Walter Tydecks

 

Das Gold der Mathematik

– Magie und Wissenschaft in der frühen Neuzeit

Beitrag für den Themenkreis Naturwissenschaft und Technik von 50plus aktiv an der Bergstraße am 24.2.2023 in Bensheim, erweiterte Version

Ankündigung

Macht Wissenschaft glücklich? Gab es im Jahrhundert 1550 bis 1650 eine einseitige Weichenstellung? Muss sie nach 500 Jahren überdacht werden, nachdem nicht nur die Magie, sondern auch die Religion und alle gesellschaftlich verbindlichen Werte verunsichert worden sind?

Der Vortrag wird am Beispiel eines Horoskops mitten hinein springen: Wie stehen für ein Ereignis am 24. Februar um 14:30 Uhr in Bensheim die Sterne?

Die Astrologie deutet: Jedes Ereignis enthält mit seinem Neuanfang ein inneres Licht und ist zugleich den Chancen und Gefährdungen der Welt ausgesetzt, in die es eintritt. Das ist ein magischer Moment mit seinem eigenen Zauber, der aus sich heraus die Wissenschaft aufblühen lässt.

Ist das bloße Fiktion? Der Arzt und hermetische Wissenschaftler Robert Fludd entwarf 1617 eine Weltharmonik, mit der er die existenziale Verfassung des Menschen und die Wissenschaft vereinbaren wollte.

Kepler blieb skeptisch, auch wenn er Fludd näher stand als es scheinen mag. Er arbeitete zur gleichen Zeit an seiner eigenen Weltharmonik und den bis heute gültigen Keplerschen Gesetzen und hat vorschnelle Spekulationen abgelehnt, die sich aus seiner Sicht auf keine messbaren Größen berufen können.

Das um 1625 entstandene Gemälde Atalanta und Hippomenes von Guido Reni kann zeigen, wie sich aus künstlerischer Sicht eine Vision des gegenseitigen Ergänzens von Magie und Wissenschaft denken lässt.

Keplers mathematische Methoden führen zur Frage nach quantitativen Prozessen und Algorithmen, mit der dieses Thema im Herbst fortgesetzt werden soll.

Das Horoskop dieses Vortrags

So wie Wallenstein den Astronomen und Astrologen Kepler beauftragte, das Horoskop für den Termin und den Ort einer bevorstehenden Schlacht zu erstellen, kann für jedes anstehende Ereignis der Stand der Sterne befragt werden. Was sagt die Astrologie über einen Vortrag in Bensheim am 24.2.2023 um 14:30 Uhr? Früher musste das aufwändig berechnet werden. Heute sind über Internet kostenfreie Abrufe verfügbar. Ein Beispiel ist astro.com und gibt das Ergebnis:

Vortrag 14:30

Vortrag Magie und Wissenschaft in der frühen Neuzeit am 24.2.2023 um 14:30

Das Horoskop zeigt die über den Jahresverlauf verteilten zwölf Tierzeichen, die ungefähr den Monaten entsprechen und jeweils einen Mondzyklus umfassen. Da die Tierzeichen aus Fixsternen bestehen, ändern sich ihre Lagen zueinander nicht, bzw. nur in astronomischen Zeiträumen, die weit außerhalb der Erfahrung des Menschen liegen. Historisch sind sie vor weit über 3000 Jahren in Babylonien entstanden (siehe das Kompendium MULAPIN), wurden im antiken Griechenland übernommen und haben dort die bis heute gültigen Namen erhalten. Von der Astronomie wird der Tierkreis ein wenig anders gezeichnet (Siderischer Tierkreis nach der Internationalen Astronomischen Union IAU), stimmt aber im wesentlichen überein. Das Besondere an der Astrologie ist die Verbindung der Fixsterne mit Namen und Mythen. Nirgends steht am Himmel geschrieben ›dies sind die Fische‹. Die Namen werden sich vermutlich aus der Gestalt der am Himmel zu sehenden Sterngruppen ergeben haben und verdanken sich der menschlichen Phantasie. Zum Beispiel ist heute (am 24.2.2023) um 14:30 Uhr der Aufgang des aus 5 Fixsternen bestehenden Sternbild Krebs abgeschlossen, dessen Gestalt tierkreiszeichen krebs an die beiden Zangen eines Krebses erinnert und astrologisch als krebs dargestellt wird. Der Krebs geht rückwärts, bleibt in der näheren Umgebung und kann als Hüter und Schützer empfunden werden, die Entdeckung einer auf sich selbst und das Nahe orientierten Langsamkeit und einander zugewandten Herzlichkeit. Er gilt als Zeichen des Weiblichen unter dem Schutz der Venus, verbunden mit dem Wasser, dem Mond und dem im Wasser glänzenden Silbrigen. Über Jahrtausende wurde beobachtet, ob bestimmte Ereignisse mit astronomischen Konstellationen korreliert sind. Im Ganzen bilden die zwölf Tierkreiszeichen ein festes Band und drehen sich von der Erde aus gesehen täglich einmal über den Himmel. Jeder, der im Laufe einer Nacht den Himmel beobachtet, kann das sehen. In einem größeren Zyklus verschiebt sich der Tierkreis im Lauf von jeweils einem Jahr, so dass in den 12 Monaten jeweils ein Tierzeichen den Reigen eröffnet, bevor es im nächsten Jahr von vorn beginnt. Die Wandelsterne (der Mond, die Sonne und die Planeten) bewegen sich dagegen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten durch den Tierkreis. Von der Erde aus gesehen ist der Mond mit einer Umlaufzeit von 29,5 Tagen am schnellsten. Die Geschwindigkeit der anderen Planeten hängt von ihrem Abstand von der Sonne ab: Je weiter sie von der Sonne entfernt sind, desto langsamer sind sie von der Erde aus gesehen, knapp 89 Tage für den Merkur, 225 Tage für die Venus, über 29 Jahre des Saturn bis zu 248 Jahre des Pluto.

Der Kreis ist durch die waagerechte Gerade ausgerichtet, die vom Frühlingspunkt zum Herbstpunkt führt: Sie zeigt am linken Rand, welches Tierzeichen und welche Planeten am jeweiligen Tag zu dieser Uhrzeit am Horizont aufgehen bzw. am rechten Rand untergehen und wo die anderen Planeten am Himmel stehen. Am 24.2.2023 geht in Bensheim um 14:30 Uhr das Tierzeichen Krebs auf, aber kein neuer Planet. Es ist jedoch auffallend, dass alle Planeten in unserem Blickfeld stehen, auch wenn sie jetzt wegen des starken Sonnenlichts nicht zu sehen sind und erst mit der Nachtdunkelheit sichtbar werden. Am rechten Rand beginnt der Pluto unterzugehen. Es gibt eine Häufung von Planeten rund um die als MC bezeichnete Himmelsmitte (Medium Coeli) oben rechts. Die Himmelsmitte ist astronomisch der Kreuzungspunkt von Meridian (Mittagskreis) und Ekliptik (die von der Erde aus zu sehende Bahn der Sonne). Die Sonne steht um 14:30 Uhr weiter oben rechts, dargestellt mit dem Symbol ʘ. Vielleicht ist einigen an den vergangenen Tagen aufgefallen, wie klar am Abend im Südwesten die Venus ♀ und der Jupiter ♃ leuchten, zwei ungewöhnlich helle Sterne, fast wie die Lichter von Flugzeugen, die sich bereits jetzt in der Nähe der Himmelsmitte befinden.

Das sind die astronomischen Fakten, von denen die Astrologie ausgeht. Ein Horoskop zeigt photographisch wie eine mit Symbolen arbeitende Zeichnung den jeweils aktuellen Stand der Sterne am Himmel, die Konstellation. Der Stand der Sonne, des Mondes, der Planeten und Sterne bestimmt die aktuelle Tageshelligkeit, ein besonderes Licht, die Länge und Intensität der Schatten, d.h. das aktuelle Raum- und Zeitgefühl. Anders als die Astronomie betrachtet die Astrologie jedoch nicht nur die messbaren Orte der Sterne, wie sie zu einer bestimmten Zeit von der jeweiligen Stelle aus zu sehen sind und gemessen werden können, sondern sie nimmt an, dass es zu einer weitreichenden Wechselwirkung zwischen den Sternen und dem Menschen kommt, die auf seelischer, mentaler oder spiritueller Ebene erfolgt. Sie geht von den gleichen Fakten aus wie die Astronomie, deutet sie aber in einem völlig anderen Weltbild. In diesem Vortrag wird es darum gehen, wie sich diese beiden Weltbilder voneinander entfernt haben.

Wie lässt sich dieses Horoskop deuten? Hierfür einige Stichworte, die die auf den ersten Blick verwirrende Vielfalt von Assoziationen zeigen, wie sie im Laufe der Jahrtausende von der Astrologie entwickelt wurden und bisher nur wenig systematisiert sind. Bisher ist es weitgehend der Erfahrung des Astrologen überlassen, aus ihnen seine Deutung abzulesen.

