: Die innere Kraft der Worte oder die Macht des Archetypos

Leider gibt es nur wenige Autoren, die auf solche Weise Schwierigkeiten bereiten wie Mallarmé. Denn das ist wirklich anregend, und alle Anstrengungen, in seine hermetische Welt Einblick zu gewinnen, lohnen sich.

Mallarmé (1842 - 1898) war eine Generation jünger als Wagner (1813 - 1883). Das Interesse an Wagner wurde ihm über Baudelaire vermittelt, der sich 1861 gegen das blasierte Pariser Publikum des Jockey Clubs stellte, als dieses Wagners Tannhäuser-Aufführung ausgepfiffen hatte und Wagner nach 3 Aufführungen Paris enttäuscht wieder verließ.

Mallarmé und Wagner gingen von der gleichen Erfahrung aus, dass die Religion ihre kultische Kraft verloren hatte und dadurch die moderne Gesellschaft in eine Krise gestürzt war, deren Ursachen und Folgen auch nicht annähernd abzusehen waren. Unerfüllbarer Wunsch nach Zerstreuung, Ablenkung und Bequemlichkeit traten an die Stelle, die früher ganz natürlich und vermittelt durch Traditionen die religiösen Kulte erfüllt hatten. Beide sahen nur in der Kunst einen möglichen Ausweg, und auch das nur, wenn es der Kunst gelingt, zu einem neuen Verhältnis von Wort und Ton, Literatur und Musik zu finden.

Mallarme

Édouard Manet: Porträt Stephane Mallarmé, 1876; Urheber: Von Édouard Manet - Unbekannt, Gemeinfrei, Link

Literatur hatte allerdings für Mallarmé eine ganz andere Bedeutung als für Wagner. In Frankreich gab es eine lange Tradition des Hommes de lettre: Wörtlich sind das Menschen, die aus Buchstaben bestehen. Für sie prägt erst literarische Bildung den Charakter eines Menschen, wobei sie nicht nur gern lesen und ins Theater gehen, sondern auch laienhaft Texte und Gedichte schreiben und aufführen. Das bildet eine innere Haltung, in der sich das Individuum getragen weiß von einer übergreifenden Schrift-Kultur. Sowohl in Frankreich wie in England sind bis heute berühmte Politiker stolz darauf, wenn sie sich in dieser Weise als Hommes de lettre verstehen. Das prägt natürlich eine ganz andere Kultur als etwa in Deutschland, wo sich umgekehrt Politiker damit brüsten, wenn sie sich nicht mit so etwas und schon gar nicht mit avantgardistischen Tendenzen abgeben.

Wichtig für diese Kultur war ihre Beständigkeit. Und da war Mallarmé von der schockierenden Erfahrung getroffen, dass in Frankreich nach 1800 die Struktur des klassischen Verses (insbesondere die strengen Alexandriner) zerbrach, und eine völlig neue Poesie im Entstehen war, die mit ihren eigenen Metren und Metaphern darauf reagierte.

Diese Erfahrung entspricht der Situation, mit der Wagner sich konfrontiert sah, als mit der Klassik - konkret mit Bach, Hadyn, Mozart und Beethoven - die Musik an eine Grenze gekommen war, wo etwas Neues, eine "Zukunftsmusik" entstehen musste.

Beide erlebten, wie Kunst ganz auf ihre Anfänge zurückgeworfen war, und wie der Ursprung von Kunst tiefer zu verstehen ist.

Hier trennten sich ihre Wege und warfen damit eine Frage auf, die mir bis heute die Grundsatzfrage jeder Neuen Kunst zu sein scheint.

Für Mallarmé war die Kunst in ihre elementaren Bestandteile zerfallen, und es ist die große Aufgabe der Poesie, diese Elemente auf solche Weise neu zu ordnen, dass sie ihre innere Kraft neu zeigen können. Mit den Elementen meint er vor allem die Worte, die er aber ganz neu versteht: Sie haben in ihrem eigenen Klang, im Rhythmus ihrer Silben eine eigene Körperlichkeit. Sie verweisen auf etwas Sinnliches, das sie zum Teil klarer wiederzugeben vermögen, zum Teil aber auch verfehlen müssen, da sie keine direkte sinnliche Erfahrung ersetzen können. Durch ihre Körperlichkeit und ihren Signalcharakter haben die Worte aus sich selbst heraus die Tendenz, sich zu Versen, Gedichten und Texten zusammenzuschließen. Es ist die Aufgabe der Poesie, diese innere Kraft zu gestalten. Wenn das gelingt, entbindet die Poesie aus den Worten die Musik wie auch die verloren gegangene Religion.

