Walter Tydecks

Was sind und was können die Algorithmen?


  google deepmind

Foto von Google DeepMind auf Unsplash

Beitrag für den Themenkreis Naturwissenschaft und Technik von 50plus aktiv an der Bergstraße am 27.10. 2023 in Bensheim

Ankündigung

Algorithmen sind kein Fachbegriff der Informatik mehr, etwas, mit dem sich nur Nerds auskennen, sondern jeder hat damit im Alltag zu tun. Algorithmen steuern Navigationssysteme, helfen beim Einparken, schlagen Aktienkäufe vor, steuern Roboter für das Staubsaugen und Rasenmähen, übersetzen Texte und können mit ChatGPT eigenständig Texte schreiben. Kochrezepte, Montageanleitungen für Ikea-Möbel und das Zusammenbauen von Legosteinen sind Algorithmen.

Was lange Zeit als Hilfe bei lästigen Routine-Aufgaben empfunden wurde, erzeugt jedoch zunehmend Angst. Wissen wir noch, was die Algorithmen eigentlich tun? Können wir uns darauf verlassen, dass sie wirklich das tun, was wir von ihnen erwarten? Und zeigen die Algorithmen, die uns Produkte und Partner vorschlagen, dass sie uns besser kennen und verstehen als wir uns selbst? Werden sie bald Gedanken lesen können? Mit den durch Algorithmen automatisch erzeugten Texten, Bildern und Botschaften kommt die Gefahr hinzu, dass sie schleichend und unbemerkt in unser Denken und unsere Gefühle eindringen und wir nicht einmal merken, wie wir von ihnen manipuliert werden.

In dem Vortrag sollen die elementaren Methoden der Algorithmen vorgestellt werden, ihre Entwicklung (wer schreibt und beauftragt das Programmieren von Algorithmen) und eine Bewertung der mit ihnen verbundenen Ängste mit hoffentlich anregender Diskussion. Wenn Zeit bleibt, wird ein Ausblick auf neuartige Algorithmen gegeben (neuronale Netze, Quantencomputer).

Was sind Algorithmen

Erst seit 2006 wird außerhalb von Fachzeitschriften überhaupt von Algorithmen gesprochen. Das hat sich seither schlagartig geändert, wie die Wortverlaufskurve des Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) zeigt. 2018 hatten laut Umfrage 25% der Befragten noch nie etwas von Algorithmen gehört, weitere 30% hatten kaum Wissen davon. Diese Anteile sind bis 2022 auf 17 bzw. 21% zurückgegangen, so dass heute ungefähr 60% ein genaues oder ungefähres Wissen haben, was Algorithmen sind (Bertelsmann-Studie, 17). Algorithmen sind spätestens seit Einführung der automatischen Texterzeugung durch ChatGPT zum allgegenwärtigen Thema von Kultur und Technik geworden.

Standarddefinition: Ein Algorithmus ist eine Folge fest vorgegebener Arbeitsschritte, mit denen in endlicher Zeit und mit begrenzten Ressourcen eine genau definierte Aufgabe ausgeführt wird. Meist sind mit Algorithmen programmierte Rechenschritte gemeint, mit denen eine Eingabe von Zahlen verarbeitet und als Ergebnis die mit der Rechnung gefundenen Zahlen ausgegeben werden. Es wird erwartet, dass ein Algorithmus unter gleichen Umständen stets dasselbe Ergebnis liefert.

Diese Definition ist bewusst so allgemein gehalten, dass sie sowohl für Gewohnheiten im Alltag, für Rituale wie auch für ausprogrammierte und technisch einsetzbare Algorithmen der Informatik gilt. Algorithmen gehen aus alltäglichen Aufgaben hervor. In der Regel liegt jedem Algorithmus ein realer Prozess zugrunde, der so weit abstrahiert wurde, dass er von einem Computer ausgeführt werden kann. Einen Algorithmus zu entwerfen lohnt nur, wenn es sich um wiederkehrende Aufgaben handelt, die zur Gewohnheit geworden sind. Typische Beispiele: ein Essen zubereiten, Hemden bügeln, einparken. Diese Tätigkeiten werden in Schrittfolgen kleinster Einheiten zerlegt, die jeweils für sich sehr einfach sind und idealerweise von einer Maschine übernommen werden können. Gewohnheiten bieten im Alltag eine große Entlastung: Es wäre ein riesiger Zeitaufwand, wenn jeder an jedem Morgen neu überlegen müsste, wie er frühstücken möchte. Aus der Behindertenpädagogik und der unterstützenden Arbeit mit an Vergesslichkeit erkrankenden Alten ist bekannt, wie schwer es fällt, einfache alltägliche Abläufe geduldig einzuüben und streng auf den richtigen Ablauf der einzelnen Schritte zu achten. Wer spürt, wie die gewohnten Routinen entgleiten, gerät in einen Zustand großer Verunsicherung und zunehmender Angst, oft auch hilfloser Aggression. Um die Schwierigkeiten verstehen und helfen zu können, müssen von der Pädagogik (und für kollektive Abläufe von der Soziologie) genaue Modelle der jeweiligen Gewohnheiten erkannt und deren kritische Punkte gefunden und eingeübt werden. Sie werden im gewöhnlichen Alltag, der ganz ohne nachzudenken auskommt, leicht übersehen.

Bereits die Griechen und die Araber haben Algorithmen entwickelt. Der elementare Algorithmus ist das Zählen. Die Griechen führten Algorithmen ein, um bei zwei Zahlen den größten gemeinsamen Teiler zu berechnen und Zahlen in Primfaktoren zu zerlegen. Einer der frühen Mathematiker in Arabien war Al-Chwarizmi, der um 780 bis 840 lebte und an dem legendären Haus der Weisheit in Bagdad arbeitete. Er kam aus Choresmien, einem Gebiet zwischen dem Aralsee und Afghanistan im heutigen Usbekistan und Turkmenistan, und wurde daher der Choresmier genannt, Chwarizmi. Der Ausdruck ‘Algorithmus’ hat also keine inhaltliche Bedeutung, sondern ist nach einem Mathematiker benannt. Zur damaligen Zeit war jeder Algorithmus an eine bestimmte Aufgabe gebunden, z.B. die Berechnung der Nachkommastellen der Zahl Pi. Hier waren sie überaus erfolgreich, aber jeder Algorithmus ergab sich für sie nur aus der jeweiligen Themenstellung und blieb daran gebunden. Sie kannten noch nicht den allgemeinen Begriff des Algorithmus, wie er erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts dank der Arbeiten von Gödel und Turing eingeführt wurde.

Ein Algorithmus besteht aus einigen wenigen Grundelementen:

– Start: Ein Algorithmus beginnt nicht von allein. Der Algorithmus muss von außen begonnen werden. Jedes Kochrezept beginnt mit einem "man nehme".

– Stop (Endebedingung): Jeder Algorithmus enthält eine Bedingung, wann er abgeschlossen ist. Es darf keine Endlos-Verarbeitung geben. Mindestens enthält er die Bedingung, dass er nach einer bestimmten Laufzeit oder einem bestimmten Ressourcen-Verbrauch abzubrechen ist. Das gilt auch beim Kochen: Wer Sahne schlägt und merkt, dass sie nicht steif wird, bricht irgendwann ab.

– Unterbrechung (Interrupt): Die meisten Algorithmen können durch Eingaben von außen unterbrochen oder beeinflusst werden. Wer sieht, dass ein Topf überzukochen beginnt, wird nicht stur am Rezept festhalten, sondern eingreifen.

– Sequenz und bedingte Verzweigung: Einfache Algorithmen bestehen aus einer einzigen Folge von Befehlen. In der Regel gibt es jedoch Verzweigungen: Nach einer Prüfung (Bedingung) sind unterschiedliche Sequenzen möglich. Wer eine Suppe abschmeckt, wird gegebenenfalls nachwürzen. Wichtig ist zu verstehen: Während an einem Baum die voneinander verzweigten Äste unabhängig voneinander weiter wachsen, wird bei einer bedingten Verzweigung jeweils nur ein bestimmter Weg ausgewählt. Das ergibt im Ganzen eine Sequenz. Die natürliche Verzweigung an einem Baum kann besser mit der Parallel-Verarbeitung verglichen werden: An bestimmten Stellen wird eine Aufgabe auf mehrere Ressourcen verteilt, die unabhängig voneinander fortfahren und an späteren Punkten wieder zusammen kommen. Auch das ist aber nicht gemeint, wenn in einem Algorithmus eine bedingte Verzweigung auftritt. Vielmehr handelt es sich um die Auswahl aus mehreren Alternativen.