– Der Vortrag steht mit dem 24. Februar im Zeichen der Fische. Die Fische bedeuten am Ende eines astrologischen Jahres, – das mit dem Winter am 20. März schließt und am 21. März mit dem Frühling neu beginnt – den im vergehenden Jahr entstehenden Raum aller Lösungswege, aus dem heraus das neue Jahr eröffnet werden kann. Das ist eine Vision der Lösbarkeit, ein bestehendes Thema völlig neu zu sehen, die sich jedoch mit den Fischen noch im Träumerischen befindet und im Einzelnen erst herauskristallisieren muss. Mit diesem Vortrag kann nur eine Idee gegeben werden, wie das Thema Magie und Wissenschaft in der frühen Neuzeit neu zu denken ist und wo es hingehen kann.

– Der Aszendent steht im Krebs, und der Krebs wird mit dem Mond ☽ verbunden, der im idealen Horoskop im Krebs steht, wie er sich aus dem Thema mundi (Welt-Horoskop) ergibt, der Stellung der Planeten im Moment der Entstehung der Welt. Das Welt-Horoskop war in der hellenistischen Epoche in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt eingeführt worden, wird heute jedoch von der Astrologie kaum mehr herangezogen. Der Planet des Aszendenten ist für die Astrologie der Geburtsherrscher, die Situation, wie die Welt aussieht, in die das Ereignis eintritt, in anderer Ausdrucksweise der Erdgeist (wie er häufig in der Literatur etwa bei Goethe, Grillparzer oder Wedekind angesprochen wird). Der Astrologie geht es um die kritische Beziehung zwischen dem Geburtsherrscher, hier dem Mond, und der Sonne, die für die eigene, innere Qualität des jeweiligen Ereignisses steht und in diesem Horoskop in den Fischen zu sehen ist. Den Planeten sind Metalle zugeordnet: Dem Mond das Silber 🜛 und der Sonne das Gold 🜚. So legt das Horoskop nahe, dass es in diesem Vortrag um das Verhältnis von Silber und Gold, von Krebs und Fischen gehen wird. Das Verhältnis von Magie und Wissenschaft wird sich als Verhältnis des Weiblichen und Männlichen zeigen, dargestellt am Beispiel des Gemäldes Atalanta und Hippomenes von Guido Reni, das sich - wie sich zeigen wird - unter dem Schutz und im Konflikt mit der Venus und der Erdgöttin Kybele befindet.

– Im Horoskop ist der Geburtsherrscher jedoch in der Regel ausgewandert und nicht am Aszendenten zu finden, sondern an einer anderen Stelle: In diesem Horoskop steht der Mond nicht im Krebs, sondern am oberen Rand des Kreises im Stier. Der Ort des Geburtsherrschers zeigt die subjektive Methode, mit der das jeweilige Ereignis aufgenommen und angegangen wird, in diesem Beispiel: die in diesem Vortrag verwendete Methode. Der Stier steht für die Familienähnlichkeit. In dem Vortrag wird es darum gehen, an unterschiedlichen Vertretern der Magie, Kunst und Wissenschaft der frühen Neuzeit (Galilei, Kepler, Fludd, Michael Maier, Guido Reni) ihre Familienähnlichkeit und mit ihr die Antwort auf das Thema zu finden.

– Die Planeten stehen in 5 benachbarten Tierzeichen nahe beisammen rund um die Sonne. Sie bilden eine Gruppe, in deren Mitte mit Jupiter ♃ und Venus ♀ zwei mit dem Glück verbundene Planeten stehen. Sie sind jedoch eingefasst von Saturn ♄ im Wassermann und Mars ♂ in den Zwillingen, stellvertretend für die dunkle Seite eines Ereignisses, die es nicht zu vergessen gilt und die sich zu den Rändern hin verselbständigen könnte. Jupiter im Widder steht für Selbstbehauptung, Tatkraft und Optimismus, und wenn alles gut geht, zieht er die Herde der ihn umgebenden Planeten mit sich. Saturn im Wassermann deutet auf eine vor allem intellektuelle Ausrichtung, auf mathematisches und insbesondere geometrisches Anschauungsvermögen, mit dem Anliegen, dies anderen darstellen zu können. Wird das gelingen und Saturn aus dem Schatten hervortreten können? Davon hängt der Erfolg des Vortrags ab. Da der Saturn für meine Geburt der Geburtsherrscher war, geht es auch um eine mir persönlich gestellte Aufgabe.

– Wenn der Vortrag eine halbe Stunde später beginnt, verschiebt sich die Stellung der Planeten kaum, aber der Aszendent wandert mit der Bewegung der Sonne sehr schnell und hat bereits um 15:00 den Löwen erreicht. Wird der Vortrag pünktlich begonnen, so geht es mit dem Krebs um die Aufgabe, dass das treffende Wort erwacht (zur Welt kommt), woraus sich im Löwen ein lebhaftes Gespräch mit lebendiger Resonanz ergibt. Der Krebs, der Mond und das Silber sind weibliche Zeichen, Löwe, Sonne und Gold männlich.

Das soll als Einstieg genügen und zeigen, wie die hermetischen Wissenschaften mit einer auf den ersten Blick verwirrenden Vielfalt von Qualitäten und Bildern der Tierkreiszeichen, Geburtsherrscher, Planeten, Metalle, Häuser und ihrer wechselseitigen Stellungen (Aspekte) arbeiten. Das Beispiel soll zeigen, wie mit der Astrologie ein Ereignis wie z.B. dieser Vortrag völlig anders vorbereitet und gegliedert wird als mit der üblichen Wissenschaft. Es geht nicht nur um die Inhalte, sondern fast wichtiger noch um das Ereignis und dessen Bedeutung für die beteiligten Personen. So zu fragen ist für die Wissenschaft Magie. Sie vertraut stattdessen nur den quantitativen Eigenschaften, die gemessen werden können und mit denen sich rechnen lässt, völlig unabhängig von den Beteiligten. Während die Magie an Prozessen und den mit ihnen zu erreichenden qualitativen Änderungen interessiert ist, geht es der Wissenschaft um überprüfbare Fakten. Beides läuft zunächst gegeneinander, bis abschließend gezeigt werden soll, wie daraus die Frage nach quantitativen Prozessen entsteht, mit denen beide zusammenkommen.

Goldmachen

Während die Wissenschaft gegenüber ihren Themen bewusst neutral ist und jedes persönliche Interesse des Wissenschaftlers an bestimmten möglichen Ergebnissen als Störfaktor auszuschließen versucht, geht die Magie grundsätzlich von einer optimistischen Perspektive aus. Das Horoskop dieses Vortrags zeigt, wie eng das Ereignis (das Thema und die Gestaltung des Vortrags) mit persönlichen Eigenschaften verbunden sind. Jeder könnte sein eigenes Horoskop befragen, um zu erfahren, welche Erwartungen mit dem Vortrag verbunden sind, seien es nun Hoffnungen oder Ängste. Die Astrologie fragt nach dem Goldmachen und meint damit das Ausschöpfen des vollen Potentials, das mit jedem Ereignis gegeben ist. Jedes Ereignis hat ein inneres Gold (eine eigene Sonne), wird aber in eine Welt geworfen, die ihren eigenen Gesetzen mit ihren Chancen, Gefährdungen, Möglichkeiten und Risiken folgt. Wie lässt sich beides vereinbaren? In der Sprache der Magie wird das als Goldmachen bezeichnet. Mit Gold ist zweierlei gemeint: Sowohl das materielle Gold wie auch ein geistiges (spirituelles) Gold, das von der Magie als Lapis philosophorum (Stein der Weisen) bezeichnet wird. In diesem Sinn geht es der Magie um Glück und Unglück, während vom Wissenschaftler erwartet wird, Erkenntnisse zu gewinnen, in seiner Arbeit nicht nach seinem persönlichen Glück zu fragen. Es entstehen Ergebnisse unabhängig von der Frage, ob sie Glück oder Unglück bringen werden.

Die Alchemie beginnt mit Prozeduren, wie auf der materiellen Ebene ein gegebener Stoff in Gold umgewandelt werden kann, und wird daraus weitergehende Handlungsvorschläge bis hin zu therapeutischen Verfahren herleiten. Meist liegt das Gold oder ein Vorläuferstoff des Goldes in unreiner Form vor, aufgelöst in Flüssigkeiten oder eingesprengt in Gestein. Aus diesen Gemischen kann mit Aussieben und Waschen, Pulverisieren und Trennen das dort enthaltene Metall gereinigt, gesammelt und zusammengetragen werden, bei dem es sich entweder schon direkt um Gold oder um einen Stoff handelt, aus dem Gold hergestellt werden soll. Oft ist eine Vorbereitung erforderlich, um das vorliegende Gemisch mit Rühren, Kneten, wachsweich Gestalten, Gärenlassen, Erwärmen, Destillieren, Zufuhr von Hilfsstoffen und möglicherweise weitere Verfahren aufzubereiten. Der Phantasie und Erfahrung sind keine Grenzen gesetzt. Im Prinzip kannte die Alchemie alle Verfahren, die bis heute in der Chemie und chemischen Industrie in Gebrauch sind. Aus mathematischer Sicht sind besonders die Multiplicatio und Projectio interessant: Bei der Multiplicatio wird ein bereits gewonnener Zwischen- oder Endstoff nochmals in den Prozess eingeführt und vervielfacht dessen Wirkung, bis sich das Ergebnis potenziert. Die Projectio (Tingierung) erfolgt ähnlich: Kleine Mengen bereits erzeugten Goldes werden in einen anderen Stoff wie z.B. Silber und Quecksilber eingestrichen (tingiert), wodurch er ebenfalls in künstliches Gold verwandelt wird.

