Walter Tydecks

 

Ingeborg Bachmann und die Musik in Wien

Mein Ungargassenland - die geschundene Seele von Wien

Besuch bei observator am 18./19.8.2007

Gibt es eine schönere Liebeserklärung an Wien als "Malina" von Ingeborg Bachmann, und konnte jemand stärker missverstanden werden? Observator (Pseudonym eines Mitglieds im Tamino-Forum) ergänzte sogleich das Gedicht "Große Landschaft bei Wien" aus ihrem ersten Gedichtband "Gestundete Zeit". Das traf mich, gibt es da doch mehrere persönliche Berührungspunkte: Meine Vorfahren mütterlicherseits waren als Protestanten aus Österreich vertrieben worden, mitten in der keineswegs immer so freien und toleranten Zeit der Aufklärung, während meine väterlichen Vorfahren weiter im Norden in dem an die Memel angrenzenden Gebiet ebenfalls den asiatischen Sturm spürten (für Literaturinteressierte sei auf die Gedichte von Johannes Bobrowski hingewiesen).

Das hat mir den Blick auf Wien geöffnet. Die Stadt schmiegt sich in eine Mulde zwischen der Donau und den nördlichsten (und östlichsten) Höhenzügen der Alpen, sehr schön von den gegenüberliegenden Hügeln aus zu sehen. Sie kann wie ein Nest wirken, Schutz gewährend, wo ungeheurer Reichtum angesammelt ist. Richtig das Leben genießen kann sie aber eher auf der östlichen Seite der Donau, seinen Weinhügeln, Heurigen-Lokalen, einem Labyrinth von Klamm-Einschnitten, wenn bei schönem Wetter Zeit und Raum still zu stehen scheinen und mit "Sturm" keine Gefahr aus dem Osten, sondern der noch nicht ausgegorene Junge Wein (der "Federweiße") gemeint ist. Nur ein Anzeichen der heutigen Zeit zeigt sich auch hier: da wird nicht mehr im angetrunkenen Zustand fröhlich gesungen, keine Volkstänze und keine Dorfmusikanten in den Gassen, sondern aus Lautsprechern die überall präsente Musik der Hit-Sender. Aber doch ist hier bis heute zu spüren, aus welcher Umgebung die Musik Schuberts entstanden ist, und nirgends anders als hier hat entstehen können.

Mitten durch Europa verläuft eine Linie, bis wohin Asien zu spüren ist. Ist das ein europäisches Vorurteil? Kamen aus dem Osten nur die Unzivilisierten, die Hunnen? Ingeborg Bachmann will das in ihrem Märchen von der Prinzessin von Kagran, auch dies ein Stadtteil östlich der Donau, umkehren: Die Prinzessin war aus dem frühen Ungarn gekommen, und ihren Nachkommen bot die Ungargasse bei ihren Aufenthalten in Wien Bleibe und Bewirtung. Ich finde, observator hat eine wunderschöne Tradition Wiens aufgegriffen und bewahrt. Kann es ein Zufall sein, dass eine Tochter mit türkischen Vorfahren bei ihm wohnt?

Die Geister der Donau und der Ebenen brachten aber auch Böses und Unheilvolles. Die einzige Besichtigung führte an dem Konvikt, in dem Schubert zur Schule ging, vorbei in die Jesuitenkirche. Der Glanz des Barock ist wie umgeschlagen. Schwarz gescheckte, spiralenförmige Säulen winden sich wie Schlangen an den Seiten empor, und doch starr, kalt, statisch. Tiefgrüne, giftige Farben. Seitenaltare angelegt wie irgendwie falsch gebaute Erker. Über dem Altar sind eine Krone und zwei von Engeln gehaltene auseinanderstrebende rote Tücher so angeordnet, als würde in ihnen ein unsichtbarer Geist stecken, in bedrohlicher Nähe. Diese Kirche regt nicht an zu versöhnlichen Gedanken. (Das Thema Jesuiten und Illuminaten und ihre Einflüsse auf die Wiener Klassik beschäftigt mich sehr.)