– Schleifen: Das typische Charakteristikum der meisten Algorithmen sind die Schleifen, die mehrfach zu wiederholende Verarbeitungsschritte enthalten. Beispiele aus dem Alltag: Tapezieren eines Zimmers mit fortlaufenden Tapetenstreifen bis der erste Tapetenstreifen erreicht wird. Oder: Wiederholung eines Arbeitsvorgangs, bis eine vorbestimmte Genauigkeit erzielt ist (zum Beispiel das mehrfache Streichen einer Wand, bis alle Hintergrundfarben vollständig überdeckt sind). Technisch handelt es sich um Verzweigungen: Nach jedem Schleifendurchlauf wird mit einer Bedingung entschieden, ob die Schleife beendet ist oder zum Anfang zurückgekehrt wird.

– Eigenwerte: Der interessanteste Punkt wird jedoch meist übersehen: Bei Wiederholungen können Eigenschwingungen auftreten, z.B. beim Aufschaukeln. Eine Schleife wird nicht einfach immer neu wiederholt, sondern sie optimiert und stabilisiert ihre zyklische Bewegung. Wer zu Schaukeln beginnt, verändert seinen Schwung, bis der optimale Schwung gefunden ist. Niemand muss das vorher ausrechnen, aber jeder spürt das. Ein ähnliches Beispiel ist das Radfahren: Wer mit dem Radfahren beginnt, muss sich auf die geeignete Schlangenlinie einpendeln. Niemand fährt mit dem Fahrrad exakt geradeaus, sondern berücksichtigt mit seiner Körperbewegung ohne nachzudenken und zu rechnen das eigene Gewicht, das Gewicht des Fahrrads, die bremsende Wirkung der Straße oder des Radwegs, die Windverhältnisse usw. Wer die Schlangenlinie genau auswertet, wird an ihr die Eigenwerte der Schwingungen des Fahrers, des Fahrrades und des Fahrweges erkennen können.

Die schönsten Beispiele stammen aus der Musik. Wer einen Brummkreisel zu drehen beginnt, wird nicht nur sehen, wie er sich aufrichtet und einen Ton abgibt, sondern bei größerer Beschleunigung hören, wie neue, höhere Töne entstehen. Das sind die Obertöne. Das lässt sich mit dem Oberton-Singen direkt erzeugen: Es genügt, für sich allein den Tun u-u-u zu singen und mit der Stimme langsam zum Ton ü-ü-ü zu wechseln. Jeder wird spüren, wie an einer bestimmten Stelle die Lippen und die Mundhöhle zu schwingen beginnen. Noch beeindruckender ist das gemeinsame Oberton-Singen, wenn die einzelnen Sänger ihre Töne genau aufeinander einklingen lassen und Töne entstehen, die über ihnen im Raum zu stehen scheinen und von niemanden einzeln gesungen wurden, sondern sich erst aus dem Gesamtklang ergeben.

Das gilt auch für die Erde im Ganzen, die sich periodisch um die eigene Achse und um die Sonne dreht. Sie erzeugt ein messbares Eigenbrummen (auch wenn wir es mit unseren Ohren nicht hören), das jedoch nicht wie der Ton einer einzelnen Glocke klingt, sondern wie bei einem Orchester das Gemisch einer Vielzahl von Tönen. Dessen genauere Erforschung und Aufschlüsselung kann helfen, die Bewegungen im Erdinnern und der Erdbeben zu erkennen und vorherzusagen, selbst wenn die Ursachen unbekannt sind. Es genügt die Erkenntnis, dass es sich um die Eigenwerte periodischer Schwankungen handelt. Allerdings bleibt stets das Risiko, dass länger laufende Wellen übersehen und unterschätzt werden, die alle Vorhersagen umwerfen können. In der Programmierung der Algorithmen kann eine Rückkoppelung vorgesehen werden: Der Algorithmus passt sich den mit seiner Hilfe gefundenen Werten an. Sie waren anfangs unbekannt und können den Prozess erheblich beschleunigen.

Maschinelle Algorithmen

Wenn heute von Algorithmen gesprochen wird, sind damit in der Regel jedoch nicht die Arbeitsabläufe im Alltag oder Vorgänge in der Natur, sondern maschinelle Algorithmen gemeint. Wie ist es möglich, einen aus dem Alltag vertrauten Ablauf von einer Maschine ausführen zu lassen? Wer z.B. im Kopf ausrechnet, wie viel 8 und 7 sind, führt die Rechnung gewohnheitsmäßig aus ohne daran zu denken, welche Rechenschritte im Einzelnen notwendig sind. Im Zweifel werden die 10 Finger zu Hilfe genommen. Erst wird bis 8 gezählt, anschließend wird um 7 weitergezählt. Im Ergebnis ist abzulesen, welche Zahl erreicht wurde. Kritisch ist der Zehnerübergang. Wird von 8 aus um 7 weitergezählt, wird nach 2 Schritten der erste Zehner vollendet. Das Ergebnis ist im Gedächtnis festzuhalten. Wird von dort aus mit dem Zählen fortgefahren, bleiben von 7 noch 5 zu zählen übrig mit dem Resultat: 8 und 7 ergibt einen Zehner und 5 Einer, ausgeschrieben 15.

Um das auf eine Maschine zu übertragen, gibt es zwei Vorbilder: die Uhr und die Turing-Maschine. Die Uhr führt einen Zwölferübergang aus, der dem Zehnerübergang entspricht. Nach 12 Stunden ist ein halber Tag erreicht, und das Zählen der Stunden beginnt von Neuem bei Eins: Aus ein Uhr nachts wird nach zwölf Stunden ein Uhr mittags. Diese Art des Zählens ist seit dem Beginn der Neuzeit in Uhrwerken realisiert. Die Uhrwerke sind die ersten maschinellen Algorithmen.

Ähnlich ist bei allen Aufgaben vorzugehen, für die ein maschineller Algorithmus programmiert werden soll. Im ersten Schritt müssen die Programmierer im Gespräch mit den Anwendern lernen, mit welchen Gewohnheiten die Anwender ihre Aufgaben ausführen. Nach meiner Erfahrung wird diese Lernphase von vielen Anwendern als sehr schwierig und wie eine gerichtliche Untersuchung erfahren. Es fällt ihnen schwer, sich dessen bewusst zu werden, was sie eigentlich tun, welche Ausnahmefälle eintreten können und wie sie routinemäßig gelöst werden. Viele haben Angst, bei einer solchen Untersuchung könnten Fehler oder Ungeschicklichkeiten zutage treten, derer sie sich bisher nie bewusst geworden sind. Zugleich empfinden die meisten ein Gefühl der Entpersönlichung: Sie waren bisher überzeugt, dass ihr Tun mit ihren individuellen Fähigkeiten zusammenhängt und erfahren jetzt, dass es im Wesen ein unpersönlicher Ablauf ist. Es steckt nichts Persönliches darin, und sie sind als Person durch einen abstrakten Mechanismus ersetzbar, der von einer Maschine ausgeführt werden kann. Ein Beispiel war die Einführung des automatisierten Entgratens von Metallteilen durch Werkzeugmaschinen in den 1970er- und 1980er-Jahren, die mit Methoden der Numerischen Steuerung (NC und CNC für Numerical Control und Computerized Numerical Control) arbeiten. Anfangs gab es große Widerstände. Die Arbeiter hatten nicht nur Angst um ihren Arbeitsplatz, sondern waren überzeugt, dass sie über ein persönliches Geschick der Materialkenntnis und der Geräteführung verfügen. Heute sind diese Maschinen völlig selbstverständlich und selbst die damals eingeführten Ausdrücke wie NC und CNC und die mit ihnen verbundenen Kontroversen sind kaum mehr bekannt.

Die erste und elementare Angst vor den Algorithmen liegt nicht in der Einsicht, dass es Algorithmen gibt, sondern in deren unpersönlicher Struktur.

