Walter Tydecks

 

Edgar Allan Poe Heureka (1848)

Text

Poe hatte immer nach der Einheit des Gedankens, der seelischen Erregung, des übergreifenden Sounds eines Gedichts gesucht. Jede Kurzerzählung soll knapp und bündig eine Idee verfolgen und in größtmöglicher Geschlossenheit gestalten. Häufig sind Auflösungserscheinungen das Thema, aber ihre Konstruktion soll in mathematischem Geist erfolgen. Läßt sich das auch entdecken, wenn sich Poe umgekehrt auf das Gebiet der Naturwissenschaft begibt und dort von innen heraus ihre inneren Prinzipien verstehen will? Ist die Naturwissenschaft in dem Maß poetisch, wie Poe seine Literatur mathematisch konstruiert? In diesem Sinn zieht er in Heureka das Resume:

»Die Schöpfung hätte auf uns einen ähnlichen Eindruck gemacht, wie ein unvollkommener Plan (plot) in einem Roman, wo der Knoten (denoument) plump mit Hilfe eingemengter Zwischenfälle (interposed incidents) geschürzt ist, die der eigentlichen Fabel fremd und äußerlich angeklebt sind, wo doch die Verwicklung aus dem Schoße der These, aus dem Herzen der leitenden Idee (ruling idea) entspringen müßte, wo sie als Resultat aus dem Grundgedanken (primary proposition) hervorgehen müßte, als untrennbarer und unweigerlicher Teil und Zubehör der ursprünglichen Konzeption (fundamental conception) des Buches.«

Und zugleich war er von der Vorstellung fasziniert, dass dennoch jede Einheit nur Fragment einer übergreifenden Einheit ist. Jede Zeile eines Gedichts kann für sich stehen, aber sie wird in ihrer musikalischen Eigenart erst verständlich durch ihre Stellung in einem Gedicht, das von Zäsuren und Pausen unterbrochen ist. Erst dann wird klar, ob einzelne Silben mit abweichender Geschwindigkeit oder Akzentuierung betont werden müssen, damit sie sich in den übergeordneten Sprachfluss einordnen. Und so wird im Grunde auch jede einzelne Erzählung erst verständlich, wenn sie in der Gesamtheit aller Erzählungen gesehen wird. Und noch weiter gedacht bleiben die poetischen Prinzipien, die Ausdruckskraft der Erzählungen unverstanden, wenn ihnen nicht physikalische und metaphysische Ideen wie in Heureka gegenüberstünden. Mit einer letzten Wendung kann der Mensch aus der Vielfalt seiner kreativen Leistungen auf die Schöpferkraft Gottes schließen.

Einzelne Erzählungen enthalten bereits eine innere Richtung auf Heureka, wenn sich etwa Ligeia in eine Idee verwandelt, die nach ihrem Tod von ihrem Mann überall in der Natur wiederentdeckt wird und ihn durch diesen Prozess der Erkenntnis derart gefangen nimmt, dass er seine neue Frau durch Missachtung in einen frühen Tod treibt, durch den Ligeia für einen Moment wieder aufersteht. Oder der eigentümliche Schwebezustand, der zwischen Seele und Körper im Mesmerismus entsteht. Die Geistesgegenwärtigkeit und Intuition von Dupin und seine Fähigkeit, sich in ein inspirierendes Zwielicht zu versetzen, um das Rätsel des entwendeten Briefes zu lösen. Familiengeschichte, das Gebäude, die landschaftliche Umgebung gehen im Fall des Hauses Usher ineinander über.

Poe spürt, wie in der Naturwissenschaft und Mathematik solche Prinzipien nachzuweisen sein müssen. Doch ist er tief enttäuscht, dass diese es aufgegeben haben, ihren eigenen innersten Triebkräften nachzusinnen. Das wirft er Aristoteles, Francis Bacon und Kant vor. Nichts wird mehr anerkannt, was aus der Intuition und Phantasie der Seele, also poetisch begründet wird. Daher gibt es keinen Fortschritt mehr. Alles wird als »spekulativ« abgelehnt, was nicht den Regeln eines halbindustriellen Forschungsprozesses genügt. Dagegen schätzt er Kepler, der seine Gesetze erraten und mit Phantasie gewonnen hat.