Mallerme Würfelwurf

Stéphane Mallarmé: Un coup de dés jamais n'abolira le hasard
Maquette autographe (April-Mai 1897).
Urheber: Par Stéphane Mallarmé - Sotheby's, Domaine public, Lien

Der Erfolg der Poesie muss sich daran messen, ob sie ihre Leser und Hörer derart anzusprechen vermag, dass sie davon ergriffen und ihrerseits in Bewegung versetzt werden. Bis das gelingt, bleibt die Poesie eine hermetische Werkstatt, verständlich nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten, die an dieser Aufgabe arbeiten, ohne wissen zu können, ob und wann sie Erfolg haben werden.

Diese Zirkel von Künstlern müssen sich von der vorherrschenden Kultur absondern und erscheinen dieser als Kranke und Entartete. In Deutschland hatte sich die Kritik an der "kranken Musik" von Schumann, Liszt und Wagner in den 1890ern zur Parole der "Entartung" von Max Nordau verschärft, und Mallarmé setzte sich direkt damit auseinander. Denn er verstand genau, dass Theoretiker wie Nordau im Grunde Angst davor hatten, solche Entartung könne die Gesellschaft überfluten, dass sie also spürten, wie hier Kunst im Entstehen war, die neue religiöse Bedeutung bekommen könnte. Wird dann noch darauf hingewiesen, dass Nordau ein Jude war, der sich offenbar unter dem Druck der Assimilation überangepasst hatte, zeigt das, wie verfahren alles geworden war.

Auch Wagner war damit immer konfrontiert. War sein Bündnis mit Ludwig II von Bayern nur ein Zufall? Verstanden sie sich nicht doch irgendwo im Innern? Und spürte er nicht immer, dass er in der Gesellschaft ein Fremdkörper war, so sehr Cosima ihn auch mit einem schönen Schein zu umgeben versuchte?

Und doch ging Wagner einen anderen Weg als Mallarmé. Er suchte nicht wie Mallarmé die Kraft in den einzelnen Elementen der Kunst. Seine Theorien über die Worte, den Vers, die Reimfiguren in "Oper und Drama" bleiben letztlich blass und ohne klare Konsequenz. Stattdessen sucht er nach Archetypen, die an der Grenze von Mythos und Geschichte vom Volk geschaffen worden waren, und nun nach dem Untergang der Kirche eine neue Chance zur Wiederbelebung bekommen.

Die Kraft der Archetypen zeigt sich darin, wie sie das "Ahnungsvermögen" des Menschen anzusprechen vermögen. Wagner schreibt in Oper und Drama:

"Die Ahnung ist die Kundgebung einer unausgesprochenen, weil - im Sinne unserer Wortsprache - noch unaussprechlichen Empfindung. ... Eine solche ahnungsvolle Stimmung hat der Dichter uns zu erwecken, um aus ihrem Verlangen heraus uns selbst zum notwendigen Mitschöpfer des Kunstwerkes zu machen. Indem er dieses Verlangen uns hervorruft, verschafft er sich in unserer erregten Empfänglichkeit die bedingende Kraft, welche die Gestaltung der von ihm beabsichtigten Erscheinungen gerade so, wie er sie seiner Absicht gemäß gestalten muß, einzig ihm ermöglichen kann." (Wagner Oper und Drama, S. 344f)