Im zweiten Schritt muss wie im Beispiel des Uhrwerks ein Mechanismus gefunden werden, der von einer Maschine ausgeführt werden kann und die Aufgabe gleichwertig oder sogar besser löst. Hierfür hat 1936/37 der englische Mathematiker und Logiker Alan Turing (1912-1954) das bis heute gültige Modell aller maschinellen Algorithmen entworfen, die nach ihm benannte Turingmaschine. Sie verallgemeinert das Vorbild des Uhrwerks. Die unterschiedlichen Rechenmaschinen sind jeweils technische Realisationen einer Turing-Maschine.

Turingmaschine

Figur 2: Turingmaschine
Urheber: Abgeleitetes Werk: TripleWhy / Turingmaschine.png: Zap - Turingmaschine.png, CC BY-SA 3.0, Link

Die Turingmaschine besteht aus drei Komponenten: Einem unendlichen Speicherband, auf dessen Abschnitten Informationen eingetragen sind; einem Lese-/Schreibkopf, der die jeweilige Information (Mitteilung) vom Speicherband aufnimmt; und einem Programm, das mit einem fest vorgegebenem Algorithmus aus dem neu eingelesenen Wert und dem zwischengespeicherten Wert des vorangegangenen Arbeitsschritts einen neuen Wert berechnet, den Lese-/Schreibkopf an eine andere Stelle des Bandes bewegt und dort den neu berechneten Wert (die Verarbeitung der Mitteilung) einträgt (mitteilt). Wer noch in den ersten Programmiersprachen wie Assembler programmiert hat, wird das unmittelbar in den elementaren Befehlen der Programmiersprache wiedererkennen.

Die Folge ›Lesen → Berechnen → Bewegen des Schreibkopfs → Schreiben‹ ist ein Arbeitszyklus (bzw. wenn der Rechenschritt betont wird: ein Rechenzyklus). Wenn ein Arbeitszyklus abgeschlossen ist, bewegt sich der Lese-/Schreibkopf von der jeweils erreichten Position um ein Feld weiter und beginnt dort von Neuem. Zwar ist das Band linear gedacht, aber der Mechanismus der Turingmaschine ist zyklisch.

Das Zählen ist das einfachste Beispiel einer Turingmaschine. Die zu zählenden Gegenstände bilden eine Reihenfolge, in der sie gezählt werden (das Band). In jedem Feld ist eine Eins eingetragen mit der Mitteilung: ›Ich bin ein Gegenstand‹. (Würde dort ein größerer Wert als Eins stehen, z.B. Neun, handelt es sich um neun und nicht nur um einen zu zählenden Gegenstand, und das Feld muss in neun Felder unterteilt und in jedes neu gezeichnete Feld wiederum eine Eins eingetragen werden.) Die Turing-Maschine liest den jeweiligen Wert (beim Zählen jeweils die dort stehende Eins), zählt sie mit dem Wert des vorangegangenen Zählschritts zusammen und trägt sie dort ein. Anschaulich gesprochen ist das die Mitteilung an das Feld: ›Du bist das n-te von mir gezählte Feld›, z.B. nach 5 Arbeitszyklen: ›Du bist das fünfte Feld‹. Auf diese Weise wird jedes Feld nummeriert und erhält seine Ordinalzahl. Anschließend bewegt sich der Lese-/Schreibkopf um eine Stelle weiter und beginnt dort von Neuem. – Das Zählen kann auch als die einfachste Uhr verstanden werden, die lediglich die Minuten zählt. Sie springt nach jeder Minute direkt an den Anfang, erhöht die Minutenzahl und zeigt sie an, so wie in üblichen Uhren alle 60 Minuten die Stundenzahl erhöht und angezeigt wird.

Alle anderen Aufgaben sind nach diesem Vorbild zu programmieren: Zum Beispiel wird beim Einparken nach hinten, nach vorn und zur Seite geschaut, um die Abstände der Parklücke zu erkennen. Das Lenkrad wird entsprechend eingeschlagen, das Auto vorsichtig in Bewegung versetzt, der Winkel muss fortlaufend angepasst werden und bisweilen sind mehrmalige Vor- und Rückwärtsbewegungen notwendig, bis der richtige Platz gefunden ist. Jede einzelne Blickkontrolle kann als das Einlesen eines Wertes vom Band verstanden werden, daraus ergibt sich die Berechnung des nächsten Bewegungsfortschrittes, bis die Endebedingung erfüllt ist, dass das Auto richtig auf seinem Platz steht. Nicht anders ist es bei kommerziellen Programmen. Wenn ein Lagerbuchhalter einen Auftrag für eine Einlagerung erhält, prüft er, an welcher Lagerstelle Platz ist und lagert ein. Kommt ein Kundenauftrag, prüft er auf seiner Dispositionsliste, zu welchem Zeitpunkt die gewünschte Ware verfügbar ist, plant die Auslagerung und lässt sie ausführen.

Eigenschwingungen von Algorithmen

Bei den bisher vorgestellten maschinellen Algorithmen werden ausschließlich Werte gefunden, deren Ergebnisbereich vorab erwartet und geplant war: Bei Aufgaben wie dem Einparken, der Lagerhaltung und allen weiteren vergleichbaren Anforderungen ist der Erwartungshorizont bekannt. Das gilt auch für die elementaren mathematischen Algorithmen: Beim Zählen und Addieren natürlicher Zahlen ergeben sich grundsätzlich nur neue natürliche Zahlen. Es gibt keine Addition, die über die natürlichen Zahlen hinausführt. Ist es denkbar, dass Algorithmen von sich aus Ergebnisse finden, die unerwartet und deren Lösung für den Menschen möglicherweise nicht nachvollziehbar sind? Die Antwort liegt bei den Eigenwerten, ihrer Dimensionalität und Quantisierung.

Dafür sind wesentlich komplexere Algorithmen erforderlich. Sie haben meist drei typische Eigenschaften:

–  Freie Variation von Stellgrößen (Parametern) und deren Bewertung: In den einfachsten Fällen wird der Ablauf des Algorithmus fest vorgegeben. Es ist jedoch möglich, dass ein Algorithmus auf Bedienereingaben und gemessene Werte aus der Umgebung reagiert. Das klassische Beispiel ist der Thermostat, dessen Temperaturregler manuell eingestellt werden kann, und der auf die jeweils gemessene Außentemperatur reagiert. In komplexeren Programmen ist es darüber hinaus möglich, dass der Algorithmus an bestimmten Stellen nacheinander unterschiedliche Alternativen durchläuft, deren Ergebnisse bewertet und eins von ihnen auswählt.
–  Echtzeit-Verarbeitung: Die Variation von Stellgrößen ist besonders bei Echtzeit-Verarbeitung wichtig: Es wird nicht einfach ein Algorithmus angestoßen, und der Anwender wartet, bis das Ergebnis angezeigt wird, sondern wie beim Thermostaten wird das Ergebnis unmittelbar für die Steuerung eines Prozesses genutzt. Das können sehr komplexe Prozesse sein. In chemischen Prozessen und Atomkraftwerken wird fortlaufend eine Vielzahl von Verlaufsgrößen gemessen und der Prozess jeweils angepasst. Dennoch können Katastrophen niemals ganz ausgeschlossen werden. Ein Beispiel war kürzlich der spektakuläre Absturz des russischen Mondlande-Unternehmens Luna 25. Als die Sonde in die Umlaufbahn um den Mond gebracht worden war, wurde ein Algorithmus eingesetzt, um sie in eine neue Umlaufbahn zu bringen, von der aus das Landemanöver auf den Mond möglich ist. Aufgrund eines Fehlers war eine Antriebseinheit 127 statt 84 Sekunden in Betrieb. Das brachte die Bewegung ins Straucheln und führte zum Absturz.
–  Medium: In einem Modell wie der Turing-Maschine wird von einer idealen Situation ausgegangen. In Wirklichkeit läuft jeder Algorithmus in einem Medium ab. Wer die Bilder von integrierten Schaltkreisen sieht und z.B. in der aktuellen Kontroverse zwischen den USA und China erfährt, in welcher Weise Techniken wie Extrem Ultraviolette Bestrahlung von Kristallen, aus denen Chips hergestellt werden, und Materialien mit besonderen Oberflächenstrukturen eingesetzt werden, versteht, in welcher Weise die Algorithmen vom Medium abhängen, in dem sie laufen. Geringste Störungen können zu Fehlern der Algorithmen führen, die auf den Chips ausgeführt werden.