Beim Durchgang durch die zu seiner Zeit aktuellen astronomischen Kenntnisse will er daher auf eigene Faust deren innersten »Instinkten« nachgehen. Da bemerkt er zum einen: »Das Menschengehirn hat offenbar einen Hang zum 'Unendlichen' und hätschelt das Phantom dieser Idee« (The human brain has obviously a leaning to the 'Infinite', and fondles the phantom of the idea). Dagegen steht eine andere Neigung: »der poetische Instinkt der Menschheit - sein Instinkt fürs Symmetrische«, »der analogische, symmetrische oder poetische Instinkt des Menschen« (the poetical instinct of humanity – its instinct of the symmetrical; the analogical, symmetrical, or poetical instinct of man).

Beide Instinkte sind dem Menschen und allem anderen in der Natur durch die Schöpfung des Weltalls mitgegeben und eingeboren. Dies ist die letzte Ursache, warum sie sich untereinander verstehen können. Sie entstammen alle einer einheitlichen Wurzel, haben den gleichen Vater. Alles entstand aus der ursprünglichen Einheit und bewahrt die Sehnsucht, überall die Einheit zu erkennen und zur Einheit zurückzukehren. Das sind Poesie, Analogie, Symmetrie. Poe ist völlig klar, dass dies in letzter Konsequenz bedeutet, dass die symmetrischen Teilchen untereinander identisch sind. Damit hat er eine der schwierigsten Fragen der modernen Teilchenphysik vorweggenommen.

Auf der anderen Seite ist der Hang zum Unendlichen der Impuls, der durch das Zerspringen der Einheit und der auseinandertreibenden Kraft mitgegeben wurde. Poe sieht dies als die innere Quelle von Elektrizität, Wärme, Lebenskraft, Geist (electricity, heat, light, magnetism, vitality, consciousness, thought, spirituality). Er kommt hier dem stoischen Gedanken nahe, überall eine innere Spannung (Tonus) zu sehen.

Mit dem inneren Hang zum Unendlichen ist dem Menschen etwas mitgegeben, das über ihn hinausgeht. Der Mensch kann die Unendlichkeit nie fassen, sondern nur als innere Richtung seines Denkens erkennen. Er kann die Unendlichkeit daher nur auf einer Meta-Ebene verstehen, als thought of a thought. Die Unendlichkeit muss notwendig unbestimmt bleiben.

»Es ist eine Tatsache, daß jedesmal, wenn ein Ausdruck von der Gattung, zu der 'Unendlichkeit' gehört, ausgesprochen wird - von der Gattung der Begriffe von Begriffen (thought of a thought) - für alle, die überhaupt denken, nicht die Möglichkeit besteht, eine Vorstellung (conception) zu haben; es gelingt nur, den Blick des Geistes auf einen gegebenen Punkt am Firmament des Verstandes zu richten (to direct his mental vision toward some given point in the intellectual firmament), auf einen Nebelfleck, der nicht weiter zerlegt werden kann. Der denkende Mensch bemüht sich auch nicht, ihn zu zerlegen; mit sicherem Instinkt bemerkt er sofort, daß es unmöglich ist, und vor allem: daß es für alle menschlichen Zwecke überflüssig ist, ihn zu zerlegen. Er gewahrt, daß die Gottheit die Lösung dieses Geheimnisses nicht gewollt hat.«

»Der Leser wird nun also verstehen: wenn ich die Worte 'Unendlichkeit des Raums' anwende, so verlange ich nicht die unmögliche Vorstellung einer absoluten Unendlichkeit. Ich meine nur 'die denkbar größte Ausdehnung' des Raums - einen schattenhaften und schwankenden Bezirk, der bald einschrumpft und bald anschwillt, entsprechend den schwankenden Energien der Phantasie (a shadowy and fluctuating domain, now shrinking, now swelling, with the vacillating energies of the imagination).«

Mit thought of a thought ist eine Ebene angeschlagen, durch die sich Poe prinzipiell von den anderen von ihm kritisierten Philosophen und Autoritäten unterschieden sieht. Hier kann nichts empirisch überprüft oder axiomatisch abgeleitet werden. Es ist nur zu verstehen aus der Gesamtbewegung, in der das Denken steht.

In der deutschen Übertragung geht allerdings die Unterscheidung von »conception« und »imagination« verloren, die beide mit »Vorstellung« übersetzt werden. Während »conception« eine bestimmte Vorstellung ist, die dann in einem Kunstwerk umgesetzt wird, ist »imagination« vielleicht besser als Vorstellungskraft zu übersetzen, mit deren Hilfe der Künstler überhaupt erst auf Ideen kommen kann. (Poe hatte bereits 1836 programmatisch in der Drake - Halleck - Rezension geschrieben: »Imagination is, possibly in man, a lesser degree of the creative power in God.«) Das größte Anliegen der Poesie ist es daher, beim Leser dessen »imagination« anzuregen, so dass beide sich im erzeugenden und nachvollziehenden schöpferischen Prozess verstehen. Hier kommt es in den höchsten Augenblicken der Kunst zu einem gegenseitigen Verständnis, das sich weder in Worte fassen noch am Text des Kunstwerks nachweisen läßt. Es entzieht sich auf die gleiche Weise der mit Belegen und Nachweisen arbeitenden Interpretation wie sich die Leitideen der Naturwissenschaft nicht empirisch oder axiomatisch begründen lassen.