Jesuitenkirche aJesuitenkirche b

Wien, Jesuitenkirche;
Urheber Bild links: Von Georges Jansoone - Eigenes Werk, CC BY 2.5, Link
Urheber Bild rechts: Von Georges Jansoone - Eigenes Werk, CC BY 2.5, Link

Auf der Orgel wurde eine Improvisation geübt. Sie traf anfangs genau den Ton dieses auf beklemmende Weise sakralen Raums: etwas süßlich, mit enharmonischen Täuschungen, ein langsamer und doch zugleich unruhiger Rhythmus, ganz ohne erkennbares Ziel. Als fühlte sich der Geist dieser Kirche erkannt, würgte er die kreative Kraft ab, und der Organist fand kein Ende und manövrierte sich in ganz andere Stilepochen, die nicht zusammenpassten. Da kam ungeduldig ein Kirchendiener und wies alle an, nun zügig die Kirche zu verlassen. Wir gingen zurück in die Ungargasse und konnten bei schöner Abendluft lange auf dem Balkon bleiben.

Als ich am Tag darauf mittags bei unerträglich schwül gewordenen Temperaturen die Ungargasse entlangging mit einer Broschüre, die über alle informiert, die hier einmal gewohnt haben - Beethoven hat hier die 9. Sinfonie vollendet, wo auch sonst? - Haydns Frau, mit der er nie glücklich wurde, war ein paar Häuser weiter aufgewachsen - dazwischen eine Klaviermanufaktur, in der Liszt, Brahms und Clara Schumann regelmäßig verkehrten, der Inhaber schrieb später, hier habe er den in Wien reich gewordenen Brahms bewegt, die verwitwete Clara Schumann auf anonymen Kanälen materiell zu unterstützen - um nur die Beispiele aus der Musikgeschichte zu nennen - diese Ungargasse hat einen eigenwilligen Grundriss: In einem großen, aber nicht gleichmäßig geschwungenen Bogen zieht sie vom Heumarkt bis zum Rennweg. Sie wird mal breiter und mal schmaler. Kein Baum spendet Schatten, besser sieht es da in einigen Seitengassen wie der Neulinggasse aus. Der unregelmäßige Verlauf hat dazu verführt, später scheinbar völlig planlos die hässlichsten Neubauten kreuz und quer hineinzustellen, am schlimmsten an der Kreuzung zum Rennweg, an der ein ewig langer Neubau seitwärts hineingedrängt wurde, bis die Ecke noch über den Bürgersteig hinaus ragt. Das tut richtig weh, wie die Stacheln widerspenstiger Gewächse.

Ungargasse

Ungargasse mit Blick auf die Kreuzung mit der Beatrixgasse, in der Adalbert Stifter und Ingeborg Bachmann wohnten;
Urheber: Von Gugerell - Eigenes Werk, CC0, Link

In der Ungargasse hörte ich ein Stück des Kurzstückmeister (Pseudonym eines Mitglieds im Tamino-Forum). Es trifft den Moment der völligen Dissoziation, an dem alle Erinnerungen an die Natur ausgelöscht sind, es könnte in einen Film wie die "Odyssee 2001 im Weltraum" passen, und er scheint eine gewisse ästhetische Freude daran zu empfinden. Ist hier das Endstadium vorausgeahnt, wohin sich die Ungargassenwelt noch wandeln kann? Welche Steigerungen des Verfalls möglich sind, zeigt an ihrem Ausgang die Invalidengasse, besonders an einem Sonntagmorgen, wenn kaum jemand auf der Straße ist. In der Parallelstraße die Musikakademie. Von außen wirkt sie nicht besonders einladend und zu neuen Tönen anregend. Ein großer geschotterter Parkplatz, nichts, was blüht oder geerntet werden kann.

Niemand kann beweisen, ob es eine Seele gibt, wo sie ihren Ort haben soll, und erst recht nicht, ob eine Stadt etwas Lebendes ist. Ingeborg Bachmann hat das alles beantwortet: durch ihre Liebeserklärung ist diese Gasse wie zu einer Seele wachgeküsst. Ein trauriges Bild: da liegen bisweilen die Knochen frei, Muskelfetzen, Sehnen und Bindegewebe hängen herum, aber es ist eine Seele. Wer angesichts der Jesuitenkirche das Gottvertrauen verlieren kann, kann es in dieser geschundenen Straße wieder finden.