Bei komplexen Algorithmen dieser Art können Eigenschwingungen auftreten, wie sie jeder vom Schaukeln kennt. Wer sich auf eine Schaukel setzt, weiß anfangs nicht, wie am besten Schwung zu nehmen ist. Beim Aufschaukeln (Einschwingen) kann sich jeder auf sein Körpergefühl verlassen, d.h. die ursprüngliche Einbettung der eigenen Natur in die umgebende Natur. Beim Schaukeln ist zu spüren, mit welchem Schwung das Aufschaukeln am besten gelingt. Das löst die Freude und das Gefühl der Freiheit und Schwerelosigkeit aus, das jeder beim Schaukeln empfindet und genießt. Ebenso kann jeder sehr genau hören, wenn in einem diffusen Hintergrundgeräusch plötzlich bestimmte Intervalle auftreten (das sind einfachste Tonverhältnisse wie die Terz, die Quart, die Oktave oder der Tritonus, das Teufelsintervall). Niemand muss dafür irgendwelche Berechnungen ausführen oder sein Gehör schulen. Das gleiche geschieht, wenn in einem Chor oder einer Combo mehrere Musiker gemeinsam spielen und singen. Sie haben das Gefühl, dass sich ihr Zusammenspiel wie von einer höheren Harmonie geleitet gleichsam von allein aufeinander abstimmt.

Ist ein bestimmter Eigenwert (z.B. ein Schwung auf der Schaukel) gefunden, ist das noch nicht die ganze Wahrheit. Wer seine Bewegung weiter variiert und beschleunigt, wird mit gewissen Abständen auf neue Eigenwerte stoßen. Und es ist wird sich zeigen, dass zwischen der Vielzahl dieser Eigenwerte mathematisch sehr einfache Verhältnisse bestehen. Ohne das zu vertiefen, sei an die Beispiele der Farben und Töne erinnert: Wer die Wellenlänge des einfallenden Lichts kontinuierlich variiert, wird sehen, dass es Sprünge gibt, bei denen bestimmte Farben in großer Reinheit hervortreten. So springt die Farbe Grün in die Farbe Gelb, die Farbe Gelb in die Farbe Orange usw., die im Ganzen den Farbkreis der Regenbogenfarben ergeben. Der Farbkreis beruht auf einem inneren Maß, das zuvor nicht bekannt war. Der Übergang von einer Farbe zur nächsten ist jeweils ein Quantensprung. Das neue Maß ist eine Entdeckung, deren Werte und Erwartungshorizont zuvor nicht bekannt waren. Im Weiteren wird nach zuvor unbekannten Eigenschaften (verborgenen Parametern) gesucht, aus denen sich das Maß erklärt. – Weitere Beispiele: Wer auf einer Gitarre nacheinander zwei Saiten anschlägt und fortlaufend die Differenz verändert, wird hören, wie an bestimmten Punkten Harmonien erklingen. Die Quantenmechanik untersucht kontinuierliche Veränderungen der Bewegungen eines Atoms und erkennt, wie an bestimmten Punkten Licht abgegeben oder absorbiert wird. Das wird aus Quantensprüngen der Elementarteilchen wie Proton und Elektron erklärt. In der Mathematik gibt es mit den Fourier-Reihe eine einheitliche Darstellung dieser verschiedenen Beobachtungen von Quantisierungen. – Sind die Eigenwerte erkannt, kann z.B. mit dem Obertonsingen gezielt mit ihnen gesungen und gespielt werden.

Kann das ein Algorithmus übernehmen? Er muss in der Lage sein, in unterschiedliche Dimensionen Variationen vorzunehmen und dort einen Maximalwert zu erkennen. Dafür gibt es im Hintergrund eine mathematische Theorie (die Eigenlösung eines linearen Systems von Differentialgleichungen durch Diagonalisierung, die jedoch bei partiellen Differentialgleichungen schnell in bisher ungelöste Aufgaben führen kann). Aber so wenig wie jemand beim Aufschaukeln oder Hören von Harmonien deren Theorie kennen muss, so wenig muss es ein Programm. Einem Programm muss nur vorgegeben werden, in welchen Dimensionen es variieren kann. Ein Beispiel für einen solchen Algorithmus ist das 1959 entstandene Newmark-beta-Verfahren.

Die größte Schwierigkeit liegt darin, die Dimensionen und ihre Anzahl zu bestimmen. Wie kann das Einwirken von zusätzlichen Dimensionen (Freiheitsgraden) erkannt werden? Es ist immer davon auszugehen, dass es zwischen den Dimensionen Wechselwirkungen gibt. Ein Programm müsste in der Lage sein, aus Abweichungen in den ihm bekannten Dimensionen auf zusätzliche Dimensionen zu schließen. Ein beeindruckendes Beispiel ist der Nachweis der von Einstein vorausgesagten Raumkrümmung. Ursprünglich war davon ausgegangen worden, dass sich die Planeten in einem leeren Raum bewegen. Die kürzeste Verbindung zwischen Körpern ist wie in der euklidischen Geometrie die gerade Linie, die von einem zum anderen führt. In einem solchen Raum konnten die Bewegungen der Planeten äußerst genau berechnet und vorhergesagt werden, bis es zu einem Gegenbeispiel kam: Der Planet Merkur bewegt sich näher an der Sonne als alle anderen Planeten. Seine Bewegung weicht von allen Vorhersagen ab. Einstein hatte vorhergesagt, dass der Raum nicht geradlinig, sondern die Masse der sich in ihm aufhaltenden und bewegenden Körper gekrümmt ist. Das widerspricht jeder Alltagserfahrung. Aber es konnte nachgerechnet werden, dass die abweichende Bewegung des Merkur der von Einstein berechneten und vorhergesagten Raumkrümmung entspricht. Der Raum ist gekrümmt, und zusätzlich zu den bekannten Koordinaten des Raumes muss das Maß der Krümmung der berücksichtigt werden. Ob es jemals einem Programm gelingen wird, in dieser Weise wie Einstein aus Abweichungen auf zusätzliche Dimensionen schließen zu können und möglicherweise sogar Zusammenhänge und Dimensionen zu entdecken, die über unseren bisherigen Horizont hinausgehen, ist offen.

Die Macht der Algorithmen

Ist mit der Quantisierung von Eigenschwingungen zugleich in einem höheren Sinn ein Quantensprung gegeben, der von maschinellen Algorithmen zu lernenden Algorithmen führt, die sich von ihren Programmierern und deren Denkvermögen emanzipieren können? Gewinnen solche Algorithmen eine eigene, möglicherweise sogar handlungsfähige Existenz und können sich selbst erkennen und verändern? Liegen der Evolution Algorithmen zugrunde, die zur Höherentwicklung führen, und auf deren Weg der Mensch nur eine bestimmte Stufe darstellt? Gibt es nicht nur ein egoistisches Gen, von dem 1976 der Evolutionsbiologe Richard Dawkins (* 1941) sprach, sondern auch einen egoistischen Algorithmus?

Ist so zu fragen von menschlichen Ängsten getrieben und macht blind für einen freien Blick, was mit den Algorithmen geschieht? Algorithmen lösen eine Vielzahl von Ängsten aus, aber wie sich zeigen wird, ist mit Algorithmen auch die Hoffnung auf die erlösende Macht von Ritualen und auf eine bessere Welt ohne stumpfsinnige Arbeit und möglicherweise sogar auf Unsterblichkeit verbunden.

– Ängste aus dem Alltag

Warum haben über 60% der Menschen Ängste vor Algorithmen (algorithm anxiety; Gloor u.a.)?

– Oft ist es einfach die Unkenntnis, wie Algorithmen arbeiten.

– Häufig wird bezweifelt, ob Algorithmen unseren moralischen Ansprüchen genügen: Sind sie ungerecht und unfair und benachteiligen systematisch bestimmte Menschen, die noch nicht einmal Minderheiten angehören müssen, weil sie falsch oder einseitig trainiert wurden, oder einfach, weil Algorithmen generell zu keinem Mitgefühl fähig sind? Sind sie im wörtlichen Sinn un-moralisch? Viele Algorithmen lieferten falsche Ergebnisse, weil sie nur mit Daten von Männern oder von weißen Menschen erprobt worden waren. So gab und gibt es in der Medizin viele Probleme, wenn Medikamente nur mit männlichen Probanden getestet und später auch Frauen gegeben werden, oder wenn mit Algorithmen aus dem Gesichtsausdruck von Menschen auf deren Verhalten geschlossen wird, die nur auf den im Internet massenhaft verfügbaren Fotos weißer Menschen aus wohlhabenden Großstadtmilieus basieren, die weit stärker als andere im Internet präsent sind, und dennoch auf alle Menschen hochgerechnet werden. Ein Algorithmus erkennt ohne Erfahrung und Datenbasis nicht von sich aus das besondere Verhalten einzelner Menschengruppen, Milieus und Ethnien und kann sich nicht in deren besondere Lage einfühlen.

