Walter Tydecks

 

Reflexion und Methode

– John Locke über die Freiheit des Menschen

Beitrag für den Philosophie-Kurs von Frau von Uffel über die Implikationen des Freiheitsbegriffs, Akademie 55plus Darmstadt am 2.11.2015 mit einigen Anpassungen und Ergänzungen im Anschluss an die Diskussion

John Locke lebte 1632 - 1704, in der Zeit der Englischen Revolution von 1640 bis 1689. Von Haus aus in den klassischen Wissenschaften für eine typische Universitätslaufbahn ausgebildet, reichten seine Interessen von Medizin und Naturwissenschaft über Politik und Ökonomie bis zur Erkenntnistheorie und Philosophie. Seine politischen Ideen hatten großen Einfluss auf die sich herausbildenden bürgerlichen, demokratischen Verfassungen. Schon früh hat er sich öffentlich für Cromwell eingesetzt. In den politischen Kämpfen seiner Zeit war er keineswegs unumstritten und musste 1683 eine letzte öffentliche Bücherverbrennung erleben. Erst mit der neuen politischen Ordnung 1689 war seine Position gesichert, und der 1690 veröffentlichte Versuch über den menschlichen Verstand war eine unmittelbare Reaktion darauf. Es lohnt sich, den Text im englischen Original zu lesen. Dort ist die revolutionäre Aufbruchstimmung ganz anders zu spüren als in der etwas behäbigen und romantisierenden Übersetzung.

Beflügelt von den neuen naturwissenschaftlichen Erfolgen etwa durch den 10 Jahre jüngeren Newton (1643 - 1727) oder den Naturforscher Robert Boyle (1626 - 1691) gilt er als einer der Begründer des Empirismus, der sich von allen Dogmen lossagen und ganz auf die sinnliche Erfahrung und menschliche Vernunft verlassen will. Sein Werk erzielte große Wirkung, und den wichtigsten Kommentar schrieb sogleich 1704-06 Leibniz (1646-1716), der allerdings erst 1765 veröffentlicht wurde. Ich werde mich im Folgenden häufig darauf beziehen.

Kaum ein Begriff ist Locke so wichtig wie die Freiheit. Sachlich vollzieht er nochmals einen deutlichen Schwenk von der christlichen zur antiken Tradition. Anders als noch Pico della Mirandola (1463-1494) gründet er die Freiheit nicht in einer dem Menschen von Gott verliehenen Fähigkeit, sondern will sie gewissermaßen naturwissenschaftlich und aus einer Selbstwahrnehmung des Denkens herleiten (reflecting on the operations of our minds, Locke § 4, hier und im Folgenden bezieht sich bei Locke und bei Leibniz der genannte § jeweils auf Kapitel 21). Sinnliche Wahrnehmung (sensation) einschließlich experimenteller Arbeit und Selbstbetrachtung (reflection) des eigenen Denkens treten an die Stelle von Glauben und Offenbarung, Mythos und Dogma. Schon hier wird klar, dass Freiheit für Locke und die Aufklärung vor allem bedeutet, dass und wie der Mensch fähig ist, die Natur und sein eigenes Denken innerlich frei wahrzunehmen und zu reflektieren.

Lockes Optimismus über die Leistungsfähigkeit der Reflexion wurde begeistert aufgenommen. Aber schon früh kamen auch kritische Fragen, die sich schrittweise zu einer umfassenden Kritik an der Freiheit und Macht der Reflexion ausweiteten: Nach welchen Prinzipien geht die Reflexion vor, und ergeben sich daraus für ihre Freiheit ihrerseits innere Abhängigkeiten oder gar Paradoxien? Beispiele sind die allem Denken vorausgehenden transzendentalen Begriffe bei Kant, die Reflexionsbestimmungen bei Hegel, der allem Denken zugrunde liegende Wille oder genauer Wille zur Macht nach Schopenhauer und Nietzsche, das Unbewusste bei Freud oder die von den Philosophen des 20. Jahrhunderts beschriebenen inneren Paradoxien und Selbstblockaden des Denkens (von der Russell-Antinomie bis zu psychiatrisch zu beschreibenden unauflösbaren Denkstörungen). In Kenntnis dieser nachfolgenden Geschichte ist zu fragen, wie Locke ursprünglich den Begriff der Freiheit des menschlichen Verstandes (understanding) gefasst hat.