Besser kann der Punkt nicht bezeichnet werden, wo Wagner und Mallarmé übereinstimmen, und wo dann die Kritik Mallarmès ansetzt. Wenn es den Opern von Wagner mit ihren Mitteln gelingt, beim Hörer ein Gefühl zu erwecken, das weit über die Oper und ihre Mittel hinausgeht, das ihn das Göttliche fühlen und wiedergewinnen lässt, dann ist Wagner gelungen, was auch Mallarmé sich wünscht. Doch hat Mallarmé Zweifel. Er befürchtet, dass die zur Institution erstarrte Oper Wagners diese Freiheit nicht zu schenken vermag, sondern dass Wagner mit seinem Versuch, den von ihm aufgenommenen Archetypen (sei es der fliegende Holländer, Siegfried, Tristan und Isolde oder Parzifal) fast den Erfolg zu erzwingen, sich schließlich in die Maschinerie der Unterhaltungsindustrie integrieren lässt, von deren Kritik er ausgegangen war.

Beardsley, Aubrey (1893) "How La Beale Isoud Nursed Sir Tristram"; Link

Dennoch bleibt zum Schluss die äußerst anregende philosophische Frage nach dem Verhältnis der Kraft der Worte und der Macht der Archetypen. (Auf die gleiche Frage ist im 20. Jahrhundert auch die Naturphilosophie gestoßen, seit sie gezwungen ist, ein neues Naturverständnis zu gewinnen, in das sie sich die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft integrieren lassen.)

Parsifal am Staatstheater Mainz 2008-09

Premiere in Mainz am 12. September 2008. Musikalische Leitung Catherine Rückwardt, Inszenierung Sandra Leupold, Bühne Tom Musch, Kostüme Marie-Luise Strandt. Parsifal: Alexander Spemann, Kundry: Ruth Maria Nicola, Gurnemanz: Hans-Otto Weiß, Amfortas: Dietrich Greve. Titurel: Ion Grigorescu, Klingsor: Peter Felix Bauer. -- Zur Ouvertüre steht eine große Menschenmenge in abgerissener Kleidung auf der kahlen Bühne. Sie sehen so aus, als warten sie vor einem Discounter, in dem es gleich ein besonderes Billigangebot geben wird, Schnitzel für 1 EUR oder so etwas. Die Musik kommt für sie unerwartet, sie wissen nicht, was sie davon halten sollen und bleiben wie erstarrt stehen. Zwei Kinder setzen sich auf den Boden, geben sich dem Klang hin. Soll das eine Verhöhnung des Werks von Wagner werden, dessen Texte bisweilen eine unfreiwillige Komik enthalten, seltsame Figuren, fremde Charaktere, und selbst die Musik scheint manchmal etwas zu entgleiten?

Es gibt keine Bühne. An den Seitenwänden kleiden sich die Sänger um. Das heißt, sie werfen sich billige Hemden über, die wie aufgeschnittene blaue Müllsäcke aussehen. Offenbar hat ihnen jemand für wenig Geld angeboten, in irgendeinem Stück mitzuspielen. --- Im Publikum begann es unruhig zu werden. Die Musik wird recht zügig gespielt. Blech und Pauke dominieren.

Da wird Kundry angekündigt. Das Personal auf der Bühne wird wie von einem fernen Sturm ergriffen. Alle starren zum Himmel, als ereigne sich dort ein übernatürliches, noch nie gesehenes Schauspiel. Sie reißen die Arme hoch, wie magisch angezogen, geraten in Bewegung, sind nicht mehr Herr ihrer Sinne und erleben offensichtlich eine Art religiöser Erscheinung. An einem Seil springt Kundry mitten hinein und liegt dort hingeworfen wie eine räudige Katze, übernächtigt und zerschlagen.

Die Zuschauer beginnen zu verstehen: Diese Menschen haben keine Requisiten. Ihnen fehlen alle luxuriösen Unterstützungsmittel. Ihr Verhalten und ihre Gesten sind völlig direkt und nackt. Sie können sich nicht verstecken hinter gehobenem Kulturmüll. (Sandra Leupold greift im Begleittext die Publikumsschelte von Wagner und Nietzsche an denen auf, die nur aus Langeweile in die Oper strömen.) Und nun kommt alles auf die Sänger an, ob sie bereit und fähig sind, dieses Konzept zu tragen und zu verwirklichen. Die einfache Kleidung, die asketische Umgebung erscheint plötzlich wie die kahle Bühne einer griechischen Tragödie, auf der große Gefühle hervorbrechen. Die Spannung ist so geladen, dass Slapstick-Effekte helfen müssen, wieder ein wenig Überdruck herauszunehmen.