– Wie können Algorithmen in der Masse der von ihnen verarbeiteten Daten Prioritäten erkennen? Diese Schwierigkeit erlebt seit Jahren jeder Anwender: Algorithmen erzeugen eine unbegrenzte Datenflut, ohne klar zu sagen, was davon wichtig oder vernachlässigbar ist. Das kann zu einer Kognitiven Verzerrung führen. Wird die Datenflut von verborgenen Algorithmen gesteuert, durch die es zur systematischen Verbreitung von Fehlnachrichten in sozialen Netzen kommt, und allgemeiner zur Fehlsteuerung von Informationen? Viele fühlen sich von den unüberschaubar vielfältigen und von einem Einzelnen nicht mehr einzuschätzenden Nachrichten überfordert, "nur 39 Prozent sagen von sich, dass sie sich noch ausführlich über das Weltgeschehen informieren" (Poulakos und Kittel, siehe auch v. Westphalen, der diesen Beitrag sowie weitere Quellen zitiert). Ursache ist nicht nur die Überforderung durch bedrohliche Nachrichten wie zu Covid-19, den Ukraine- und jetzt den Israel-Palästina-Krieg, sondern auch die zunehmende Digitalisierung und mit ihr Vereinsamung. Die Menschen ziehen sich von sozialen Kontakten zurück und sitzen nur an Computern. Sie lernen andere Menschen überwiegend über deren Online-Beiträge, Kurznachrichten und bei Video-Konferenzen kennen. – Angst vor Kontroll- und Jobverlust.

Können Algorithmen Gedanken lesen, wenn mittels Algorithmen die Gehirnströme ausgewertet und an ihnen die Abfolge von Phantasien gemessen werden kann (Parshall)? Das 2016 von Elon Musk und anderen in San Francisco gegründete Unternehmen Neuralink darf offenbar seit Mai 2023 an Menschen Experimente fortführen.

Dagegen wird gefragt: Ist es nicht einfach die übliche Werbung, die auch bei algorithmischen Programmen wirkt? Haben die Menschen eher Angst, weil - wie Harari sagt - die nüchternen Algorithmen uns besser kennen, als wir uns selbst, da jeder sein Selbstbild ein wenig beschönigt und frisiert hat und nicht darauf gestoßen werden will?

Können Algorithmen süchtig machen? Aktuelle Studien zeigen eine starke Zunahme von Erschöpfungs-Zuständen mit Konzentrationsschwächen und Schlafstörungen, die zu einem deutlichen Anstieg von Fehlzeiten bei der Arbeit führen. Gegenüber der herkömmlichen Werbung ist neu, dass Computerspiele interaktives Handeln anbieten. Japan ist besonders "weit" und übt daher in bestimmten Szenen eine große Faszination aus. Computerspiele bieten kleine Gratifikationen, fortlaufend kleine positive und negative Rückmeldungen. Es gab und gibt wohl noch Spiel-Casinos. Casino-Denken als Zug, der süchtig machen kann. Während die Casinos früher nur bestimmte, ausgefallene Milieus von Menschen ansprachen, dringen inzwischen Computerspiele dieser Art in andere Bereiche ein. Programme wie Duolingo werden auch von Lehrern gespielt und sind bewusst so angelegt, dass sie süchtig machen können. Normale Mütter sind zunehmend häufig auf ihr Smartphone orientiert, wenn sie ihre Kinderwagen schieben und haben weniger Blickkontakt zu den Kindern. Es herrscht eine Haltung, nichts verpassen zu wollen und immer online und präsent sein zu müssen. Das Thema ist bis zu Zeitungen wie der Bild und Computerbild angekommen, – "Laut interner Facebook-Dokumente erkennt jeder achte Nutzer bei seinem Social-Media-Verhalten Sucht-Muster." (Eisenlauer in Bild vom 14.11.2021) –, nachdem die frühere leitende Produktmanagerin bei Facebook Frances Haugen (* 1983/84) entsprechende Papiere veröffentlicht hatte (Fanta in netzpolitik).

Als Hilfe wird in der Regel Verhaltenstherapie angeboten, in schweren Fallen mit stationärer Behandlung.

– Neuorientierung von Wissenschaft und Philosophie

Die Religionen sind angesichts der technischen Umwälzungen nahezu völlig verstummt und beschränken sich darauf, die Möglichkeiten von Algorithmen zur technischen Unterstützung ihrer Rituale und für die Organisation und Öffentlichkeitsarbeit ihrer Institutionen zu nutzen, die wie übliche Wirtschaftsunternehmen geführt werden. Die Mathematik und die Philosophie haben dagegen eine tiefe Erschütterung durchgemacht und müssen sich völlig neu orientieren. Sie wurden von der Informatik geradezu überrumpelt. Heute ist kaum mehr vorstellbar, dass das Modell der Turing-Maschine und ein einheitlicher Code für Buchstaben, Zahlen, Satzzeichen und Maschinenbefehlen noch keine 100 Jahre alt ist (der ASCII-Code von 1963 und UTF-8-Code von 1992). Seither hat sich unter ihrem Eindruck das Selbstverständnis sowohl der Mathematik wie der Philosophie so stark gewandelt, dass in Vergessenheit zu geraten beginnt, wie es früher war. Dennoch hat das bisher kaum etwas an der Außendarstellung und nur wenig am Schul- und Hochschulunterricht geändert. Mathematik und Philosophie scheinen geradezu darauf bedacht zu sein, nach außen das Bild einer unveränderten Tradition abzugeben. Das führt in eine geradezu schizophrene Situation, in der sich die Realität der Forschung und der Arbeit immer weiter von dem entfernen, was nach wie vor als Mathematik und Philosophie gilt. Mathematik und Philosophie drohen an den Universitäten zu Orchideenfächern wie Kunstgeschichte oder das Erlernen früher Sprachen wie z.B. Sanskrit zu entwickeln, während diejenigen, die an Neuentwicklungen, Innovation und Kreativität interessiert sind, gleich in die Informatik-Entwicklung gehen und die außerhalb der klassischen Universitäten zahlreich entstehenden, oft privat geführten Institute favorisieren.

Mathematik: Mit Algorithmen entstand ein neues Verständnis des Rechnens. Jeder Programmierer kennt eine Gleichung wie i = i + 1. Damit ist gemeint: Nimm den aktuell im Speicher i stehenden Wert, z.B. die Zahl 8, erhöhe sie um 1 und schreibe das Ergebnis in den Speicher i zurück. Das ist für jeden, der Mathematik lernt, unmöglich. Niemals kann z.B. 8 = 8 + 1 sein. Aber mit i ist ein Speicher gemeint, der im Programm mit der Variable i angesprochen wird. Während es in der Mathematik ein großer Fortschritt war, als seit dem 15. und 16. Jahrhundert streng zwischen Variablen wie x und Konstanten wie ‘8’ unterschieden wurde, wird das mit der Informatik und ihren Algorithmen wieder aufgehoben. Stattdessen wird bei Algorithmen unterschieden zwischen den üblichen Rechenoperationen und den Zuweisungen (Zuschreibungen). Während übliche mathematische Gleichungen zeitlos gelten (es muss keine Zeit vergehen, damit in der Gleichung 2 + 2 = 4 die 4 erreicht wird), ist ein maschineller Algorithmus prinzipiell an die Zeit und an seine Umgebung gebunden, in der er schrittweise ausgeführt wird. Bei keinem Algorithmus kann ausgeschlossen werden, dass es zu unerwünschten Einflüssen oder Nebenwirkungen aus der Umgebung kommt. Er ist allen Unwägbarkeiten ausgesetzt, die im Zeitverlauf seiner Ausführung eintreten können. Algorithmen sind daher treffender mit chemischen Reaktionsgleichungen als mit der Mathematik zu vergleichen. Sie brauchen ein Medium. So wie beim Kuchenbacken niemals zwei Kuchen völlig identisch sein werden, selbst wenn die gleichen Zutaten besorgt und das gleiche Rezept befolgt wurden, wird niemals ein Algorithmus zweimal ein völlig identisches Ergebnis liefern. Das zu verstehen und zu akzeptieren ist die größte Herausforderung, wenn Mathematiker oder Naturwissenschaftler mit dem Programmieren beginnen. Es gibt immer besonders gewiefte Programmierer, die wissen und ausnutzen, dass Programme unter bestimmten Umständen besser oder schlechter laufen. Das ist für die üblichen Algorithmen meist kein Problem, da die Abweichungen zu gering sind, aber es kann für Echtzeit-Anwendungen große Auswirkungen haben wie das Beispiel Luna-25 zeigt. Oder anders gesagt: Jeder kann sich in der Regel darauf verlassen, dass sein Computer die Summe von 7 und 8 richtig ausrechnen wird, aber zugleich hat jeder schon erlebt, dass der Computer aufgrund von technischen Defekten "spinnt" und sinnlose Ergebnisse ausgibt.