Doch wäre die Alchemie missverstanden, würde sie auf die materielle Erzeugung von Gold beschränkt. Vielmehr liefern diese materiellen Prozeduren wie das Gärenlassen, Potenzieren, Kochen usf. die Vorbilder, die sich wie Metaphern auf pädagogische, psychologische, philosophische und theologische Prozesse übertragen lassen. Diese Ideen gehen zum Beispiel auf Jakob Böhme (1575-1624) zurück, dessen Schrift Aurora (Die Morgenröte im Aufgang) 1612 entstanden ist und seither zahlreiche Philosophen bis hin zu Hegel und Heidegger beeinflusst hat. In neuerer Zeit hat sich insbesondere der Psychologie Carl Gustav Jung (1875-1961) in diese Tradition gestellt, aber auch bei allen anderen pädagogischen und psychologischen Therapien sind die von der Alchemie untersuchten Verfahren wiederzuerkennen. In übertragener (metaphorischer) Weise handeln sie alle vom Goldmachen.

In der Sprache der Magie wird die äußere Welt, in das ein Ereignis geworfen ist, mit dem Metall Eisen verbunden, das in Gold umzuwandeln ist. Wenn nicht direkt aus einem Gemisch von Eisen, Gold und anderen Stoffen das Gold herausgelöst werden kann, geht es stofflich um ein Amalgamieren, mit dem die gegebenen Stoffe so verbunden werden, dass zunächst ein Stoff entsteht, der dem Gold ähnlich sieht (wie z.B. ein Kupferamalgam), bis er im Endergebnis nicht mehr vom Gold zu unterscheiden ist. Das Wort ‘Amalgam’ hat eine charakteristische Vielfachbedeutung: (i) Chemisch ist das Amalgam eine Legierung des Quecksilbers. Die meisten kennen es noch als Zahnfüllung. (ii) Traditionell galt der Quecksilber als das schnelle Silber und wurde mit dem Gott Hermes verbunden, auf den die hermetischen Wissenschaften zurückgehen. (iii) Etymologisch »geht [das Amalgam, t.] wohl zurück auf arab. `amal al-gama`a 'Durchführung, Werk der Vereinigung'« (DWDS) (iv) Das Wort ‘Amalgam’ ist – vom Klang her einer Zauberformel wie Abrakadabra vergleichbar – ein magischer Spruch, der sprachlich auf der selbstbezüglichen Umwandlung eines A über ein A (d.h. über sich selbst) in ein A beruht, eine aus eigener Kraft bewirkte Höherentwicklung, mathematisch gesprochen eine Potenzierung. (v) Rein formal wird daraus die Schlussfigur A – A – A, die Hegel als den mathematischen Schluss bezeichnet: Es ist ein allgemein-gültiger Schluss, mit dem aus etwas Allgemeinem (A) über etwas Allgemeines (A) auf ein Allgemeines (A) geschlossen wird. (Hegel, Bd. 6, 371-374) – Diese Stufen zeigen, wie ein Ausdruck der Alchemie in den Sprachgebrauch und die Wissenschaften übergegangen ist. Der Schluss A – A – A ist die Grundfigur, aus der sich mit den Methoden der Mathematik und Informatik Algorithmen entwickeln lassen, die Thema eines für den Herbst geplanten weiteren Vortrags sind. (Dessen Horoskop sieht völlig anders aus. Es steht im Zeichen des Skorpion mit einem Aszendenten im Steinbock und darüber den Saturn als Geburtsherrscher.)

Das Kupfer-, Zinn-, Silber- und Quecksilberamalgam sind typische Amalgame, die in die Nähe des Goldes führen. Dagegen war es eine Erfahrung der Alchemie, dass unmöglich aus einem Eisenamalgam Gold gemacht werden kann. Eisen und Gold stehen in einer besonderen Opposition. Daher wird das Geworfensein eines Ereignisses in die Welt mit dem Metall Eisen beschrieben, um in diesem Bild zu sagen, dass es sich nicht mit dem üblichen, stofflichen Umwandlungen in Gold verwandeln lässt. Stattdessen ist ein philosophischer Weg zu finden, um aus der Situation der Geburt das in ihr verborgene Gold zu fördern. Die Literatur kennt zahlreiche Beispiele. Jeder Entwicklungsroman wie auch eine Philosophie der Entwicklung nach dem Typ der Phänomenologie des Geistes von Hegel lässt sich aus dieser Form verstehen. Der Hollywood-Drehbuchautor Christopher Vogler (* 1949) sieht das als die Heldenreise, deren Muster nicht nur bereits die Odyssee und die Fahrt der Argonauten folgen, sondern alle erfolgreichen Spielfilme (Die Odyssee des Drehbuchschreibers von 1992).

Zum Schluss bleiben zwei Fragen: Was ist, wenn der Vortrag ein wenig später stattfindet und mit dem Löwen bereits im Zeichen von Gold und Sonne steht? Hat sich dann alles von allein erledigt? Das ist ein Vorteil wie ein Nachteil. Zum einen stehen die Sterne günstig, zum anderen ist die Gefahr gegeben, bei einer unmittelbar eingetretenen günstigen Konstellation sich damit zufrieden zu geben und auf der materiellen Ebene zu verharren. Auch bei einem Ereignis im Zeichen von Gold und Sonne ist eine spirituelle Umwandlung des zunächst materiell gedachten Goldmachens erforderlich.

Und welches Gold kann dieser Vortrag machen? Es geht um das Verhältnis von Magie und Wissenschaft. Die Wissenschaft beruft sich gegenüber der Magie auf die Mathematik. Das wird von vielen als kalt und unpersönlich empfunden. Aus Sicht der Magie ist an der Mathematik das in ihr verborgene Gold herauszulösen und zu bergen. Wie das zu verstehen ist, soll am Beispiel von Galilei, Kepler und Newton der Schwerpunkt des zweiten Teiles des Vortrags werden und dazu beitragen, die gegenseitige Entfremdung von Magie und Wissenschaft zu überwinden.

Weltharmonik von Robert Fludd

Ist dies überzeugend oder nur Phantasie, die Wiederkehr einer heidnischen Religion? Der Name Okkultismus bedeutet wörtlich die Lehre von den verborgenen, okkulten Dingen in der Natur. Der Ausdruck wurde 1531 von dem Arzt, Theologen und Universalwissenschaftler Agrippa von Nettesheim (1486-1538) in seinem Werk De occulta Philosophia geprägt, das einen umfassenden Überblick über alle Fragen der Magie gibt und bis heute als Standardwerk gelten kann. Die von ihm aufgenommene Tradition geht zurück bis zu den magischen Zeichen in der Steinzeit, eine frühe Blüte in Mesopotamien im 3. Jahrtausend v. Chr., unterschiedlichen Zweigen in Babylonien, Ägypten, Griechenland und der jüdischen Kabbala, und erfuhr in Europa in der frühen Neuzeit seit Agrippa von Nettesheim und dem Arzt Paracelsus (1494-1541) eine Wiederkehr. Sie steht in Zusammenhang, teils Ergänzung und teils Kritik mit dem Renaissance-Humanismus, von dem wir in Kürze bei einer Exkursion in das Elsass mehr erfahren werden.

Hintergrund ist ein seit den Karolingern um 800 zwar nur langsamer, aber stetiger Aufschwung der Produktionsmethoden in der Landwirtschaft, dem Handwerk und den Städtegründungen seit 1100. Erstmals wird auch in Europa das Eisen nicht mehr nur für Waffen, sondern auch für Pflugscharen und anderes agrarisches Gerät genutzt. Eisen verliert den Luxuscharakter für eine adlige und kriegerische Oberschicht. Schmiede gehen auf das Land. Das Kummet wird eingeführt, das Ochsenjoch verbessert, so dass mehrere Ochsen und Pferde angespannt werden können. Seit dem 13. Jahrhundert gibt es in Europa Maulbeerbäume und eine eigene Seidenproduktion, seit dem 14. Jahrhundert in großem Stil die Schafzucht und mit ihr die Wollproduktion und eine ergiebige Quelle für Fleisch und natürlichen Dünger. Entlang der Handelswege und im Umfeld mancher Klöster entstehen neuartige Zentren kooperativer Wirtschaftsweisen und des Wissens. (Als Literatur ist nach wie vor die Darstellung von Alistair Crombie zu empfehlen.) In diesem Umfeld entstanden die Labore der Alchemisten. Wer sich heute Zeichnungen der Labore anschaut, wird sowohl arme, unsystematisch vorgehende Alchemisten sehen, deren Laboratorium wie eine unaufgeräumte Handwerkerstätte aussieht. Sie verlieren ihr gesamtes, ohnehin schmales Vermögen und stürzen ihre Familie in Armut. Auf der anderen Seite sind vor-industrielle Manufakturen entstanden, die von Adelshöfen unterhalten werden und Vorläufer der chemischen Industrie zeigen. Fast ein Kuriosum ist der Schuppen im Trinity-College, Cambridge, in dem Newton viele Jahre den größten Teil seiner Arbeit mit alchemistischen Experimenten verbrachte und dies vollständig geheimzuhalten vermochte. Schließlich gibt es Schreibstuben, die wie die Räume der Kabbalisten in manchen Synagogen aussehen (Münkler, 222, 224, 226; Golinski, 198).