Er will die Freiheit begründen aus einer dem Menschen verfügbaren Kraft (power). Freiheit ist für ihn kein visionärer Wert, sondern sie zeigt sich und kann empirisch nachgewiesen werden in den dem Menschen gegebenen Fähigkeiten. Daher schreibt er kein Kapitel über die Freiheit, sondern über die Kraft. Im Ansatz sieht er die Freiheit des Menschen in keinem Widerspruch zu den Kräften der Natur, die als äußere Zwänge den Menschen einschränken, sondern umgekehrt als eine dem Menschen von Natur aus zukommende Kraft. Der Mensch erfährt seine eigene Kraft auf ähnliche Weise, wie er die in der Natur wirkenden Kräfte zu verstehen lernt: Durch Beobachtung und Erkenntnis. So wie Galilei, Kepler oder Newton die Kräfte der Natur untersucht haben, will Locke die Kräfte des Menschen untersuchen und verstehen.

Kraft kann nicht unmittelbar wahrgenommen werden, sondern nur in ihren Wirkungen. Am Anfang stehen die sinnliche Wahrnehmung (sensation) der äußeren Natur und die Untersuchung des eigenen Denkens. Wenn der Mensch in der Natur oder in seinen eigenen Vorstellungen regelmäßige Veränderungen erkennt, ist ihm das ein Zeichen, dass die Natur und sein Denken nicht völlig zufällig agieren, sondern es offenbar Kräfte gibt, durch die diese Regelmäßigkeiten hervorgebracht werden. Durch Reflexion vermag er die sich in den Wahrnehmungen zeigenden Kräfte zu erkennen. Mit der Reflexion findet er die Ideen, um das Wahrgenommene zu verstehen.

Um das Wesen der Freiheit zu bestimmen, sind daher durch Reflexion in den Wahrnehmungen die Ideen zu erkennen, aus denen sich die Freiheit ergibt. Locke geht von den Ideen der Bewegung und des Denkens aus, um begründen zu können, wie sich in der Bewegung und im Denken Kraft und Freiheit zeigen. Ohne Bewegung und ohne Denken gäbe es weder Kraft noch Freiheit.

»Alle Kraft bezieht sich auf eine Tätigkeit (action), und von dieser kennt man nur zwei Arten, das Denken und die Bewegung. [...] Es fragt sich daher, woher man die klarste Vorstellung (clearest ideas) von der diese Tätigkeiten bewirkenden Kraft habe? 1) Vom Denken gibt uns der Körper keine Vorstellung; nur durch Selbstwahrnehmung (reflection) erlangt man sie; 2) ebensowenig hat man von dem Körper die Vorstellung einer selbst anfangenden Bewegung. Ein ruhender Körper gibt keine Vorstellung der tätigen bewegenden Kraft, und wird er bewegt, so ist diese Bewegung eher ein Leiden, als eine Tätigkeit seiner. [...] Man erlangt die Vorstellung von einer beginnenden Bewegung lediglich durch die Wahrnehmung (reflection) dessen, was in uns selbst vorgeht.« (Locke, § 4).

Im Weiteren soll näher betrachtet werden, wie Locke Bewegung in der Natur und die Freiheit des Denkens versteht.