Soll noch ergänzt werden, was diese Gasse von der Innenstadt trennt, ein wahres Trümmerfeld disparater Eindrücke: eine bis auf die Straßen hinaus überfüllte polnische Kirche mit einem Standbild Johannes Paul II davor; das wohl einzige in Europa erhalten gebliebene Denkmal zu Ehren der Siege der Roten Armee im 2. Weltkrieg, nur wenige Hundert Meter von einer russisch-orthodoxen Kirche entfernt. Der Prunk des 1. Bezirks, der sich von hier aus gesehen wie eine abweisende Burg gepanzert hat, Eintritt nur für geschlossene Gesellschaft. Das Konzerthaus will mithilfe deutscher Musik die guten Geister bannen (merkwürdige Formulierung), und erinnert auf angebrachten Tafeln pflichtgetreu an die beiden Juden Gustav Mahler und Leonard Bernstein, die nach 1945 als Aushängeschild einer politisch korrekten Neuentwicklung dienen sollten. Gleich daneben ein trostloser "Sand in the City", wie auf einem nur notdürftig hergerichteten Trümmergrundstück, aus dem ganze Pulks von Japanern kamen, und gleich daneben wieder teure Hotels, aus deren Fenstern große silberne Sektkübel prangen, um möglichst viel gutes Geld in Wien zu bannen.

Diese Stadt ist etwas Besonderes. Nochmals vielen Dank an den Observator für die freundliche Aufnahme.

Musik und das Absolute im Zyklus "Todesarten" von Ingeborg Bachmann

Einleitung

"[Musik] hilft mir, indem sich in ihr für mich das Absolute zeigt, das ich nicht erreicht sehe in der Sprache, also auch nicht in der Literatur, weil ich sie für überlegener halte, also eine hoffnungslose Beziehung zu ihr habe." (Bachmann)

Ingeborg Bachmann (1926 - 1973) hatte ursprünglich Komponistin werden wollen. Nach 1945 studierte sie jedoch Philosophie und promovierte über Heidegger. Um so überraschender kam ihr kometenhafter Erfolg als Dichterin, zuerst bei der Gruppe 47 und dann als Titelfigur des "Spiegel" vom 18.8.1954. In einem einfühlsamen Essay hat Ulrike Draesner auf das problematische "Autorinnenklischee" aufmerksam gemacht, das ihr teils vorgegeben und teils von ihr selbst gestaltet wurde. Das gab ihr materielle Unabhängigkeit und öffnete ihr viele Türen, war aber auch mit großen Erwartungen verbunden, mit denen sich das private Leben immer schwerer vereinbaren ließ.

Viele Jahre hatte sie mit Henze zusammen gearbeitet und kannte auch Hartmann und Nono persönlich. Henze wurde 1957 in Donaueschingen demonstrativ von Boulez, Stockhausen und Nono geächtet, als er Gedichte von ihr vertont hatte, das sei zu "kitschig". 1958 - 62 lebte sie mit Max Frisch (1911 - 1991) zusammen. Die Trennung war für sie ein Trauma. Bis heute bleibt der Name Frisch in fast allen Bachmann-Biographien unerwähnt, alle wichtigen Quellen sind gesperrt. Sie fühlte sich wie gelähmt, jetzt nachzulesen in den im Jahr 2000 erschienenen "Unveröffentlichten Gedichten" der frühen 1960er Jahre. 1964 begann sie ihr "Todesarten"-Projekt.

Hatten Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal in Theaterstücken wie "Reigen" und "Der Schwierige" den Zerfall bürgerlicher Lebensformen vor dem 1. Weltkrieg auf die Bühne gebracht, dann beschreibt Bachmann, was aus deren Kindern und Enkeln unter dem Eindruck zweier Weltkriege und dem Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie geworden war (einige Eigennamen werden direkt übernommen, z.B. die Altenwyls).

Der Roman "Malina" und die überlieferten Entwürfe beschreiben nicht nur ein Trauma, ihnen ist selbst das Trauma anzumerken. Die Sprache ist zerrissen, der Aufbau scheinbar willkürlich, und doch hat jedes Wort seinen genauen Platz, kein Wort kann entfernt werden ohne den ganzen Zusammenhang aufzulösen. Bachmann hat hier bewusst das Ideal von Schönberg aufgenommen, der auf solche Weise komponieren wollte. Hans Werner Henze begrüßte es begeistert als "die 11. Sinfonie von Mahler", den beide als wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts verehrten.