Brueghel - Alchemist

Pieter Bruegel d.Ä. (Bauern-Bruegel) Der Alchemist, Gravur, 1558
Quelle: Wikipedia

Das Bild zeigt die verschiedenen Verfahren der Alchemisten und steht in einem informativen Beitrag von Wikipedia über Chemie im Altertum. Alles ist sporadisch, nicht recht aufgeräumt, jeder scheint zu tun, was ihm gerade wichtig ist, ein Eimer ist umgefallen, ein Becher läuft aus usf. Die Verhältnisse sind ärmlich und bäuerlich, und es ist gut vorstellbar, dass ein solcher Alchemist seine Familie ins Unglück stößt. Jederzeit kann jemand hereinkommen mit etwas, das draußen auf dem Feld entdeckt wurde, ein ungewöhnlicher Stein oder ein bisher unbekannter Stoff, der von allen Seiten geprüft und untersucht wird. Die Alchemie befindet sich in der Phase der Innovation und Erweiterung. Davon unterscheidet sich das folgende Bild.

Straet - Distillation

Theodor Galle nach Jan van der Straet: Distillatio, ca. 1580-1590
Quelle: Wikimedia

Alle gehen konzentriert einer bestimmten Aufgabe nach. Die Arbeit ist genau geplant. Offenbar ist bereits der gesuchte Stoff bekannt, und es ist ein fast-industrielles Verfahren eingeleitet, den gewünschten Stoff in großen Mengen und hoher Qualität herzustellen. Bis heute sieht es in der chemischen Industrie nicht viel anders aus.

Isaac Newton (1642-1726) ist berühmt für seine mathematischen und physikalischen Arbeiten und später als der Direktor (Master) der englischen Münzprägeanstalt, der weitreichende Entscheidungen getroffen hat wie z.B. die Einführung des Goldstandard für das englische Pfund Sterling. Erst im 20. Jahrhundert wurden seine Tagebücher bekannt, aus denen hervorgeht, dass er an der Universität den größten Teil seiner Arbeitszeit mit alchemistischen Verfahren verbracht hat und über eine der besten und umfangreichsten Bibliotheken der Alchemie verfügte. Das hat er gut geheim gehalten und nur nahen Vertrauten Zugang zu seinem Schuppen erlaubt, der unauffällig im Winkel in der Nähe eines kleinen Gartens untergebracht war. Die meisten werden das für eine Abstellkammer der Gärtner gehalten haben.

Newtons Räume im Trinity College

Trinity College, Cambridge, 1690, mit Newtons alchemistischem Labor
»David Loggan's print of 1690 showing Nevile's Great Court (foreground) and Nevile's Court with the then-new Wren Library (background) - New Court had yet to be built« (Wikipedia)
Quelle: Wikimedia
»Newtons Räume im Trinity College in Cambridge befanden sich rechts des Torhauses im ersten Stock. Sein Laboratorium hatte er wahrscheinlich in dem Schuppen, der auf diesem zeitgenössischen Stich am Ende des Gartens an der Wand zur Kirche zu sehen ist.« (Golinski, 198)

In eine ganz andere Welt führt eine Zeichnung von Rembrandt ein. Alchemie war nicht nur der Umgang mit chemischen Stoffen, sondern auch mit Buchstaben, Zahlen und Texten.

Rembrandt - Alchemist

Rembrandt Sogenannter Doktor Faustus – Der praktizierende Alchemist zuhause bei seinen Studien, ca. 1652
Inschrift: ALGASTNA * AMRTET * ALGAR * / DAGERAM * ADAM * TE / INRI
Quelle: By Rembrandt - www.rijksmuseum.nl: Home: Info, Public Domain, Wikimedia

Goethe hat diese Zeichnung 1790 in gespiegelter Form abzeichnen lassen und als Deckblatt für die zweite Version des Faust gewählt, Faust, ein Fragment. Alchemie ist nicht beschränkt auf das chemische Goldmachen. Hier zeigt sich ein Beispiel, wie mit Worten alchemistisch operiert werden kann. Es gilt, aus vorgefundenen Worten das in ihnen verborgene Gold zutage zu fördern. Die Buchstaben sind zu spiegeln, ihre griechischen und hebräischen Vorlagen sind zu erkennen, und vor allem handelt es sich um ein kunstvolles Ineinanderziehen von Anfangs- und Endbuchstaben. Diese Technik wurde besonders von der jüdischen und christlichen Kabbala gepflegt (die Methode heißt Notarikon, eine Art Stenografie).

Seit ihrem Erscheinen wurde gerätselt, was die wie eine Lichterscheinung vor dem Fenster dargestellten Buchstaben bedeuten. Jeder erkennt sofort das Zeichen INRI (Iesus Nacarenus Rex Iudaeorum) und das Wort ADAM, doch führt das wahrscheinlich in die Irre. Mir erscheint die 2001 von dem Germanisten Diethelm Brüggemann veröffentlichte Deutung nachvollziehbar, an der er jahrzehntelang gearbeitet hatte. Werden wie in alchemistischen Verfahren die Buchstaben immer wieder neu geordnet und auf andere Sprachen wie die drei heiligen Sprachen des Hebräischen, Griechischen und Latein bezogen, dann ergibt sich für ihn bei einer Spiegelung und einer Lesart von innen nach außen der Text.

Zum inneren Ring (INRI):

»Während im christlichen Kontext INRI das höchste geistige Prinzip bezeichnet, den Logos, bezeichnet es in der Alchemie das grundsätzliche materielle Prinzip, also die vier Elemente. INRI ist eine Abkürzung hebräischer - in einem Falle: aramäischer - Wörter. Der Buchstabe I steht für Iabaschah, was Land bedeutet, also alchemistisch Erde; N steht für das aramäiische Wort Nour und bedeutet Feuer; Ruach heißt Seele, Wind, Geist, bedeutet also die Luft; das zweite I schließlich ist der Anfangsbuchstabe von Iam oder Iamin, Singular und Plural von Meer, also alchemistisch Wasser.« (Brüggemann, 147)

Zum mittleren Ring (DAGERAM * ADAM * TE):

ADAM ist zu spiegeln in MADA, das in MADDA erweitert »Wissenschaft bzw. sogar Naturwissenschaft« bedeutet. DAGERAM wird gespiegelt in MAREGAD. Das wird zerlegt in MAR (Herr, Meister) und EGAD, das als EGED gelesen »Bündel, Büschel oder Gebundenheit, Fessel, Sklaverei« bedeutet, zusammengenommen der »Meister der Gebundenheit«.

So bezeichnet der Text dieser Zeile »mit der Aussage '(Natur)wissenschaft und Meister der Gebundenheit' eine Sache und eine Person, die offenbar als zusammengehörig angesehen werden. Der Meister der Gebundenheit wäre der Meister des Bindens und Lösens, also der Alchemist, und die von ihm ausgeübte Wissenschaft wäre die Alchemie.« (Brüggemann, 143)

Zum äußeren Ring (ALGASTNA * AMRTET * ALGAR):

»Bei der Wortgruppe ALGASTNA oder in Rückwärtslesung ANTSAGLA handelt es sich nun um eine in diesem Fall sprachalchemistische coniunctio oppositorum auf höchster Ebene. Die Wortgruppe ist also eine Umschreibung des Steins der Weisen. Ähnlich wie im alchemistischen Rebis symbolisch zwei Körper miteinander ›verschmelzen‹, sind es hier zwei Begriffe, die beiden Begriffe für die höchsten Potenzen des Gottlichen, des ›Guten‹ und des ›Bösen‹: AGLA als altes Notarikon für den Gottesnamen mit SATAN, dem biblischen Begriff für das Böse. Die intensive Verschmelzung zur Buchstabengruppe ALGASTNA drückt sich dadurch aus, daß statt des viermaligen Vorkommens des Buchstabens A dieser nur dreimal erscheint - davon einmal als beiden Worten gemeinsamer.« (145)

Ergänzung: In ALGASTNA verbirgt sich sowohl der kabbalistische Gottesname AGLA wie auch SATAN, der Name des Bösen, die in ALGASTNA eine höhere Einheit finden. AGLA ist die Abkürzung der hebräischen Gottesanrufung ›A(TTAH) G(IBBOR) L(E'OLAM) A(DHONAY)‹, in deutscher Übersetzung ›Du bist mächtig in Ewigkeit, o Herr‹ (Brüggemann, 140).

Das ergibt für ihn im Ganzen die Entzifferung der in drei Ringen angeordneten Zeichen:

»Das alchemistische Werk beginnt mit den vier Elementen der materia prima im Schmelztiegel (Aussage der inneren Scheibe); hinzukommen müssen Wissenschaft und der alchemistische Meister (Aussage der inneren Ringzeile); am Ende steht der Stein der Weisen (Aussage der äußeren Ringzeile).« (Brüggemann, 148)

Die hermetischen Wissenschaften wie Alchemie, Astrologie und Magie blühten im Europa dieser Zeit in einem Umfeld von Volkstraditionen und fließenden Übergängen zur Folklore auf. Die Kirche stellte sich in den meisten Fällen gegen diese Entwicklung. Aus der Hexenverfolgung mit ihrem Höhepunkt ebenfalls in der frühen Neuzeit 1550-1650 ist bis heute der Ruf übrig geblieben, bei Okkultismus und Magie handele es sich um Satanismus, Ausschweifungen und den Schadenszauber bösartiger Frauen, die mit ihren Blicken, Säften und Kräutern andere verwünschen, verhexen und ins Unglück stürzen.