Da Algorithmen keine reine Theorie, sondern an materielle Träger und den zeitlichen Ablauf gebunden sind, bleibt immer ein Moment von Magie. In der Kochkunst steht das außer Frage: Jeder bewundert die Fähigkeit, mit der ein begnadeter Koch das Essen zu zaubern versteht. Bei der Programmierung ist das nicht anders, widerspricht aber dem üblichen an der Mechanik orientierten Ideal der Ingenieurskunst. Stattdessen sind unter den Programmierern neue Arbeitsideale und ein eigenes Milieu entstanden, die sich Namen geben wie Hacker, Geeks oder Nerds, früher waren es Freaks – und es gehört zu ihrem Selbstverständnis, dass Außenstehende diese Namen und was sie bedeuten nicht einmal kennen – mit der Gefahr des Realitätsverlusts bis hin zur Empfänglichkeit für pseudo-religiöse Ideen, über die noch zum Thema Transhumanismus zu sprechen sein wird. Sie verstehen sich als die Schamanen einer neuen Zeit.

Philosophie: Auf der anderen Seiten fällt Philosophen die Einsicht schwer, dass all ihre logischen Schlussfolgerungen für eine Turing-Maschine programmiert und von ihr ausgeführt werden können. Wo bleibt das Besondere des philosophischen Denkens? Hatten Philosophen wie Heidegger und Wittgenstein unrecht, wenn sie der Naturwissenschaft und der Mathematik vorhielten, sie denken nicht, wenn doch die Gedanken und Überlegungen von ihnen allen in die Form einer Turing-Maschine gebracht werden können? Kann die Turing-Maschine denken? Für den Philosophen Wittgenstein zeigt sich mit der Turing-Maschine gegenüber dem Menschen eine völlig unerwartete Lebensform: Jeder Reiz, jede Wahrnehmung und alles Denken lassen sich bei genauer Beobachtung in Einzelschritte zerlegen, aus denen sie als Turing-Maschine dargestellt und als Programm geschrieben werden können. Alles, was den menschlichen Geist auszeichnet, kann auch als Turing-Maschine beschrieben werden. So gesehen sind Turing-Maschinen dem Menschen verwandt und ebenbürtig. Und doch versteht jeder, dass eine Turing-Maschine auf eine andere Art lebt als der Mensch. Das hat Wittgenstein dazu gebracht, die Sprache eines Wesens, sei dies nun ein Mensch oder eine Maschine, durch ihre jeweilige Lebensform zu bestimmen. Es genügt nicht, Grammatik, Semantik und Pragmatik einer Sprache zu beschreiben. Die Programmiersprache der Turing-Maschine ist für ihn ebenso eine Sprache wie die Sprache, mit der wir uns im alltäglichen Leben und wissenschaftlichen Arbeiten verständigen. Das hat das Verständnis der Sprache und mit ihr des Denkens revolutioniert. Seither wird vom linguistic turn gesprochen: Es gibt ein neues Verständnis, welche Bedeutung die Sprache für das Leben hat. – Die Turing-Maschine zeigt gegenüber dem Menschen eine besondere Vereinfachung (simplicity). Bedeutet der allumfassende Einsatz von Algorithmen, dass die Menschen zu bloßen Maschinen werden?

– Rituale und die Bitte um Erhörung

Gegenüber der Entwicklung maschineller Algorithmen ist daran zu erinnern, dass es seit Beginn der Menschheit Rituale gibt, vom Regenzauber, rituellen Reinigungen und Tieropfern, Befragen von Orakeln und Horoskopen, bis zu den Zeremonien bei Festtagen, Hochzeiten und Bestattungen, deren Abläufe formal als Algorithmen aufgeschrieben werden können. Sie sind streng geregelt und können inzwischen in immer größeren Teilen direkt von Maschinen übernommen werden. Das erste Beispiel war das bereits 1966 von Joseph Weizenbaum (1923-2008) eingeführte Computerprogramm ELIZA, mit dem er die weitgehend formalisierte Gesprächsführung psychologischer Beratung und Betreuung in einen Algorithmus umgeschrieben hat. Er war von der Wirkung des eigenen Programms mehr als überrascht. Wer mit diesem Programm ein psychologisches Gespräch begann, war wie gegenüber einer Vertrauensperson bereit, sehr persönliche Lebensprobleme mitzuteilen und auf Antwort zu hoffen. Das war der Beginn der Chatbots (wörtlich: Unterhaltungsroboter), die sich zunehmender Beliebtheit erfreuen. Heute lässt sich kaum mehr unterscheiden, ob ein psychologisches Beratungsgespräch mit einem ausgebildeten Psychologen oder einem Algorithmus geführt wird.

Andere Beispiele für Rituale des religiösen Lebens sind Tageslosungen, Gebete und die nach strengen Kalendern geplanten kirchlichen Feste. Sie sollen nicht nur dem Leben Stabilität verleihen, sondern in Bewusstseinszustände führen, in denen sich die Beteiligten in ihrer Isolation und Schwäche selbst vergessen und von einer größeren Macht erhört und getragen fühlen können.

Tageslosungen: Zur Zeit meiner Kindheit war es beim morgendlichen Frühstück ein weit verbreitetes, übliches Ritual, die unterschiedlichen Tageslosungen und Kalenderblätter zu lesen. Kaum einer fragt, wie sie entstehen: Es sind Algorithmen. Die Herrnhuter Losungen werden seit 1728 jedes Jahr drei Jahre im voraus um den 3. Mai herum aus ungefähr 1800 Bibelversen des Alten Testaments ausgelost. Das gesamte Verfahren und insbesondere die Auslosung sind ein Algorithmus. Das Ritual geht auf die Herrnhuter Brüdergemeine zurück. Die Gemeine ist aus der böhmischen Reformation im 15. Jahrhundert hervorgegangen, hat heute mehr als eine Million Mitglieder, davon über die Hälfte in Tansania.