Parallelen zu Thomas Bernhard sind unübersehbar. Bachmann hatte einige Jahre engen Kontakt zu ihm. Sie will das Absolute gestalten, was eigentlich nur mit Musik möglich ist, von dieser aber offenbar nicht mehr geleistet werden kann. So muss die Literatur einspringen. Und sie stellt sich dem Absoluten im Leben, kann es aber nur als Medienfigur zum Erscheinen bringen, während ihr persönliches Leben daran scheitert.

Weil es ihr um das Absolute geht, muss die Kluft als unendliches Opfer erscheinen. Der Horizont ihrer Themen wird immer weiter, findet nirgends Halt. Und doch scheint dies der einzige Ausgangspunkt zu sein, um ein Verständnis für die Rolle der klassischen Musik nach 1945 zu finden.

"Der Fall Franza" - und bei Karajan in der Oper

Martin Ranner findet seine ältere Schwester Franziska in einem verwüsteten Zustand vor. Sie war in Wien mit dem deutlich älteren, sehr angesehenen Psychotherapeuten Leo Jordan verheiratet. Er hatte sie als Studienobjekt benutzt und ihre persönlichen Erfahrungen so zurechtgebogen, dass sie in sein Theoriekonzept passten und es bestätigten. Eine Veröffentlichung über ihren "Fall" war nur eine Frage der Zeit, um seinen Ruhm zu mehren und sie dann durch die nächste Frau zu ersetzen als Vorlage für den nächsten Fall. Die Entdeckung dieses Vertrauensbruches und der nachfolgende Bruch ihrer Beziehung waren ein Trauma, aus dem sie sich nicht befreien konnte. Sie fühlte sich bloßgestellt, entehrt und buchstäblich unmöglich geworden in der ganzen Welt des vornehmen Wiens, das für sie die Welt Leo Jordans geworden war.

Max Frisch in Rom 1964, Fotografie von Pia Zanetti. Bachmann sah sich in der Figur Lila in seinem Roman "Mein Name sei Gantenbein" "ausgeschlachtet". Die nächste und die frühere Geliebte von Frisch führten dann ähnliche Klagen gegen dessen "Montauk". Link zum Bild: fotozanetti

Ohne das Verhalten ihres Mannes und seiner Gesellschaftsschicht im Geringsten rechtfertigen zu wollen, stellt sich dem Leser dennoch die Frage, was Franzas innere Widerstandskräfte so völlig hat zusammenbrechen lassen. Da waren ihr Vater, die traumatischen Kriegserfahrungen, dessen Ende sie als 15jährige in Galicien (einem Dorf in Kärnten) erlebte, die Berichte von den KZs (ihr Mann hatte auch eine Studie über die Menschenversuche geschrieben).

Bei Kriegsende hatte sie einen englischen Offizier kennen gelernt, den sie wie ein Idol verehrte und zu dem sie erste Liebesgefühle empfand. Als er eine ältere Frau als Partnerin fand, konnte sie sich mehr darüber freuen als die beiden selbst. Zum Abschied küsste er sie unschuldig auf den Mund, für sie die "englischen Küsse". Ihr späterer Mann verstand sehr gut, dass dies kein Anlass für Eifersucht war, sondern viel schwerwiegender: Hier war ein frühes Gefühl erwacht, dass unwiederholbar und unerfüllbar war. So war es auch ein Stück Neid auf eine tiefe Empfindung, die ihm nie möglich geworden war und für immer verschlossen bleiben würde, als er mit seinen psychotherapeutischen Theorien alles etwas lächerlich machte und sie als "Fall" darstellte, obwohl doch sie im Gegensatz zu ihm echter Gefühle und eines Verhaltens ohne Berechnung fähig war.