Der Hang zur Symmetrie und zur Unendlichkeit prägen jeden Menschen in seiner Persönlichkeit. Poe litt zutiefst unter solchen Erfahrungen, als früh die Einheit seiner Familie zerbrach und ihn dann nochmals der Ziehvater fallen ließ. Er gebraucht daher in Heureka häufig die Begriffe ‘Einheit’ und ‘Vater’ mit identischer Bedeutung. Und ebenso ist der Hang zur Unendlichkeit verbunden mit der Erfahrung, wie sich der Verstand verflüchtigen kann in Wahnsinn, wie Bilder und Erfahrungen sich auflösen und zerstreuen in eine Vielfalt von Erscheinungen in der Natur. Das musste Poe bereits im jungen Alter erfahren, als 1823 die erste von ihm angeschwärmte Frau geisteskrank wurde (Jane Stanard, die Muse seines ersten Jugendgedichts To Helen). Poe hat in gewisser Weise die existenzielle Erschütterung im Sinne von Heidegger vorweggenommen (formale Anzeige, Faktizität), aber in einem Kontext, in dem ihm zugleich der mathematische Geist von großer Wichtigkeit war.

Darüber darf nicht übersehen werden, wie intensiv sich Poe mit den zeitgenössischen physikalischen Ideen beschäftigt hat. In verschiedenen Kommentaren wird zurecht hervorgehoben, dass er z.B. eine Auflösung des Paradox von Olbers gegeben und lange vor der Astrophysik Ideen über Galaxien, Superhaufen, dunkle Materie, Urknall, Ausdehnung und Zusammenziehung des Universums entwickelt hat. Wie in seinen Kurzerzählungen suchte er nach Analogien bis in die Geschichte der Menschheit hinein. Eine der spektakulärsten Ideen besagt, dass die Planeten entstanden sind aus einem Schrumpfungsprozeß der Sonne, wodurch Zug um Zug Materie abgestoßen wird, sich auf einem Ring um die Sonne versammelt und zu Planeten verdichtet. Poe vermutet, dass die Entstehung der Planeten in Wechselwirkung mit der Entstehung von Leben und Intelligenz steht und kann sich vorstellen, dass nach Entstehen eines weiteren Planeten auf einer Umlaufbahn zwischen Sonne und Merkur eine höhere Intelligenz entstehen könnte, die dem Menschen überlegen ist. Sein Text ist eine wahre Fundgrube, die auch vieles in den Schatten stellt, was seither in der science fiction ausgedacht wurde. Das macht den ungewöhnlichen Reiz dieser Schrift aus.

Gibt es eine innere Einheit, ja sogar Identität zwischen den verschiedenen, räumlich getrennten Teilchen? Damit schlägt sich heute die Teilchenphysik herum. Ist es vorstellbar, dass die Teilchen zusammenhängend sind und ihre räumliche Unterscheidung nur ein Zustand? Ist der Raum ein Zustand der Zeit? Sind Dauer und Raum identisch, wie Poe in Teil 8 von Heureka sagt?

Im Grunde ist für ihn alles Stoff, der sich jedoch in verschiedenen Zuständen befinden kann: (1) Urzustand der Einheit vor dem Urknall und jeder erneuten Aussendung von Materie aus dem Zentrum, (2) Zustand der Bewegung aus der Einheit heraus in eine Umlaufbahn, (3) Erreichen einer neuen Kugel, auf der sich die Materie gleichmäßig verteilt, (4) Verdichtung des Nebels auf der Kugeloberfläche zu Atomen, möglicherweise mit Subsystemen umgebender Monde. Dies Bild ähnelt sehr der archimedischen Spirale, dem auch der Titel »Eureka« gewidmet ist.

Hier bleibt Stoff immer etwas innerlich Zusammengehöriges, so wie die Griechen z.B. unter Wasser alles Wässrige verstanden, auch wenn es verteilt war in Seen, Flüssen, Regen, Wolken. Dies Zusammengehörige ist die Einheit der Idee, hier der Weltentstehung, sonst des Plots der jeweiligen Erzählung.