In diesem Gemisch entstanden sowohl aus den Kloster- und Domschulen die Anfänge der Universitäten und einer akademischen Forschung, wie auch ihnen gegenüber eine bewusst anti-akademische Haltung, die anders als der vorherrschende Trend sich nicht nur in Theorien und Buchstaben bewegt. Die Alchemisten, Kräuter- und Heilkundler wollen in die Natur gehen und sehen und hören, was diese ihnen zu sagen und zu zeigen hat.

»Als 'alternative' Medizin unterscheidet er sich von der akademischen 'Schulmedizin' dabei von vornherein nicht nur durch seine Inhalte - darunter an erster Stelle eine chemische Pharmazeutik -, sondern auch durch seinen anti-akademischen Habitus. Man will sich um jeden Preis vom 'toten Buchwissen' des akademischen Galenismus mit seiner Fixierung auf die antike Medizin unterscheiden. Statt auf 'totes Buchwissen' beruft sich der Paracelsismus auf die 'lebendige Erfahrung' der Natur - auf das 'Licht der Natur', wie das Schlagwort heißt.« (Wels, 243)

Forschung auf den Gebieten der Chemie und Pharmazie blieb außerhalb der Universitäten. Erst 1609 wurde in Marburg der erste Lehrstuhl für Chemie eingerichtet (Wels, 238). Eine besondere Bedeutung kommt den Ärzten zu. Sie hatten an den Universitäten gelernt und in ihrer Praxis erfahren, wie wenig ihnen das dort erworbene Wissen helfen konnte. Psychiatrische Krankheiten, Verhaltensauffälligkeiten, Epilepsie usw. sind für sie keine Besessenheit, gegen die nur Exorzismus oder Teufelsaustreibungen helfen, sondern Symptome von noch unbekannten Krankheiten, die ebenso mitfühlend und geduldig zu heilen sind wie körperliche Krankheiten. Zugleich sahen sie sich sowohl der Kritik durch die Kirche ausgesetzt, Krankheiten seien von Gott gewolltes Schicksal und der Mensch könne nur mit Frömmigkeit darauf reagieren, wie auch der medizinischen Wissenschaft, die als Krankheitsfälle nur am Körper empirisch nachweisbare Schäden akzeptiert, seelische Krankheiten dagegen als psychische Einbildung oder als okkult ansieht. Für sie sind nicht die seelischen oder psychiatrischen Krankheiten zu heilen, sondern die Menschen aufzuklären, damit sie nicht auf den Irrglauben hereinfallen, es könne so etwas wie Hellseherei, Stimmenhören, Synchronizität oder andere okkulte Fähigkeiten geben.

Die Kontroverse zeigt sich bis in die aktuellen Darstellungen der Magie. Manche sehen sie als abergläubische Traditionen, die mühsam von der Wissenschaft verdrängt werden mussten. Andere sehen sie als Schwindler, die mit Versprechen und einzelnen Heilserfolgen die Not ihrer Patienten ausnutzen. Das gibt es ohne Frage bis in die Gegenwart, doch zeigt es ein mangelndes Differenzierungsvermögen, diese Betrügereien mit den hermetischen Wissenschaften im Ganzen gleichzusetzen. Aus dieser Sicht würden jeder Prophet und jede Kassandra als Vertreter eines Aberglaubens abgelehnt. Daher gibt es inzwischen eine Strömung, die Wissenschaftsgeschichte zu einer Wissensgeschichte zu erweitern (siehe den Beitrag von Wels).

Vor diesem Hintergrund ist das Wirken von Robert Fludd (1574-1637) und Michael Maier (1568-1622) zu sehen, die beide von der Medizin kamen und sich der Alchemie zuwandten. Beide waren miteinander befreundet, nachdem sie sich möglicherweise um 1610 in Prag am Hof von Kaiser Rudolf II kennen gelernt hatten, der für sein Interesse an den Wissenschaften jeder Art bekannt war. Dort sind sie sicher auch Kepler begegnet. Das sind die drei Autoren, an denen das Verhältnis von Magie und Wissenschaft dargestellt werden soll. Kaum jemand hat ihre Werke so intensiv studiert wie Isaac Newton (Golinski, 192).

Angeregt von seinen Gesprächen mit Michael Maier hat Robert Fludd 1617 sein zweibändiges Werk Utriusque Cosmi Historia (mit dem vollständigen Titel Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris Metaphysica, physica atque technica Historia, übersetzt: Die metaphysische, physikalische und technische Geschichte sowohl des Mikrokosmos als auch des Makrokosmos) veröffentlicht. Es enthält im ersten Band als drittes Buch (Liber Tertius) eine Musica mundana (Weltmusik). Dort entwirft er ein Modell, wie in der Tradition von Pythagoras über die Musik die Harmonie allen Wissens zu verstehen ist:

Musica Mundana

Fludd Utriusque Cosmi Historia, 90, 1617

Text in der Überschrift: »Hic autem monochordum mundanum cum suis proportionibus, consonantiis & intervallis exatiis composuimus, cujus motorem extra mundum esse hoc modo depinximus.«
übersetzt: »Hier aber haben wir ein weltliches Monochord mit seinen Proportionen, Konsonanzen und genauen Intervallen komponiert, dessen Beweger (Motor) wir so außerhalb der Welt dargestellt haben.«

Fludd versteht den uns umgebenden Makrokosmos einschließlich der himmlischen Sphären (Empyreum, wörtlich ‘dem im Feuer Befindlichen’, nach Aristoteles mit Äther gefüllt, in christlicher Anschauung das Reich Gottes und der Seeligen) als den Resonanzkörper eines Instruments, das an ein Violoncello mit einer einzigen Saite erinnert. Dessen Musik bringt unser Inneres (den Mikrokosmos) zum Schwingen, und umgekehrt beeinflussen unsere Stimmungen, Gefühle, Phantasien und ihre Erfolge oder Misserfolge in einer Resonanzwirkung den Klang des kosmischen Monochords. Das erinnert an Pythagoras, der als erster an einem Monochord die Intervalle und deren mathematischen Beziehungen untersucht hatte. Das Griffbrett reicht von der Erde bis in den Himmel. Die eine einzige Saite wird aus dem Jenseits heraus von einer göttlichen Hand gestimmt. An der rechten Seite des Griffbretts ist mit den Notenwerten A - B - C - D - E - F - G - a - b - c - d - e - f - g eine Doppeloktave zu erkennen. Die 7 Abschnitte der unteren (der ersten) Oktave entsprechen den 4 auf der Erde gegebenen Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, sowie dem Mond und den beiden Planeten Merkur und Venus, die sich wie der Mond schneller als die Sonne entlang des Himmels bewegen. Die Sonne ist wie ein Äquator die Gleichgewichtslinie, das Maß der Zeit, an die sich die drei Planeten Mars, Jupiter und Saturn mit Umlaufzeiten von weit über einem Jahr sowie die drei Himmelssphären anschließen, die in das Unendliche übergehen. Zwischen den Abschnitten bestehen die auf Pythagoras zurückgehenden Intervalle einer Prim 1 : 1, Quarte 3 : 4, Quinte 2 : 3 und Oktave 1 : 2. Dies sind die elementaren Verhältnisse der Zahlen 1, 2, 3 und 4, aus denen die Tetraktys (Vierheit, mit der Eigenschaft 10 = 1 + 2 + 3 + 4) besteht, die für die Pythagoreer die Wurzel und Quelle aller Dinge ist. Schopenhauer sprach von der vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund. Höhere Intervalle wie die große Terz 4 : 5 und die kleine Terz 5 : 6 wurden ausgeschlossen. Daher kannten die Pythagoreer noch keinen Dreiklang aus Tonika, Dominante und Subdominante, der aus zwei übereinander geschichteten Terzen besteht und erst seit der Neuzeit die westliche Musik dominiert. Für die Pythagoreer verweisen die 5 und die mit ihr verbundenen Geometrien wie das Pentagramm, das aus 12 Fünfecken zusammengesetzte Dodekaeder und die unregelmäßigen aus Fünfecken konstruierten Parkette (Penrose-Parkettierung) auf den für den Menschen über-sinnlichen Bereich.

Zur gleichen Zeit hat Kepler an seiner eigenen Weltharmonik gearbeitet, die nach vielen Umarbeitungen zur Entdeckung der Keplerschen Gesetze führte. Seine Kritik an Fludd ist klar und einfach: Fludd hat Freude an »unverständlichen Rätselbildern« und »reine(n) Symbolismen«, während Kepler »die in Dunkel gehüllten Tatsachen der Natur ins helle Licht der Erkenntnis zu rücken« versucht und die Symbolismen für Kepler wie für Ptolemäus »eher poetisch und oratorisch als philosophisch und mathematisch sind« (Kepler 1618, 361f).