Anmerkung: Philosophiegeschichtlich wurde gefragt, ob Locke bereits den heute üblichen Begriff der Kausalität vertritt, der notwendigen zeitlichen Abfolge von Ursache und Wirkung, und der daraus hergeleiteten Möglichkeit von Vorhersagen (Determinismus). Locke gebraucht jedoch weder den Begriff der Kausalität noch der Ursachen (causes), sondern spricht allgemeiner von Änderungen und ihren Regelmäßigkeiten (constant change und similar changes in § 1). Im Grunde steht er der neueren Physik näher als der Klassischen Physik, die es aufgegeben hat, nach Gründen und Kausalketten zu fragen, sondern ausschließlich Symmetrien und ihre Übergangswahrscheinlichkeiten untersucht.

Bewegung in der Natur

Der in der deutschen Übersetzung gebrauchte Ausdruck ‘Kraft’ ist missverständlich. Locke spricht im englischen Original von power und nicht von force. Die Newtonsche Physik handelt von Kräften im Sinne von force, zum Beispiel heißt Trägheitskraft auf englisch Fictitious Force. Daher erscheint mir treffender, wenn Leibniz in seinem in französischer Sprache geschriebenen Kommentar power in puissance und Cassirer dies wiederum in ‘Macht’ übersetzt.

Die Begriffe der Macht und der Bewegung gehen auf Aristoteles zurück. Leibniz stellt das in seinem Kommentar noch deutlicher heraus.

»Wenn die Macht dem lateinischen Potentia entspricht, so ist sie dem Akt (lateinisch actualitas) entgegengesetzt, und der Übergang von der Potenz zum Akt ist die Veränderung. Das ist es, was Aristoteles unter dem Ausdruck Bewegung versteht, wenn er sagt, sie sei die Wirklichkeit (energeia) oder vielmehr die Verwirklichung dessen, was der Möglichkeit nach vorhanden ist.« (Leibniz, § 1 in der Übersetzung von Ernst Cassirer).

Für Aristoteles hat jede Sache die Tendenz, ihre innere Natur und die mit ihr gegebenen Möglichkeiten zu verwirklichen. Mit Potenz ist zweierlei gemeint: Sowohl die Fähigkeiten (Anlagen, capacity) als auch die Fertigkeit (ability), sie umsetzen zu können. Kommt es dazu, dann hat auch der Begriff Wirklichkeit (actualitas, energeia) zwei Bedeutungen: Es ist sowohl der Vorgang des Verwirklichens (performing) wie der im Ergebnis erreichte Zustand (reality), wenn aus der Möglichkeit Wirklichkeit geworden ist. Der physikalische Begriff der Energie trifft das: Mit Energie ist das andauernde Wirken einer Kraft im Zeitverlauf gemeint. Energie ist weder eine bloße Fähigkeit noch eine Ursache, sondern das Wirken in der Zeit. (Newton hat als erster die mathematische Formel gefunden: Kraft ist die zweifache Ableitung der Energie nach der Zeit. Die erste Ableitung der Energie nach der Zeit ergibt die Geschwindigkeit, das ist das Maß, wie schnell eine Bewegung erfolgt. Die zweite Ableitung ist die Beschleunigung, das ist das Maß, wie stark eine Wirkung aufgebaut oder ihr widerstanden werden kann. In der berühmten Formel von Newton ist Kraft gleich Masse mal Beschleunigung.)

In seiner Schrift über die Physik wählte Aristoteles eine etwas andere Darstellung. Wenn ein natürliches Wesen in Umstände gerät, wodurch es gezwungen wird, eine seiner Natur widersprechende Form anzunehmen (z.B. eine im Schatten verkümmernde Pflanze), ist das für sie ein Mangel (Beraubung, lateinisch privatio, bei Aristoteles steresis). Aus dem Mangel entsteht die Bewegung, sich vom Mangel zu befreien und der eigenen Natur entsprechend zu entwickeln (die Pflanze ändert ihre Gestalt und wächst dem Licht entgegen).