Die Tageslosung für heute, den 27.10.2023 lautet: "Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?" (Psalm 27,1) Mit dem ergänzenden Stichwort ‘Andacht’ offeriert Google buchstäblich auf Knopfdruck eine Vielzahl von Andachtstexten. Ich war verblüfft, dass die Tageslosung genau das Thema anspricht, um das es an dieser Stelle geht. Wie immer sind viele Zugänge für eine Deutung möglich. Ich wähle entsprechend des Themas dieses Vortrags: Ein Ritual wird weitgehend gewohnheitsmäßig und automatisch eingehalten. Das ermöglicht die innere Sammlung und die Loslösung vom Verzetteln in die alltäglichen Eindrücke und Ablenkungen. Wie beim Obertonsingen kann ein Einschwingen auf eine innere Bewegtheit und deren Eigenwerte gelingen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Der kritische Punkt ist, ob es dem beteiligten Menschen nicht nur gelingt, sich hierüber auf die gewöhnlichen Muster der eigenen Vorstellungen und ihrer Eigenwerte einzustellen und auf sie aufmerksam zu werden (wie tauchen Gedanken, Ängste und Hoffnungen auf und verschwinden wieder, kommen und gehen), sondern in einer Art Trance (Ergriffen-Werden, mathematisch gesprochen in einem Grenzübergang, passage to the limit) zu einer höheren Eigenschwingung zu finden, die sich zum Unendlichen öffnet. Wem das gelingt, der kann gegenüber allen Gefährdungen eine innere Ruhe und Kraft gewinnen, mit der er sich vor nichts ängstigen muss. Das Zahlzeichen für die den Ägyptern größte denkbare Zahl war die Hieroglyphe eines mit offenen Armen den Himmelsbogen anbetenden Menschen, die heute in unserem Dezimalsystem als ‘eine Million’ eingeordnet wird (in der Gardiner Liste die Hieroglyphe C11 "als Phonogramm für ‘(unendlich) viele, Millionen’ als Determinativ und als Ideogramm für den Gott Heh", phonetisch ‘Hh’, der reine Atem, auf den der hebräische Ausdruck Tohuwabohu zurückgeht, das Formlose und Leere in Genesis 1,2): Hieroglyphe C11. Statt dieses Zeichen als ‘eine Million’ (oder wie es früher hieß: ‘Tausend mal Tausend’ oder ‘Großtausend’, siehe Grimms Wörterbuch) zu übersetzen, ist wohl der Ausdruck ‘Mächtigkeit’ treffender, den seit ungefähr 1880 der Mathematiker Georg Cantor (1845-1918) für Beispiele wie die Anzahl aller Punkte eingeführt hat, die kontinuierlich dicht auf einer Linie liegen.

Gibt es eine Eigenschwingung endlicher Zahlen zu einer übergreifenden Mächtigkeit? Schwingt die Dichte kontinuierlich dicht beieinander liegender Punkte auf ihre Umgebung aus? Mathematisch ist das eine offene Frage, und der Gedanke von Cantor wurde seither nicht mehr weitergeführt. Wird zurückgekehrt zur Tageslosung "Der Herr ist meines Lebens Kraft", so wird diese Kraft nicht durch den Algorithmus erzeugt, sondern der Algorithmus und das Nachdenken (Inne-Werden) in und mit ihm macht empfänglich für die Kraft, die wir spüren, aber weder in Worte noch in Zeichen fassen können, sondern nur unzutreffend als das Formlose und Leere beschreiben. Nicht diese Kraft ist formlos und leer, sondern alle von uns erfassbaren Formen sind ihr gegenüber formlos und befinden sich dennoch mit ihr in einer Eigenschwingung. Im hebräischen Original (siehe biblehub) heißt es 'o-w-ri ('WR, vokalisiert or, יור, jod-waw-resch, 10-6-200, d.h. ein Wort mit der Eigenzahl 216, wenn die hebräischen Buchstaben als Zahlen gelesen werden) und wird meist anders als bei Luther mit ‘Licht’ übersetzt, im Sinne der Verszeilen "es werde Licht" in der Schöpfungsgeschichte Gen 1,3 oder "lasst uns gehen in dem Licht des Herrn" nach Jesaja 2,5, einem Schlüsselbegriff der Kabbala und des mystischen Denkens. Die Wendung von der Macht der Algorithmen zur Mächtigkeit, die sich in den Algorithmen zeigen kann, führt zu einem Thema, das bei Gelegenheit weiter betrachtet werden soll.

Bestattungsrituale: Von vielen wird die Entleerung bedauert, die sich in den maschinellen Algorithmen zeigt, mit denen heutzutage nicht nur Online-Partnerschaften vermittelt und mittels Programmen wie DALL-E Kunstwerke generiert, sondern auch Trauerzeremonien gestaltet werden. Bei einer Trauerfeier werden bewusst weitgehend standardisierte Worte gesprochen mit einer beruhigenden Wirkung (so auch im jüdischen Ritual, wenn der Sohn eines Verstorbenen über elf Monate täglich das Kaddisch spricht), fast immer sind die gleichen Melodien inzwischen meist von Tonträgern zu hören, an einer vorprogrammierten Stelle läuten die Glocken, der Sarg wird nicht mehr von Totengräbern, sondern von Elektrofahrzeugen zur Grabstelle gebracht. Es ist nur noch ein kleiner Schritt, bis nicht nur der Andachtstext von ChatGPT geschrieben und die Musik von CD gespielt, sondern auch von einer automatisch aufbereiteten Stimme gesprochen wird, deren Timbre und Gemessenheit auf den jeweiligen Anlass eingestellt ist. Dann ist niemand mehr da, der für die Trauergemeinde aus der Situation heraus das treffende Wort und die besänftigende Zuneigung findet. Kann diese Abwesenheit umschlagen in ihr Gegenteil, ein höheres Gefühl der Verbundenheit, dem Eigenwert zum Unendlichen?

Pfingsten: Das in manchen Gebieten wichtigste Fest des Christentums ist Pfingsten. Es liegt kurz vor der Sonnenwende und betont mit dem Heiligen Geist stärker als Weihnachten und Ostern den besonderen Charakter des Christentums. Wie nur wenigen bewusst ist, ist der ungewöhnliche Name ‘Pfingsten’ der Name einer Zahl: Er geht auf das griechische pentekoste heméra zurück und bedeutet ‘das Fünfzigste’, womit der 50. Tag der Osterzeit gemeint ist. Wann aber ist Ostern? Seit den Anfängen des Christentums ist Computus der Fachname für die Osterrechnung. Ostern ist der erste Sonntag nach dem ersten Vollmond nach dem Frühlingsanfang am 21. März eines Jahres. In der Osterrechnung kommen die Berechnung der Mond- und Sonnenbahn, der Jahreszeiten und des Wochenzyklus zusammen. Werden anschließend 50 Tage hinzugezählt, ergibt sich Pfingsten. Die Zahl 50 geht wiederum auf den Satz des Pythagoras zurück, wie bereits der jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandrien (* um 15 bis 10 v. Chr., † 40 n. Chr.) wusste:

50 "ist die heiligste und der Natur am meisten entsprechende Zahl, da sie aus der Potenz des rechtwinkligen Dreiecks gebildet wurde, welches der Anfang für die Entstehung ist. 3²+4²+5² = 50. Dieses rechtwinkelige Dreieck ist ein wahres Symbol des Kosmos; die Summe der Katheten 3+4=7 ergibt die Zahl der Planeten, zählt man die Hypotenuse hinzu, 7+5=12, kommt man zur Zahl der Tierkreiszeichen, die Potenz ergibt, wie schon gezeigt, die Zahl 50" (zitiert nach Martin Geist).

50 Tage mussten vergehen und gezählt werden, bis nicht nur der Tod und die Auferstehung als gesichert galten, sondern eine Wirkung erzielten, angesichts derer alle menschlichen Sprachunterschiede verblassten und die Menschen eine heilige Sprache verstanden, die Auflösung der babylonischen Sprachverwirrung. Das ursprüngliche Pfingstfest ereignete sich in Jerusalem, als die Menschen aller dort lebenden Völker ein göttliches Brausen jeweils in ihrer Muttersprache verstanden (Apostelgeschichte 2,1-41). Zeigen nicht die aktuellen Ereignisse in Israel und Palästina die Dringlichkeit, darauf zurück zu kommen, und die Hoffnung auf eine Wiederholung eines Pfingstfestes?

– Transhumanismus – eine Utopie oder eine Horrorvorstellung?

Die Macht der Algorithmen ist als Thema der Massenkultur und einer Zeit entdeckt worden, die sich überwiegend nicht mehr religiös versteht. Der 1999 erschienene Science-Fiction-Film Matrix beschreibt eine Welt, in der sich die Machtverhältnisse von Mensch und Algorithmen umgekehrt haben: Algorithmen haben eine Welt geschaffen, in der die Menschen nur noch als Maschinen und Ressourcen für deren Energie-Gewinnung dienen.