Dennoch berufen sich sowohl Kepler, Galilei und später Newton wie auch Fludd und andere Magier wie John Dee auf Pythagoras und dessen Weltharmonie. Galilei hat die schiefe Ebene für seine Experimente fallender bzw. abwärts rollender Kugeln nach dem Vorbild eines Griffbretts konstruiert:

»Wahrscheinlich war Galileis erste schiefe Ebene mit etwas ausgestattet, das an eine Huldigung an den Vater [den Musikwissenschaftler Vincenzo Galilei, 1520-1591, t.] erinnerte, nämlich mit einer Kopie des Griffbretts von Saiteninstrumenten: dünne, bewegliche Bänder oder Fäden, die quer gespannt waren. Indem er den Abstand zwischen den Bändern variierte und das Klicken registrierte, wenn die Kugel darüber rollte, konnte er sich einen Eindruck von der Beziehung zwischen der Zeit und der von der Kugel zurückgelegten Strecke verschaffen.« (Næss, 39)

Atalante und Hippomenes

Guido Reni (1575-1642) war zu seiner Zeit der in Europa wohl berühmteste und erfolgreichste Maler (erst seit 1950 gilt Caravaggio [1571-1610] als der große Erneuerer dieser Epoche). Künstlerisch zählt er zum Frühbarock und lebte fast ausschließlich in Bologna und Rom, wo er seine Werke zu exorbitanten Preisen verkaufen konnte. Er war nie in Prag und hatte keinen direkten Kontakt zum Umfeld von Kaiser Rudolf II und die um ihn versammelten Wissenschaftler und Künstler. Als Mensch und Künstler stand er zwischen den Zeiten: Auf der einen Seite nahm er mit seiner konsequent kommerziell ausgerichteten Kunstauffassung den modernen Kunstbetrieb vorweg: Er gründete eine Einrichtung, in der bis zu 80 Maler und weitere Hilfskräfte beschäftigt waren, und beschränkte seinen eigenen Beitrag auf die vorbereitenden Bildentwürfe und eine abschließende Überarbeitung, vergleichbar der Silver Factory von Andy Wahrhol in den Jahren 1964-68. Das sicherte ihm maximale Produktivität und entsprechende Gewinne. Auf der anderen Seite lebte er nicht mit Frauen zusammen aus Angst, sie könnten ihn verhexen. Er war der Spielsucht verfallen und verlor darüber fast sein gesamtes Vermögen.

Auf dem Höhepunkt seines Schaffens entstand um 1615-1618 in Rom seine großformatige Arbeit Atalanta und Hippomenes.

Reni - Atalante und Hippomenes

Guido Reni: Atalanta und Hippomenes, um 1615-1618
Quelle: Foto bei der Ausstellung Guido Reni - der Göttliche im Städel Museum Frankfurt am Main, 7.2.2023; siehe auch die Reproduktion des Gemäldes auf der Website des Prado Madrid: mueseodelprado

Erst der Besuch bei der Ausstellung im Städel Museum Frankfurt am Main zeigte mir die originale Farbe, die deutlich von manchen Reproduktionen abweicht, wobei ein wenig unsicher bleibt, welchen Einfluss die Beleuchtung und Helligkeit im Ausstellungsraum hat. Auch wenn nach neueren Erkenntnissen die mit Smalteblau gemalten Farben vermutlich nachgedunkelt sind (Aurenhammer, 98), ist doch recht eindeutig, dass die Szene im Licht eines Vollmondes gestaltet ist, der von vorne links scheint und besonders Atalante trifft, während sich Hippomenes ein wenig abwendet. Am Horizont ist der Nachschein der untergegangenen Sonne zu sehen. Das kann als ein lunarer Zwang gedeutet werden, dem vor allem Atalante unterworfen ist.

Wird in Atalante die untergehende Magie und in Hippomenes die heraufkommende Wissenschaft gesehen, dann zeigt das Gemälde einen Moment größter Skepsis. Auf der einen Seite war die neu entstehende Wissenschaft skeptisch gegen jede Art vor-wissenschaftlicher Magie und Vorstellungen und löste sie Schritt für Schritt auf. Auf der anderen Seite konnten die Vertreter der Magie ihre Zukunft nur noch skeptisch sehen. Sie sahen mit dem Untergang der Magie oder vielleicht besser: der Trennung von Magie und Wissenschaft nicht weniger als die Zeit selbst und mit ihr die Sphärenharmonie entgleiten.

Der Mythos von Atalante und Hippomenes wurde in der Kunstgeschichte nur selten aufgenommen (siehe die Zusammenstellung bei Rodriguez López). Da ist um so überraschender, dass ebenfalls fast um die gleiche Zeit der Arzt und Alchemist Michael Maier (1568-1622) 1617 seine Darstellung des alchemistischen Opus Magnum unter dem Titel Atalanta fugiens veröffentlicht hat. Atalante steht für die Magie und damit das Weibliche, den Mond und das Silber, Hippomenes für die Wissenschaft, das Männliche, die Sonne und das Gold.

Atalante ist die »arkadische Artemis in Gestalt einer Bergnymphe«. Ihr Vater hatte sie an einer Quelle in den Bergen ausgesetzt, weil er nur männliche Nachkommen wünschte. Eine Bärin ernährte sie. Sie mied die Männer und verlangte von ihren Brautwerbern, sich mit ihr im Wettlauf zu messen, bei dem sie aussichtslos waren. Sie erschoss zwei betrunkene Kentauren, die sich ihr zu nähern wagten. Vermutlich wollte sie am Zug der Argonauten teilnehmen, wurde aber von Jason abgewiesen, der Konflikte mit den Männern befürchtete. Ovid berichtet, dass ihr von einem Orakel die Ehe verboten worden war, bis es zum Zusammentreffen mit Hippomenes kam, ein Nachkomme des Meergottes Poseidon (Neptun) (Roscher, 664-668).

Mit dieser Haltung geriet Atalante in Konflikt mit Venus (Aphrodite), der nicht passen konnte, wenn sich Atalante über die Macht der Liebe stellen wollte. Venus hat Hippomenes aus dem Hesperidengarten die drei magischen Goldenen Äpfel (pomum morans) gegeben, um mit ihnen Atalante zu überlisten. Immer wenn Atalante ihn zu überholen drohte, ließ er einen der Äpfel fallen. Angezogen von Gold und Schmuck unterbrach Atalante ihren Lauf. Das Gemälde zeigt, wie sie den ersten Apfel in der Hand hat, den zweiten aufhebt, und Hippomenes den dritten verborgen hinter seinem Rücken hält.

Die drei Äpfel gelten als Musica coelestis vel divina (göttliche Musik), Musica mundana (Sphärenmusik) und Musica humana (Volksmusik). Auf diese Zusammenhänge hat 1973 die der Jung-Schule angehörende Musiktherapeutin Hildemarie Streich (1921-2012) bei einem Vortrag über Michael Maiers Atalanta fugiens im Rahmen einer Eranos-Tagung am Monte Verita in Ascona aufmerksam gemacht. Dieses ungewöhnliche Buch enthält in 50 Kapiteln wie ein Gesamtkunstwerk jeweils eine von Maier komponierte Fuge, einen von Matthias Merian d.Ä. (1593-1650) gezeichneten Kupferstich und einen Prosa-Text von Maier. Für Maier war die Atalanta fugiens nicht einfach die fliehende Atalante: Er sieht in der enteilenden Atalante die führende Stimme, in Hippomenes die Gegenstimme, die einander wie in einer Fuge teils folgen und teils umkreisen, wobei alles musikalisch zusammengehalten wird von den verweilenden Äpfeln (die wörtliche Übersetzung von pomum morans) der Bass-Linie. »Im Notentext heißen die Stimmen entsprechend Atalanta fugiens, Hippomenes sequens und Pomum morans.« (Hoffmann-Axthelm, 366)

Mir erscheint das Gemälde seltsam dekadent, vor einem Hintergrund in ungewöhnlichen Farben, fast wie auf manchen Gemälden von Max Ernst in einer nahezu apokalyptischen Stimmung. Die Bewegung ist mitten im Lauf unterbrochen, und die zwei Bänder scheinen sich in ihrer Drehbewegung in einer einheitlichen Figur zu vereinen und von sich aus die Körper zu verhüllen wie ein alles mit sich reißender doppelter Strudel. Anders als heute stand damals die Farbe Rot noch nicht für das Weibliche (oft gemildert in Rosa), sondern für das Feuer, das Blut, die Kraft und die drohende Gefahr, dagegen die Farbe Weiß für den sanften, reinen Ursprung aller Dinge, von Atalante geschickt gewählt, um ihrerseits die Schönheit ihres Körpers präsentieren und Hippomenes ablenken zu können (»Atalanta trägt nur einen zarten, transparenten Schleier, der um ihren Körper fliegt«, Christa Blenk). Die Farben gehen ineinander über: die bedrohlichen Dunkeltönungen der Wolken im Hintergrund färben das weiße Band der Atalante in Schwarz, während das von vorn über Atalante hinweggehende Vollmondlicht einen weißen Lichtschein auf das rote Band legt. Die Achse dieser Lichtbewegung verläuft senkrecht zur Bewegungsrichtung von Atalante und Hippomenes und erzeugt eine ungeheure Spannung. Die Bedeutung der beiden Menschengruppen am linken und am rechten Rand bleibt unklar. Sie sprechen oder arbeiten jeweils miteinander ohne Blick auf den Wettlauf. Ist das ein Bild für die neu anbrechende Zeit der Arbeit und der Wissenschaft, die das magische Geschehen um sie herum nicht wahrzunehmen vermögen?