Die Identität einer Sache liegt in ihrer Natur und nicht in dem, wie sie konkret jeweils unter dem Einfluss anderer Wirkungen vorhanden ist. Es kann und muss zwischen Realität und Idealität unterschieden werden: Jede Sache verfehlt in ihrer Realität die in ihr enthaltene Idealität, da sie äußeren Einflüssen ausgesetzt ist. Daraus ergibt sich in meiner Deutung mit Aristoteles das elementare Verständnis von Freiheit, auch wenn Aristoteles den Begriff der Freiheit noch nicht gebraucht: Etwas ist frei (selbständig, autonom), wenn es ihm gelingt, auch in der abweichenden Realität die eigene Natur und Idealität innerlich zu bewahren und sie so weit als möglich zu verwirklichen. Für Aristoteles ist es der Anfang aller Bewegung, den Mangel zu überwinden oder zu verringern, der in der Realität gegenüber der eigenen Natur besteht.

Ergänzung: In der Diskussion wurde gefragt, worin wiederum die Natur gründet. Mit ihr ist der letzte Grund erreicht, und sie kann nicht weiter begründet werden. Was Aristoteles und Locke schreiben, bezieht sich auf empirische Beobachtung, wie sich die Dinge, Lebewesen und Gedanken verhalten, und versucht die Ergebnisse in Ideen zu fassen und zu ordnen. Die Natur einer Sache ist als solche ebensowenig sinnlich wahrnehmbar wie die Kraft, sondern ist eine durch Reflexion gewonnene Idee.

Obwohl Locke nach meinem Eindruck ursprünglich in der Natur und beim Menschen auf ähnliche Weise von Kraft spricht, aus der ihre jeweilige Freiheit hervorgeht, vollzieht er im Weiteren eine Wende zu einem rein deterministischen Verständnis der äußeren Natur. Bewegung gibt es für ihn in der Natur nur durch äußeren Anstoß und nicht aus einem inneren Wachstumsprozess heraus, in dem sich die Lebendigkeit der Natur zeigt.

»Ein Federball wird von niemand für ein freies Wesen (free agent) gehalten, mag er durch den Schlag der Peitsche bewegt werden oder sich in Ruhe befinden. Der Grund liegt bei näherer Betrachtung darin, dass man dem Federball kein Denken und folglich auch kein Wollen und keine Wahl (preference) zwischen Ruhe und Bewegung zuschreibt. Seine Ruhe und Bewegung wird nur als notwendig genommen und auch so benannt.« (Locke, § 9)

Leibniz hat in seinem Kommentar ergänzt, dass sich Locke hier offenbar auf die Nikomachische Ethik von Aristoteles bezieht:

»Aber Aristoteles hat schon richtig bemerkt, daß, um die Handlungen frei zu nennen, wir nicht allein verlangen, daß sie spontan, sondern auch, daß sie überlegt (délibérées) seien.« (Leibniz, § 9)

Cassirer identifiziert in einer Anmerkung zu seiner Leibniz-Übersetzung als Stelle bei Aristoteles die Nikomachische Ethik 1111b über das »Vermögen der Entscheidung« (Prohairesis, woraus bei Locke die preference wird). Leibniz übersetzt das ungewöhnlich treffend mit délibérées: Das verstehe ich als die Fähigkeit, in einer gegebenen Situation deren innere Freiheitsgrade zu erkennen, daraus unterschiedliche Optionen und Alternativen für das Handeln abzuleiten und sich für die beste von ihnen entscheiden zu können. – Und Leibniz weist implizit zurecht darauf hin, dass Aristoteles nicht zwischen erzwungenen und freien, sondern zwischen spontanen und überlegten Bewegungen unterscheidet. Wenn eine Pflanze dem Licht entgegenwächst oder in einem mechanischem System jedes Partikel den Weg des geringsten Aufwands geht, dann erfolgt diese Bewegung spontan. Das entspricht ungefähr dem, wie Locke den menschlichen Willen bezeichnet, der spontan auf Unbehagen reagiert.