Dieses Milieu, das aussieht wie im schlimmsten Trash-TV, bietet dennoch Entwicklungsraum für einen positiven Helden, den Hoffnungsträger des Stücks, Gurnemanz. Er könnte ein alt gewordener Hardrock-Fan sein, aber von ihm geht eine ungeheure innere Sicherheit und beruhigende Wirkung aus. Höhepunkt am Beginn des 3. Akts, als er die in schmerzliche Haltung erstarrte Kundry findet, sich um sie kümmert und sie aus einer Art Totenstarre ins Leben zurückholt.

Diese Oper müsste Kundry und nicht Parsifal heißen. Die Sängerin entwickelt im 2. Akt eine Dramatik, dass es fast spontanen Szenen-Applaus gibt. Wagner hat die Welt im Zustand des Nihilismus beschrieben (Nietzsche). Da sind auf der einen Seite die Männer, die sich in die verschworene und immer weiter verwildernde Ritterschaft abgeschottet haben, verbrämt durch eine unglaubwürdige Erlösungsideologie. So etwas bricht auch heute in allen verslumenden Vororten neu hervor, wo sich der Boden sammelt für neues Raubrittertum, das in den westlichen Zivilisationen drohend vor der Tür steht. Auf der anderen Seite die Frauen, keiner Individualität mehr fähig, zickiges Geschrei, wer am schrillsten auftreten und Erfolg bei Männern haben kann, für einen Tag die Königin sein.

Parsifal ist als der "reine Tor" nicht recht geeignet, die ganze Tragödie dieses Lebens zu zeigen. Am Ende sitzt er verloren im königlichen Umhang von Amfortas. Seine Mannen wenden sich ab, ziehen sich die Opernkleidung wieder aus und verwandeln sich zurück in die Menge der trostlosen städtischen Vororte. Kundry ist tot, und mit ihr eine große Hoffnung auf neue Impulse. Aber auch Klingsor ist entmachtet. So ist völlig offen, wie es weitergeht.

Kundry lässt beim Zuschauer ein tiefes Gefühl zurück. Was hat Wagner eingegeben, eine solche Frauengestalt zu entwerfen? Was später Bulgakow in Der Meister und Margarita dem satanischen Voland zuschrieb (den meisten wohl eher über das Lied der Rolling Stones Sympathy for the devil bekannt), ist hier in Kundry vorweggenommen und auf eine Frau übertragen. Als sie die Lächerlichkeit der Männerwelt erlebte und dafür nur Hohn empfinden konnte, verlor sie darüber das Unterscheidungsvermögen und ließ sich dahin treiben, auch den sterbenden Jesus auszulachen. Das nahm ihr alle Selbstachtung. So behielt sie zwar ihre weibliche Weisheit, ihre Fähigkeit, Männer verstehen und beflügeln zu können, aber doch innerlich gebrochen in eine Verführungskunst, die ihr selbst und ihren Partnern tiefe Schmerzen zufügt und alle an ihrem Menschendasein zweifeln läßt.

Das machte sie innerlich bereit, sich dem Zyniker Klingsor zu unterwerfen, der vertrieben aus der Männerwelt mit ihr auf Rache sann und Amfortas mit ihrer Hilfe überrumpelte. Die Erzählung der Oper verliert sich hier an vielen Punkten in nicht ganz verständliche mythologische Ideen. Aber wahrscheinlich wollte Wagner genau diese innerliche Beliebigkeit zeigen, an der er selbst nicht weniger litt als Nietzsche.

Nur selten gehe ich in die Oper, aber dieser Abend hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Literaturhinweise

Martin Gregor-Dellin: Richard Wagner, München Zürich 1980

Stéphane Mallarmé: Werke (2 Bd.), Gerlingen 1998

Richard Wagner: Das Judentum in der Musik
in: ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 5, Leipzig 1911
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Richard Wagner: Oper und Drama, Stuttgart 2000 (Reclam)

© tydecks.info 2008 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum, mehrere Beiträge 2006, 2008