Obwohl Hippomenes gewinnen und Atalante in Liebe zu ihm entflammen wird, zeigt die Dramatik des Gemäldes, dass dies nicht der Beginn eines gewöhnlichen Ehe- und Familienlebens werden wird. Atalante ist vom Geschehen völlig überrumpelt, und Hippomenes blickt skeptisch und fast abwehrend zurück, als wolle er Atalante vor der von ihm selbst gestellten List warnen. Beide sind von diesem Wettkampf derart mitgenommen, dass sie im Weiteren jedes Maß verlieren.

Statt sich über die Gabe der drei Äpfel zu freuen, vergessen sie die Göttinnen und was sie ihnen schuldig sind. Hippomenes unterließ es, Aphrodite mit einem Opfer zu danken. Die rächte sich. Als beide an einem Tempel der Kybele vorbeigingen, »entfacht [Aphrodite] in des Hippomenes Brust unzeitige Lust nach Umarmung« (Ovid, Vers 10.690). Aber auch Atalante lässt es gewähren und vergisst, dass sie im Wald unter den dort lebenden Tiere groß geworden war und ihnen ihre Kraft und Anmut verdankte. Sie hatte unter dem Schutz der Natur und der Erdgöttin Kybele gestanden, die jetzt nicht weniger enttäuscht war als Aphrodite und beide in rote Löwen verwandelte, die sich nicht paaren können. Erst mit dieser Überschreitung hat Atalante ihre Reinheit verloren. Es war nicht einfach nur einseitig der Triumph der Wissenschaft, der die Magie zurück ließ, sondern es hat auch auf Seiten der Magie eine Entwicklung gegeben, die die Magie von ihrem Weg abbrachte. Davon sprechen auf dem Gemälde die nahezu erstarrten Gesichtszüge und die verkrampft wirkende Körperhaltung.

Diesen kritischen Punkt wird wiederum Michael Maier in seiner Atalanta fugiens aufnehmen. Maier wusste, dass der rote Löwe für die höchste Stufe des alchemistischen Opus steht, die Rubedo. Wenn sie in der Gestalt roter Löwen vereinsamen, ist das ein Zeichen für den Verlust der alchemistischen und magischen Fähigkeiten des Menschen und doch zugleich das höchste Werk, eine Gestalt des Goldmachens. Clay Holden legt in seiner freien, englischen Übersetzung des dem Buch wie ein Motto vorangestellten Epigramms nahe, dass Michael Maier allem eine positive Deutung gibt: Verwandelt in rote Löwen leben Atalante und Hippomenes in ewiger Weisheit.

»Still more Amazed to see themselves look red, / Whilst both to Lions changed Each Other dread. / He that can Cybell's Mystic change Explain, / And those two Lions with true Redness stain, / Commands that treasure plenteous Nature gives / And free from Pain in Wisdom's Splendor lives.«
Meine Übersetzung aus dem Englischen: »Noch mehr erstaunt, sich rot zu sehen, / als sich beide verwandelt in Löwen voreinander fürchten. / Wer Kybeles Mystischen Wandel erklären kann, / Und diese beiden Löwen mit wahrer Röte färbt, / Besitzt den Schatz, den die Natur reichlich gibt, / Und lebt frei von Schmerz in der Weisheit Glanz.«

Atalante und Hippomenes als Löwen

Johannes Posthius: Atalante und Hippomenes in Löwen verwandelt, gedruckt 1602-1607 in Köln
Text: Concubitu veteras temerat Sacraria templi / Hippomenes nuptce ductus amorae nouae // Haec lea fit rapidi for marti induit ille leonis / hic nunc pro thalamo roa nemusa colunt
übersetzt: Die antiken Heiligtümer wurden durch Geschlechtsverkehr geschändet / Hippomenes war in neuer Liebe verheiratet // Dieser Löwe wird schnell, denn er trägt den Mars im Löwen / Hier verehren sie jetzt die rote Nemusa [die rote Muse, die rote Nemesis?]
Quelle: alamy.de

Die Verwandlung von Atalante und Hippomenes in zwei rote Löwen kann ähnlich gedeutet werden wie die Entzifferung der von Rembrandt gezeichneten Erscheinung: So wie dort die einander entgegengesetzten Namen AGLA und SATAN in ALGASTNA ihre höhere Einheit finden, werden in den beiden roten Löwen Magie und Wissenschaft, das Weibliche und das Männliche, Silber und Gold verschmolzen. Wird die Erdgöttin Kybele mit dem Erdgeist in Verbindung gebracht, so kehrt das astrologische Motiv wieder, das im Moment der Geburt (eines Ereignisses) verborgene Gold zu ent-bergen. Offenbar haben das Atalante und Hippomenes vernachlässigt, als sie sich nicht für das Gold der drei Äpfel bedankten. Als rote Löwen erhielten sie eine zweite Chance.

– Die sinnliche und die übersinnliche Welt

Das Verhältnis von Magie und Wissenschaft kann als das Verhältnis der sinnlichen und der übersinnlichen Welt verstanden werden. Der deutsche Ausdruck übersinnlich geht auf Jacob Böhme (1575-1624) zurück (mit Vorläufern bei Tertullian, Lullus und anderen; Historisches Wörterbuch der Philosophie) und wurde von Kant in die Philosophie eingeführt. Er bedeutet ursprünglich: "was sinnlich nicht erfaßbar ist, geistig, transzendent, metaphysisch. in der spr. der mhd. mystiker hierfür unsinneclich. vom 17. jahrh. ab belegt: wie mag ich kommen zu dem übersinnlichen leben, dasz ich gott ... sehe und höre?" (Grimms Wörterbuch). Während Kant die sinnliche Welt und die übersinnliche Welt einander gegenüberstellt, unterscheidet Hegel nochmals die erste und die zweite übersinnliche Welt.

Sowohl Rembrandt wie Reni zeigen Dreiergruppen, die als das Verhältnis der sinnlichen Welt und einer ersten und zweiten übersinnlichen Welt verstanden werden können. Von hier ergibt sich der Übergang zur Astronomie von Johannes Kepler.

  3 Äpfel bei Reni   3 Ringe bei Rembrandt Kepler
sinnliche Welt 1. Apfel
hörbar
irdische Musik
innerer Ring
INRI
vier Elemente
Beobachtungsdaten
von Tycho Brahe
erste übersinnliche Welt 2. Apfel
Verstand
Sphärenmusik
mittlerer Ring
DAGERMA ADAM TE
"Wissenschaft und
Meister der Gebundenheit"
Alchemie
Spekulation
Keplers Gesetze
zweite übersinnliche Welt   3. Apfel
unhörbar
göttliche Musik
äußerer Ring
ALGASTNA AMRTET ALGAR
Harmonie von Gott und Satan
Weltharmonie

Das Gold der Mathematik – 6 Thesen zu Johannes Kepler

Es bleibt die Frage nach der Mathematik. Johannes Kepler (1571-1630) ist sicher eine Schlüsselfigur. Er war 1600 bis 1612 der Kaiserliche Hofmathematiker in Prag bei Kaiser Rudolf II (1552-1612). Das war kein großartiges Privileg. Im Gegenteil: Er musste bis zu seinem Tod meist erfolglos um seine Gehaltszahlung kämpfen und war gezwungen, nebenbei mit dem Aufstellen von Horoskopen Geld zu verdienen. Aber er hatte in Prag enge Kontakte zu anderen Wissenschaftlern, nicht zuletzt zu dem Astronomen Tycho Brahe (1546-1601), dem Mathematiker, Astronomen und Uhrmacher Jost Bürgi (1552-1632) und den hochgebildeten Hofrat und Juristen Johann Matthäus Wacker von Wackenfels (1550-1619), mit dem ihn eine enge Freundschaft verband. Er hat sicherlich die von Rudolf II geförderten Künste kennen gelernt und wird wohl auch Michel Maier begegnet sein, der 1608-11 Leibarzt von Rudolf II war. Es gibt zahlreiche Literatur zu Kepler. Ich empfehle die beiden Romane Nachts unter der steinernen Brücke von Leo Perutz und Tycho Brahes Weg zu Gott von Max Brod, der seinem Freund Franz Kafka gewidmet ist. – Blumig gesprochen: Kepler ist es gelungen, das in der Mathematik verborgene Gold zu entdecken. Das soll nicht die Mathematik über alle andere Wissenschaften oder Denkarten des Menschen stellen, sondern beispielhaft an der Mathematik zeigen, wie an einer Wissenschaft oder einer Denkart das dort verborgene Gold zutage gefördert werden kann.

1 Mathematische Formen sind abhängig vom virtuellen Beobachterstandort, den die Mathematik frei wählen kann.

Die Bedeutung des Beobachterstandorts war schon immer bekannt, wenn beispielsweise weiter entfernte Gegenstände oder an einem Gebäude weiter oben angebrachte Skulpturen perspektivisch verzerrt sind. Aber mit der Frage nach der Verlaufsform der Planetenbewegungen hat sie ein völlig neues Gewicht bekommen: Es geht nicht mehr um optische Täuschungen, sondern um unterschiedliche mathematische Modelle. Früher wurde mit mathematischen Methoden eins zu eins ein geometrisches Abbild gezeichnet, was zuvor mit den Augen zu sehen war. Doch bei den Planetenbahnen zeigte sich, wie viel einfacher sie berechnet, dargestellt und verstanden werden können, wenn von einer Bewegung der Planeten um die Sonne statt relativ zur Erde ausgegangen wird, obwohl das dem bloßen Augenschein widerspricht. Niemand sieht die Planeten so, wie sie sich im heliozentrischen Weltmodell bewegen, aber jeder versteht den Vorteil dieser Darstellung. Dennoch müssen beide in der Sache übereinstimmen: Die Planeten ändern ihre Bewegung nicht, wenn der Mensch sie für sein eigenes Verständnis mathematisch einfacher darstellt.