Mir erscheint daher die Schlussfolgerung bei Locke zu kurz gedacht, denn Aristoteles kennt nicht nur die mechanisch erzwungene Bewegung und die ethisch begründete Handlung, sondern auch die Bewegung zur Verwirklichung der eigenen Natur. Locke scheint die Natur auf leblose, völlig passive mechanische Partikel zu reduzieren. Er schließt sich einer äußerst folgenreichen Vorentscheidung an, die im Weiteren zu einem einseitigen Verständnis der Natur und zu einer fatalen Gegenüberstellung von Natur und Reflexion geführt hat. Freiheit und selbständiges Handeln werden ausschließlich beim Menschen gesehen, während die Natur rein deterministisch gedacht wird. Hier scheint sich für mich das frühere religiöse Denken auf das Selbstverständnis des Menschen übertragen zu haben: Der Mensch sieht sich in einer Rolle, wie er früher Gott verehrt hat, und ihm gegenüber die Natur in einer rein passiven und abhängigen Position, wie sie bereits im religiösen Denken gegenüber Gott gesehen wurde.

Bei der Selbstbetrachtung des eigenen Denkens greift Locke dagegen in § 29 den Gedanken von Aristoteles auf. Für ihn beginnt das Denken, wenn der Mensch ein Unbehagen (uneasiness) spürt und mit dem Denken nach einem Ausweg sucht. Aber anstatt eine Analogie zu bilden ›so wie es in der Natur zu Bewegungen kommt, wenn ein Mangel auftritt und behoben werden soll, so ist es auch beim Denken, das aus einem Gefühl des Unbehagens heraus nach einer Lösung sucht‹, sieht Locke anders als Aristoteles den Anfang einer Bewegung aus dem Mangel heraus nur beim Menschen und nicht in der Natur.

Freiheit des Menschen

Innerhalb des Denkens unterscheidet Locke wiederum zwei Ebenen. Es kann im Denken einzelne Fälle geben, die Unbehagen verursachen und direkt überwunden werden können (wer Hunger hat, besorgt sich Essen; wer gefangen ist, sucht nach Fluchtmöglichkeiten, etc.), und das Denken kann sich im Ganzen in eine schwierige Situation verstricken, die mit Unbehagen verbunden ist. Das ist dann der Fall, wenn es zur gleichen Zeit gegensätzliche Aspekte gibt, die einander blockieren. In solchen Momenten zeigt der Verstand seine besondere Fähigkeit, Widersprüche dieser Art von einer höheren Warte aus überschauen und auflösen zu können.

Für solche Momente erscheint mir Leibniz' nicht-wörtliche Übersetzung von uneasiness in inquiétude (Unruhe, Leibniz, § 29) außerordentlich treffend. Die von Locke beschriebene Situation ist durch einen oder mehrere Widersprüche gekennzeichnet, die eine spontane Lösung unmöglich machen. Das versetzt den Verstand in Unruhe, bis er etwas Neues gefunden hat, das aus dieser Lage herausführt. Er kann sich auf keine Beispiele berufen, sondern muss selbständig eine neue Sicht auf die Dinge finden. Als erstes muss er jedes voreilige Handeln abwehren, wodurch alles nur noch schlimmer werden würde.

»Da stets eine große Menge von Unbehagen den Willen reizen und bestimmen wollen, so entscheidet naturgemäß, wie gesagt, das größte und drückendste zunächst über das erste Handeln. Dies ist die Regel, aber nicht ohne Ausnahme. Denn die Erfahrung (experience) lehrt, dass die Seele (mind) in der Regel die Ausführung und Befriedigung eines Begehrens und damit auch aller, eines nach dem andern, hemmen kann (able to suspend acting). Dadurch wird sie frei für die allseitige Betrachtung der Gegenstände des Begehrens und deren Vergleichung mit einander. Hierin liegt die Freiheit, welche der Mensch besitzt. (In this lies man's liberty.)« (Locke, § 47)

Ergänzung: In der Diskussion wurde gefragt, worin die Freiheit ihren Grund hat. Locke nennt keinen Grund. Er schreibt lediglich, dass die Erfahrung lehrt, dass der Mensch sich so verhalten kann. Er beruft sich ausschließlich auf empirische Erkenntnisse der Selbstbeobachtung. – In der Übersetzung durch Julius Heinrich von Kirchmann von 1872/73 gibt es geradezu sinnentstellende Fehler, wenn in § 47 mind mit ‘Seele’ übersetzt wird. Locke wird in eine romantisierende Sicht gestellt, als wären Seele und ‘Geist’ (so die Übersetzung von mind in § 2 und eine von Kirchmann ergänzte Zwischenübersicht zu § 4) der Träger der Freiheit und nicht der Verstand, die Kenntnis und die Vernunft (mind, understanding, reason).