Um so tiefer der Schock, als sie den Engländer am Rande einer Dienstreise, auf der sie ihren Mann nach London begleitete, wieder traf und verraten wurde. Nicht von ihm persönlich, sondern von der ganzen Situation. In Bachmanns unnachahmlicher Sprache:

"Er fragte sie, aus welchem Land sie komme und ob sie zum erstenmal in London sei, und sie sagte, London gefalle ihr sehr, aber sie habe zu wenig gesehen, und nach der vierten Frage und Antwort überlegte sie, ob es den Club erschüttern könne, wenn sie eine Frage stelle, die nicht ganz sinnlos war, und sie fragte, kennen Sie Österreich? Und er war nicht erschüttert, und auch der Club brach nicht zusammen, das war also eine noch durchaus mögliche Frage, die in den Grenzen des Anstands blieb. Er sagte ja, leider zu wenig, einmal in der Oper, Karajan, und sie fragte, und das Land kennen Sie nicht? Er sagte, ja, doch, ein wenig, und jetzt zitterte der Club doch vor Abscheu wegen seiner Direktheit, kurz nach dem Krieg, bei Kriegsende mit der Armee, und vor einer weiteren Direktheit errettete ihn eine Dame, die erfreut war, ihn wiederzusehen. Franza verstummte." (S. 53)

Bei Karajan in der Oper: die Musik ist das, worüber über Österreich gesprochen werden darf. Die Musik ist nicht mehr etwas, um in Tönen ausdrücken zu können, was sich in Worten nicht sagen lässt, sondern umgekehrt die Hülse, um nicht sprechen und erinnern zu müssen. Die Musik als das Gegenteil von Direktheit, die in diesem "Club" nur noch "Abscheu" auslöst. Direktheit ist nur noch den Opfern von traumatischen Erfahrungen möglich. Nach dieser bitteren Enttäuschung hatte Franza ihrem Mann, dem "Fossil", nichts mehr entgegen zu setzen.

"Malina" - und der Stadtpark von Wien

Die Erzählerin verstummt am Ende, verschwindet in einem Riss ihrer Wohnung, hat vielleicht eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Sie hat Angst vor einem Tod durch Verbrennen, wie es Ingeborg Bachmann geschah, als sie kurz nach Erscheinen dieses Romans in ihrem Zimmer in Rom mit einer brennenden Zigarette einschlief und im Krankenhaus an der Behandlung mit falschen Medikamenten starb, da die behandelnden Ärzte ihre Medikamentenabhängigkeit nicht kannten. (Erinnert das nicht an den Tod von Sabeth in Max Frischs "Homo faber", die ebenfalls überlebt hätte, hätten die Ärzte von ihrer Vergiftung, ihrem wahren körperlichen Zustand gewusst?)

"Es war Mord", schließt der Roman. Vor ihrem Tod sieht sich die Erzählerin geradezu obsessiv von eigenen Mordphantasien verfolgt, als ihr Freund Ivan sie verlassen will. Ist er mit seiner Gefühlskälte und Distanziertheit ihr gegenüber der Mörder? Ist es ein geheimes Einverständnis zwischen den Männern, die in ihrer frühen Kindheit als deutsche Besatzer in Klagenfurt einzogen, den Mördern an den Juden, die Übermacht des Vaters, die leere Geschäftigkeit von Ivan, wodurch er unfähig wird, jemals auf sie einzugehen, der fehlende Schutz durch die innere männliche Seite, Malina? Ist es ihr eigenes Schreiben, wodurch sie den Kontakt zum Leben verliert, wie andere sagen?

Ich verstehe "es war Mord" ganz wörtlich: Da gibt es keinen überführbaren Mörder, sondern ihre ganze Umgebung, ihre Zeit, ihre Lebensumstände, "es alles", das sind der Mord. Der Mord ist diffus geworden. Er nistet in den leeren "Ivansätzen", wenn sich Ivan am Telefon nie festlegen will, in den Alpträumen, die alle mit "Mein Vater ..." beginnen. Er hat sich zurückgezogen in eine Sprachstruktur, die keine Schönheit mehr zulässt und ihr unmöglich macht, als Schriftstellerin etwas Schönes zu schreiben, das alle erfreut und glücklicher macht. Und in eine Zeit, die kein Erleben möglich macht.

Was hat das mit Musik zu tun? Gleich neben der Ungargasse befindet sich auf dem Weg in die Innenstadt der Wiener Stadtpark. Obwohl er direkt vor der Haustür liegt, fuhr Ivan für Ausflüge lieber weiter bis "in den Wienerwald, auf den Kahlenberg, bis zu den Schlössern Laxenburg und Mayerling, biss nach Petronell und Carnuntum ins Burgenland". Dagegen gab es zum Stadtpark "eine abstinente und unherzliche Beziehung" (S. 12).