Anhang Zum Kommentar zu Poe in MathPages: Im 18. und 19. Jahrhundert gab es eine ungeheure Newton-Begeisterung. Aber auch Kritik, so vor allem Blake. Die Kritiker wandten sich gegen die Mathematisierung des Naturverständnisses. Seit Galilei und Newton kann kein Philosoph mehr wie noch die Scholastiker über Fragen der Natur nachdenken ohne über ausgewiesene Mathematik-Kenntnisse zu verfügen. (Die Tradition ist im Grunde mit Simplikios abgerissen, und Poes Text ist ein ganz ungewöhnlicher Versuch, dort wieder fortzufahren). Doch Poe ist ambivalent: Auch er ist gegen Empirismus und mathematisches Beweisen aus Axiomen, aber er bewundert die Konstruktionskraft der Mathematik und will sie übernehmen. Aber war Heureka vielleicht nur ein ironischer Hoax wie der von Sokal?

Schon in einigen Erzählungen kommt er an die Grenze der Naturphilosophie. Der mesmerized man führt zur Frage eines Äthers, der der Stoff der Gedanken ist. (Wußte Poe, dass bereits Aristoteles über den Gedanken-Stoff nachgedacht hatte, den Stoff der Zahlen?) Im Maelstrom kommt Poe auf Archimedes und »fluid dynamics«. Er erwähnt in Maelstrom, Eureka, Eleonora, Mellonta Tauta und Berenice ein Werk Mare Tenebrarum (Meer des Dunklen) von einem geheimnisvollen Ptolemaios Hephestion aus Nubien. Henri Poincaré könnte die Story Three Sundays in a Week mit ihren Gedanken zur Zeit gelesen haben. In 1002nd Tale of Scheherazade sind in Fußnoten zahlreiche physikalische Themen angesprochen.

Vorangegangen war eine Reihe von Essays, veröffentlicht als Marginalia. Dort vertritt er z.B. eine Theorie über Zeit und Ereignis. Zitat:

»We appreciate time by events alone. For this reason we define time (somewhat improperly) as the succession of events; but the fact itself -- that events are our sole means of appreciating time -- [leads to] the erroneous idea that events are time -- that the more numerous the events, the longer the time; and the converse. This erroneous idea [we would] absolutely entertain in all cases, but for our practical means of correcting the impression -- such as clocks, and the movements of the heavenly bodies -- whose revolutions, after all, we only assume to be regular.« Kommentar: «In effect, Poe has understood that our «uniform measure» of time is really just the largest and most consistent equivalence class of mutually uniform sequences of similar events.» Da Poe um 1900 in Frankreich sehr populär war, könnte Henri Poincaré davon inspiriert worden sein.

Poe unternahm 1848 einen Selbstmordversuch mit einer Überdosis Laudanum (Opium), Heureka war im Jahr zuvor 1847 entstandden.

Das Verhältnis zu Aristoteles war ambivalent:

»Poe then takes up the subject of infinity, arguing that the word does not actually express an idea, but only an effort at one. The word ‘infinity’, he says, represents but the thought of a thought. Ironically he echoes Aristotle here, who likewise maintained that the completed infinity was inconceivable, and that the word ‘infinity’ is to be understood simply as signifying the tendency to endlessness, a process without end. ‘ ... ’ It's also interesting to notice again that Poe's notion of each particle's tendency to ‘return to where it belongs’ is distinctly Aristotlean.«

Für Poe gelten die Naturgesetze nur bis zur äußeren Grenze des sich kugelförmig ausbreitenden Weltalls. Er geht von einer riesigen, aber endlichen Anzahl von Atomen aus. Daher ersetzte er Newtons Gravitationsgesetz aus dem Kontinuum in eine diskrete Welt und konnte daher eine geometrische Vorstellung der Welt entwickeln. Sein Atomismus war seiner Zeit weit voraus.

Poe hält Repulsion und Attraktion für notwendig. Der Kommentar sieht heute eine ähnliche Frage: Im Grunde kann nicht erklärt werden, warum die Elektronen nicht in den Atomkern stürzen. Da gibt es dann z.B. das Pauli-Verbot. Letztlich hat Poe recht, dass es zwei Kräfte geben muss.

2009

Der größte Teil dieses Textes ist seit Oktober 2015 auch als Einleitung einer überarbeiteten Übersetzung von Heureka beim adlibri-Verlag verfügbar:

Heureka bei adlibri


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