Leibniz ergänzt lapidar: »Das Beste aber ist, an methodisches Vorgehen sich zu gewöhnen.« (Leibniz, § 47) Das Vermögen einer geeigneten Methode ist das einzige, was dem Verstand in seiner Freiheit hilft. In Nachfolge von Locke und Leibniz haben daher alle bedeutenden Philosophen versucht, entsprechende Methodenlehren zu entwickeln. Sowohl Kant wie Hegel sehen in den von ihnen entwickelten Methoden die Verwirklichung der Freiheit.

Locke übernimmt Begriffe aus der Ethik, um die Vorgehensweise (Methode) des Verstandes zu beschreiben, so z.B. »Vorsicht, Überlegung und Aufmerksamkeit« (§ 52), sorgfältiges Abschätzen der Folgen aller möglichen Alternativen (§ 66) und Vermeiden von Unwissenheit, Nachlässigkeit und Überstürzung (ignorance, carelessness, in rush, haste, § 67).

Ähnliche Begriffe hat zwar schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik ausgeführt, aber es ist zweifellos ein neuer Gedanke von Locke, die grundlegende Freiheit des Verstandes darin zu sehen, dass er sich gegen die andrängenden Leidenschaften und den auf unmittelbare Befriedigung drängenden Willen durchsetzen kann.

Aristoteles hatte das wesentlich harmonischer gesehen. Für ihn gingen ganz natürlich die Triebe zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Bewegung, Fortpflanzung in die höheren Tätigkeiten des Menschen über wie das Denken und die Philosophie. Für ihn gibt es keinen Gegensatz von Bewegung in der Natur und dem Denken. Beim Menschen kommt das Bewusstsein über die eigene Situation und Handlungsalternativen hinzu, doch auch in der Natur kann schon von einem Innesein gesprochen werden (synesis), und es ist eine der größten Fragen der neueren Philosophie, wie der Mensch wieder zu diesem ursprünglichen Innesein zurückfinden kann. Reflexion, also über etwas nachdenken und möglicherweise ergebnislos grübeln, wird seit Hamlet bisweilen sogar als Unfreiheit angesehen, der das spontane Tun gegenübersteht.

Locke unterscheidet die Freiheit des Verstandes und die Freiheit des Menschen, auch wenn beide Begriffe bei ihm bisweilen ineinander laufen. Mit der Freiheit des Menschen ist gemeint, dass der Verstand Konflikte in der gesamten Verfassung erkennt, in der sich ein Mensch befindet. In seinen politischen Schriften argumentiert Locke auf ähnliche Weise, wenn er eine Verfassung der Gesellschaft vorschlägt, mit der sie ihre inneren Konflikte lösen kann und nicht in allseitigen Bürgerkrieg gerät.

Quellen

Claus Beisbart: Locke zur Idee der Kraft, Dortmund 2005; Link

Michael Jacovides: Locke's Construction of the Idea of Power
in: Studies in History and Philosophy of Science Part A 34 (2):329-350 (2003); Link

Gottfried Wilhelm Leibniz: Von der Macht und von der Freiheit
in: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand; zeno.org
Übersetzung von Cassirer 1915: Ausgabe im Meiner-Verlag, Hamburg 1996
französisches Original: Link

John Locke: Von der Kraft
in: Versuch über den menschlichen Verstand; zeno.org
englisches Original: Link, S. 125ff


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