Hat das mit dessen Geschichte zu tun? Kaum waren die Vergewaltigungswellen durch die Siegermächte (Russen, Amerikaner) vorbei, kam es nach 1945 in Wien zu einer "universellen Prostitution" (S. 289), als alle sich öffentlich "in diesem grauenvollen Park" paarten, jede mit jedem. "Aus dieser Seuche hervorgegangen muss man sich die Verhältnisse denken, die heute herrschen" (S. 290). Dieser Park ist kein Rückzugsort in einer modernen Großstadt, sondern alle laufen nur gehetzt hindurch. In diesem Park sieht sie die Bilder von Schönbergs "Pierrot lunaire". "O alter Duft aus Märchenzeit" wird sogar mit Noten zitiert. Jeder weiß, wie verzerrt und abgehackt das bei Schönberg klingt.

In den Straßenkämpfen in Wien starben viele tausende Soldaten und Zivilisten. Die Toten wurden meistens in provisorischen Gräbern in den Parkanlagen Wiens begraben (hier im Bild sind Gräber im Wiener Stadtparks zu sehen). Im Hintergrund genießen die Frauen auf den Parkbänken die ersten Sonnenstrahlen.
Link zum Bild: aeiou

Als Ivan ihre Entwürfe zu den "Todesarten" sieht, sagt er:

"Das gefällt mir nicht, ich habe mir schon so etwas Ähnliches gedacht, und alle diese Bücher, die hier herumstehen in deiner Gruft, die will doch niemand, warum gibt es nur solche Bücher, es muß auch andere geben, die müssen sein, wie ESULTATE JUBILATE, damit man vor Freude aus der Haut fahren kann, du fährst doch auch oft vor Freude aus der Haut, warum also schreibst du nicht so." (S. 52)

Sie sieht ausgerechnet in Wien, dieser Metropole der Musik, die Unfähigkeit, die klassische Tradition fortzuführen. In einem Moment der Verwirrung wechselt sie die Straßenseite zur Ungargasse 5, in der Beethoven die 9. Sinfonie vollendete, "ich bin bei Beethoven in Sicherheit" (S. 319), bevor sie dann wieder "das andere Ufer erreicht", ihre Wohnung auf der anderen Straßenseite, zum Stadtpark hin gelegen. Wo es jetzt nichts dergleichen mehr wie Beethoven oder Mozart gibt, der die Motette "Esultate jubilate" komponiert hatte, wo auch der Stadtpark, der Schönbergs Kreativität angeregt hatte, entweiht ist, muss ihre Literatur einspringen, das Werk fortzuführen, wozu die Musik in Wien nicht mehr fähig ist.

Das übersteigt ihre Kräfte. Sie kann Ivan nicht halten, findet keinen Ausweg aus den Alpträumen und verzettelt sich beim Versuch, sich selbst zu verstehen, in letzten Fragen, ohne Antworten zu finden. Ihr Entwurf des schönen Märchens der Prinzessin Kagran misslingt. Die Symbole der Weiblichkeit und des Glücks - das Wasser, der Strom, der Park, der Mond, die geraden Zahlen der Hausnummern an der dem Stadtpark zugewandten Seite der Ungargasse - können ihr keinen Schutz gewähren. Sie kann keine Schönheit mehr geben, sondern im Gegenteil sind ihr der verbleibende Rest an Sicherheit und Schönheit von Beethoven und Ivan (der in Ungargasse 7 wohnt), also von den Bewohnern der männlichen Seite der Ungargasse, die dem Stadtpark abgewandt ist, gegeben worden. Dem konnte kein Erfolg vergönnt sein.

"Requiem für Fanny Goldmann" - und Musik aus Schallplattenkenntnis

Im Wien der 1950er Jahre kam ein ungleiches Paar zusammen: Fanny Goldmann, eine bildschöne Schauspielerin in Wien, deren Vater Oberst gewesen war und 1938 Selbstmord begangen hatte, sie hatte dann nach 1945 einen Österreich-Heimkehrer aus den USA geheiratet, der nun Kulturoffizier der Amerikaner geworden war, und Anton Marek, 10 Jahre jünger, ein ehrgeiziger Schriftsteller aus der burgenländischen Provinz, voller Minderwertigkeitsgefühle, aber ein traumhafter Liebhaber. "Kurze Zeit später war Fanny ihm hörig."