Von den Eliten der Software-Firmen, die mit der Entwicklung und dem Einsatz von Algorithmen ihren unvorstellbaren Reichtum verdienen, wird an dem Entwurf einer neuen Religion gearbeitet, die sich als Transhumanismus oder in anderer Perspektive als Homo deus versteht (Harari). Das hat in eine Art Wettlauf um die Zukunft des Transhumanismus geführt. Unterschiedliche Entwicklungen sind denkbar: (i) Gelingt es einer Elite, die neuen Möglichkeiten der Algorithmen für sich zu nutzen und sich mit ihnen von der großen Mehrheit der Menschen zu distanzieren? Können sie unsterblich werden? Das scheint der Wunsch einer Gruppe von Milliardären in Kalifornien zu sein, die in Yuval Harari und dessen programmatischer Schrift Homo deus gewissermaßen ihren Hausphilosophen gefunden haben. (ii) Oder werden die Algorithmen umgekehrt den Menschen vom Fluch der Arbeit befreien, wenn beispielsweise mit auf Algorithmen beruhenden 3D-Druckern alle Ressourcen geschaffen werden können, um die Grundbedürfnisse des Menschen zu erfüllen? Darauf hoffen Aktivisten aus der früheren linken Bewegung wie Jeremy Rifkin oder Paul Mason. (iii) Hat der Mensch mit den Algorithmen etwas begonnen, das über seine eigenen Kapazitäten geht und in einen chaotischen, nicht mehr steuerbaren Zustand führt, dessen erstes Anzeichen die von keinem Menschen zu bewältigende Datenflut ist? (iv) Ist schließlich denkbar, dass wie im Film Matrix beschrieben der Mensch in eine untergeordnete Rolle gerät, vergleichbar seinem früheren Ausgeliefertsein an die Macht der Natur, sei dies nun eine harmonische oder dystopische Welt, die sich über alle moralischen Kategorien des Menschen erheben und von ihm ebensowenig zu verstehen ist wie Gott oder die Natur im Ganzen? Nicht zuletzt der berühmte Astrophysiker Stephen Hawking hat derartige Warnungen und Ängste ausgesprochen.

Ohne darüber weiter zu spekulieren, kann auf jeden Fall gesagt werden: Es wird die entscheidende Frage sein, ob die Algorithmen nicht nur die Eigenwerte erkennen, sondern aus sich heraus ein Medium der Sprache aufbauen können, in dem sie und die mit und von ihnen gesteuerten Maschinen zu einer Zusammenarbeit fähig werden. Mit einer geradezu visionären Kraft hat der Philosoph Hegel dieses Thema aufgeworfen (im Kapitel über den Chemismus in seiner Wissenschaft der Logik, siehe dazu an anderer Stelle einen Kommentar).

Zukunft der Algorithmen: Neuronale Netze, Quantencomputer

Lassen sich bestimmte Entwicklungen erkennen, die dorthin führen können? Wo stehen wir derzeit?

Neuronale Netze durchlaufen eine Trainingsphase und gewichten, welche Pfade am erfolgreichsten waren. Sie werden mit benachbarten Pfaden verglichen und mit Methoden des steilsten Abfalls / Anstiegs berechnet und bewertet, jedoch rein empirisch und ohne jeden Versuch, die Ursachen zu verstehen. Die Verteilung der Gewichte kann mit der Quantisierung der Eigenwerte verglichen werden, jedoch werden sie meines Wissens nicht ausdrücklich in dieser Weise gedeutet. Dennoch sind die Gewichte Ergebnisse eines Vorgangs, der zurecht als maschinelles Lernen bezeichnet wird und Resultate zeitigt, die dem Menschen nicht möglich waren. Es bleibt die Frage, ob mit Plausibilitätsprüfungen überwacht wird, ob die Ergebnisse im Rahmen der Erwartungen der Entwickler bleiben.

Quantencomputer nutzen die Wahrscheinlichkeitsverteilung von Quantenprozessen, die sich mathematisch mit Fourier-Funktionen in Obertonreihen und den Häufigkeitswerten der einzelnen Obertöne zerlegen lassen.

Die Grundidee für den Bau von Quantencomputern: Bei fast allen mathematischen Operationen treten zyklische Prozesse auf. Der Zehner-, Hunderter-, Tausender-Übergang ist das einfachste Beispiel einer zyklischen Wiederholung, und jede Uhr ist unmittelbar anschaulich ein zyklischer Prozess, der sich alle 12 Stunden und entsprechend alle 24 Stunden, 7 Tage, 12 Monate usf. wiederholt.

Das wichtigste und am meisten diskutierte Beispiel ist der 1994 entworfene Shor-Algorithmus mit einer sehr anschaulichen Beschreibung von Manon Bischoff in Spektrum der Wissenschaft vom 28.4.2023. Dem Mathematiker und Informatiker Peter Shor (* 1959) aus New York ist aufgefallen, dass bei Primfaktorzerlegungen, die für alle Verschlüsselungsverfahren elementar sind, periodische Rechnungen auftreten, die den Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Quantenmechanik entsprechen (Details sind in dem genannten Artikel von Bischoff genannt, der einige mathematische Vorkenntnis voraussetzt). Shor entwarf einen Algorithmus, mit dem ein Quantenprozess angestoßen und mithilfe der Wahrscheinlichkeitsverteilung von dessen möglichen Zuständen die Primfaktorzerlegung berechnet werden kann. Das ähnelt wiederum dem Farbspektrum: Wenn das Licht einer Lichtquelle an einem Prisma gebrochen wird, entsteht ein Regenbogen mit einer jeweils spezifischen Verteilung der Regenbogenfarben. Das entspricht mathematisch der Verteilung der Quantenzustände des jeweiligen Prozesses und der Verteilung möglicher Lösungen des entscheidenden Lösungsschritts für die von Shor vorgeschlagene Primfaktorzerlegung. Wenn sich das technisch realisieren lässt, ist keiner der aktuellen Sicherheits-Codes mehr sicher. Derzeit findet ein Wettrennen statt, wer als erster einen Quantencomputer bauen kann, der dazu in der Lage ist. Es ist jedoch nicht möglich vorherzusagen, wann und durch wen das zuerst gelingen wird.

Die Primfaktorzerlegung ist nur der für Geheimdienste wichtigste Anwendungsbereich. Es ist vorstellbar, dass auf ähnliche Weise andere Berechnungen mithilfe von Quantenprozessen möglich sein könnte, insbesondere auch die Variationen, um Eigenwerte zu finden. Das wäre ein Durchbruch der Algorithmen mit unabsehbaren Folgen.

Literaturhinweise

Bertelsmann-Stiftung: Was Deutschland über Algorithmen und Künstliche Intelligenz weiß und denkt, Update 2022; Link

Manon Bischoff: Wie Quantencomputer eines Tages unsere Verschlüsselungen knacken; Spektrum der Wissenschaft vom 28.4.2023

Kyle Chayka: The Age of Algorithmic Anxiety; The New Yorker vom 25.7.2022

Martin Eisenlauer: Facebook macht süchtig - und wir dulden das; Bild vom 14.11.2021

Alexander Fanta: Was die Facebook-Whistleblowerin der EU rät; netzpolitik vom 8.11.2021

Tim Fischer: Facebook-Sucht: Anzeichen und Lösungen; Computerbild vom 24.3.2023

Martin Geist: Die heiligste aller Zahlen; in Unizeit der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vom 25.10.2008

Jamie Gloor, Carolin Strobl, Rudolf Debelak: Wege aus der Angst vor Algorithmen; inside-it.ch vom 4.12.2020

Yuval Noah Harari: Homo deus, München 2019 [2015]

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, 2 Bd., Frankfurt am Main 1969 [1812,1831]

Ulrike Klinger: Wer hat Angst vor Algorithmen?; vhw FWS 5 / Oktober - November 2018, 235-238; PDF

Ladislav Kvasz: Patterns of Change, Basel / Boston / Berlin 2008

Filippo Menczer und Thomas Hills: Die digitale Manipulation; Spektrum der Wissenschaft vom 2.4.2021

Allison Parshall: Wenn die KI ins Hirn blickt; Spektrum der Wissenschaft vom 3.5.2023

Jeffrey M. Perkel: Zehn Algorithmen, die die Wissenschaft revolutioniert haben; Spektrum der Wissenschaft vom 22.2.2021

Ismene Poulakos und Sonja Kittel: Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit; rheingold-institut vom 23.7.2023

Raimund Schesswendter: Diskriminierung durch Algorithmen; t3n.de vom 25.11.2020

Karin Schlott: Radikalisiert Youtube seine User?; Spektrum der Wissenschaft vom 31.8.2023

Andreas von Westphalen: Deutschland: Land mit posttraumatischer Belastungsstörung; telepolis vom 11.10.2023

Irene Willi Kägi: Wie wir die Angst vor Algorithmen und KI verlieren; Kalaidos Fachhochschule Schweiz vom 25.2.2021


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