Für einen Moment hatten beide einander etwas zu geben: Toni fand durch sie Zugang zu der ihm verschlossenen, höheren Gesellschaft, einen Vertrag mit einem angesehenen Verlag und eine interessante Biographie, über die er in seinem ersten Roman schreiben konnte. Die Pointe in seinem Roman war, wie diese Frau, in der Öffentlichkeit immer ganz Selbstbeherrschung und von vollendeter Vornehmheit, ihm im Bett verfallen und für alle Wünsche offen war. Und sie fand endlich, worauf sie lange gewartet hatte, einen Menschen, an dem sich ihr langer aufgestauter Hass entladen konnte. Ihre Schauspielerkonkurrentin Maria Malina, mit der ihr Mann vor ihrer Heirat ein Verhältnis gehabt hatte, war dafür nur eine ungeeignete Vorläuferin.

Voller Hass gab sie sich dann allen Männern hin, in der Gewissheit, jeden mit ihrer Schönheit und ihrem einzigartigen Lachen gewinnen zu können. Es konnte nicht lange dauern, bis sie an Lungenentzündung starb.

Doch ein Bezugspunkt blieb ihr, ihre Liebe zu Schubert. Anton Mareks neue Freundin Karin Krause nahm ohne jede Anteilnahme alles auf, was gerade an Musik beliebt war und als modern und fortschrittlich galt, Vivaldi und Webern. Das blieb ein Stückwerk, konnte ihre Persönlichkeit nicht erreichen.

"Denn Karin Krause sah ganz aus nach der Schallplattenkenntnis Vivaldi, Bach Violinkonzert, dann Webern und Boulez und nichts dazwischen, und vielleicht eine Art Jazz, die auch Fanny mögen konnte, ohne sich je länger als zehn Minuten dafür hinzusetzen. Also warum sollte Toni mit Karin Schubert hören, da war wenig Gefahr. Zu dem einen rosigen Ohr Bach und Vivaldi und zu dem anderen Webern und ...". (S. 175)

Wer war ihr Mörder: der Vater, der sich ohne an seine Tochter zu denken aus politischen Motiven den Tod gegeben hatte, Harry Goldmann, der nie ihre Nähe gewinnen konnte, oder Anton Marek, der sie skrupellos auf dem Weg zum Erfolg ausgenutzt hatte?

Warum konnte ihr die Musik nicht mehr helfen? Ihre Todesart war, dass in dieser Stadt voller Musik die Musik ihre lebenserhaltende Kraft verloren hatte. Ihre persönliche Vorliebe zu Schubert hatte keine Chance mehr gegen die Übermacht der "Schallplattenkenntnis".

In keinem Fragment für die "Todesarten" war Ingeborg Bachmann ihrem persönlichen Schicksal so nahe wie hier. Denn war nicht auch ihr eigener Erfolg gepusht von den gleichen Medien, denen Karin Krause in ihrer "Schallplattenkenntnis" folgte, und daher von keinem höheren Wert? Hat nicht auch sie in Max Frisch das übergroße Objekt des Hasses gesucht?

Literatur und Links:

Ingeborg Bachmann: Malina, Frankfurt 1980 (Suhrkamp Taschenbuch)

Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza. Requiem für Fanny Goldmann, München 1981 (dtv)

Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. München 2000

Ingeborg Bachmann. Werke. Vierter Band: Essays, Reden, Vermischte Schriften, München, Zürich 1978

Ingeborg Bachmann Forum: Artikel & Essays Link

Urs Bircher: Mit Ausnahme der Freundschaft, Max Frisch 1956 - 1991, Zürich 2000

Ulrike Draesner: Möblierte Mädchen Link

Heike Hauf: Schaumbad für Ingeborg Bachmann Link

Susanne Kogler / Andreas Dorschel (Hg.): Die Saite des Schweigens. Ingeborg Bachmann und die Musik, Wien 2006

Bärbel Lücke:Ingeborg Bachmann, Malina, München 1993

Text + Kritik: Sonderband Ingeborg Bachmann, (Hg. Heinz Ludwig Arnold), München 1984

© tydecks.info 2008 - Erstveröffentlichung im Tamino-Klassikforum, mehrere Beiträge 2007