Seither ist sich die Wissenschaft ihrer Freiheit bewusst. In der Mathematik wird unterschieden zwischen den natürlichen Gegebenheiten bis hin zu den natürlichen Zahlen, die sich unmittelbar aus der sinnlichen Anschauung ergeben, und den von der Mathematik eingeführten Methoden, Kalkülen und Modellen, die es nur im Denken gibt.

Das beste Beispiel ist die Bewegungsbahn des Mars, die Kepler über viele Jahre studiert und an ihr seine neuen Gesetze gefunden hat.

mars oppositionen

Marsbahn von der Erde aus gesehen (Mars-Oppositionen)
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Wenn von einem festen Punkt auf der Erde Tag für Tag aufgezeichnet wird, wo der Mars zu sehen ist, ergibt sich eine sehr harmonische, zyklische Bewegung, in dieser Abbildung für die Jahre 2003 bis 2018. Zugleich ist zu erkennen, wie sich die Größen der kleinen Schleifen im Innern verändern. Nach allem, was bekannt ist, war es eine zufällige Entdeckung dank einer Intuition, als Kepler hierin die verborgene Gestalt einer Ellipse gesehen und diese Vermutung nachgerechnet hat. Das ist in dieser Zeichnung sehr gut angedeutet, indem im inneren Kreis die Lage der Erde ein wenig vom Zentrum verschoben und in die Nähe der kleineren Schleifen gerückt ist. Möglicherweise hat Tycho Brahe den Anstoß gegeben, als er bereits 1577 vermutete, dass sich ein von ihm beobachteter Komet auf einer elliptischen Bahn bewegt (Næss, 117). Aber das entsprach noch der sichtbaren Bewegung des Kometen (stand jedoch in Widerspruch zur aristotelischen Lehre, nach der Kometen innerhalb der Mondbahn verbleiben müssen). Erst Kepler übertrug es auf die Planetenbewegung und stellte sich damit in Widerspruch zu Brahe. Für Kepler war das der Beweis, dass die Bewegungsbahn nicht so zu beschreiben ist, wie sie sich unseren Augen natürlicherweise darbietet, sondern nach einem Modell, das unseren Sinnen verborgen ist. Von welchem Standort aus ist die Bewegung der Planeten um die Sonne zu sehen? Das ist kein natürlicher Standort, den ein Mensch irgendwo auf der Erde einnehmen könnte. Er müsste sich mit einer Rakete weit genug von der Erde entfernen, um das Planetensystem von außen sehen zu können. Vielmehr nimmt er in seinem Denken einen virtuellen Standort ein und führt ein Gedankenexperiment durch.

Mit dieser Weichenstellung ergab sich eine eigentümliche Vertauschung von Magie und Wissenschaft: Wenn die Wissenschaft in ihren Modellen Zusammenhänge konstruiert, die nicht sinnlich empfunden, sondern nur im Denken entworfen werden können, handelt es sich bei ihnen aus traditioneller Sicht um Magie und Okkultismus. Niemand kann mit eigenen Augen die Ellipse der Marsbahn sehen. Als Newton an diesen Beispielen die Gravitationskraft einführte, war ihm dies nur anhand des von Kepler eingeführten Modells möglich. Niemand kann die Existenz der Gravitationskraft mit seinen Sinnen überprüfen, sondern nur sehen, wie sie sich äußert, wenn alle Dinge zum nächstgelegenen Gravitationszentrum fallen. Um einen Rückfall in die Magie zu vermeiden, nimmt die Wissenschaft daher an, dass diese Kräfte ausschließlich von ihr selbst konstruiert und auf die Natur projiziert sind. Das hat ein völlig neues Verständnis der Natur zu Folge: Es wird angenommen, dass es nicht nur keine Magie oder sonstigen mystischen Kräfte und Beziehungen gibt, sondern dass die Natur grundsätzlich über keinerlei eigene Kräfte oder gar Handlungsvermögen verfügt, wie es für das mythische und religiöse Denken selbstverständlich war. Die Natur ist für die Wissenschaft nichts als ein passives Tatsachenmaterial, in das durch die Wissenschaft von außen Ordnung gebracht werden muss.

Diese einseitige Sicht hat sich jedoch erst seit dem 18. Jahrhundert mit der Aufklärung durchgesetzt. Die Wissenschaftler der ersten Stunde waren völlig anderer Meinung. Später haben sich nur noch Goethe und Hegel in ihrem bedingungslosen Eintreten für Kepler zu den ursprünglichen Anfängen der Wissenschaft bekannt und gegen den Trend ihrer Zeit gestellt.

Für Kepler war es undenkbar, dass die die Natur bewegenden Kräfte und Harmonien ausschließlich im Denken des Menschen bestehen sollen. Er suchte nach einer Anima motrix (Seele des Bewegers), die in der Natur gegeben und für die Bewegung verantwortlich ist (Kepler 1596, 70f). Später sprach er 1621 in einer Anmerkung der 2. Auflage von der vis motrix, worin Max Caspar 1938 als Herausgeber dieser Schrift eine Abwendung »von der animistischen Erklärung der Planetenbewegungen zu der mechanistischen« sieht (Kepler 1596, 416).

Und obwohl er einer der ersten Vertreter des kopernikanischen Weltbildes war, war dies für ihn kein Dogma. Für ihn hatten in ihrem jeweiligen Kontext sowohl der Geozentrismus wie der Heliozentrismus ihre Berechtigung. Mit der Astrologie und deren Geozentrismus hielt Kepler daran fest, dass der Stand der Sterne einen Einfluss auf die Menschen hat. Allerdings war er zugleich überzeugt, dass dieser Einfluss nicht deterministisch wirkt und sich sogar der Tod des Menschen vorausberechnen lasse, sondern das Wirken der Sterne muss auf eine seelische Kraft des Menschen treffen und von ihr aufgenommen werden. Erst aus dem Wechselspiel beider erklärt sich das Lebensschicksal eines Menschen. Er beschreibt es in der Sprache eines Kriegsgeschehens: »Es wäre auch für die Sonne, der doch geeignete Soldaten fehlen, nicht leicht, in die Burg des Erdinnern einzudringen, wenn nicht irgendeine Seele mithilft, die ihren Sitz im Innern hat, mit dem Feind ein geheimes Einverständnis unterhält und ihm die Tore öffnet.« (Kepler 1618, 256) Sonne und Erde stehen nicht gegeneinander, von denen entweder die eine oder die andere für sich das ausschließliche Zentrum beansprucht, sondern verbinden sich. Das entspricht dem alchemistischen Gedanken einer Chymischen Hochzeit, wie es 1616 der Theologe und Mathematiker Johann Valentin Andreae (1586-1654) vertreten hatte und es der vermutlich von ihm und seinen Bekannten erfundenen, legendären Figur Christian Rosencreutz zuschrieb. Darüber wurde in Prag viel gesprochen und war sicher auch Kepler bekannt. Aber bis heute werden alle Ideen Keplers abgelehnt, die in diese Richtung gehen. In einer aktuellen und vielfach ausgezeichneten Darstellung heißt es: »Die Weltharmonik bleibt ein singuläres Werk. Weder Musik- noch Naturwissenschaftler werden an Keplers harmonische Spekulationen anknüpfen.« (Padova, 230)

Ähnlich sind die programmatischen Worte von Galileo Galilei (1564-1645) über das Buch der Natur zu lesen. Er brachte es in seiner 1623 gegen den römischen Jesuiten Orazio Grassi (1583-1654) veröffentlichten Streitschrift Il Saggiatore (Der Prüfmeister mit der Goldwaage) auf den Punkt:

»Möglicherweise denkt er, dass die Philosophie ein Buch ist, das von irgendeinem Schriftsteller erfunden wurde, wie die Ilias oder Orlando Furioso [Der rasende Roland, ein Versepos von Ariosto, erschienen 1514, t.], Büchern, bei denen es am wenigsten darum geht, ob das, was dort geschrieben steht, wahr ist. Nun, Sarsi [Pseudonym von Grassi, t.], so ist es nicht. Die Philosophie ist in jenem großartigen Buch geschrieben, das immer offen vor unseren Augen liegt (ich meine das Universum); aber wir können es nicht verstehen, wenn wir nicht zuerst die Sprache und die Zeichen lernen, in denen es geschrieben ist. Diese Sprache ist Mathematik, und die Zeichen sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum.« (Galilei 1623, 16, meine Übersetzung, siehe auch die Übersetzung und weitere Hinweise im Eintrag Das Buch der Natur in Wikipedia)

Wer diesen Text genau liest, wird sehen, dass für Galilei nicht erst der Mensch die Natur in die Sprache der von ihm entwickelten Mathematik bringt, sondern umgekehrt ist die Natur von sich aus in der Sprache der Mathematik geschrieben, und der Mensch muss diese Sprache wie eine bereits gegebene Fremdsprache lernen, um die Natur verstehen zu können.

2 Die Ellipse ist die Grundfigur einer dialektischen Wissenschaft. An ihr zeigt sich die Triade zweier Kräfte und des Prozesses ihres Wechselspiels.

Was ist das Besondere an der Ellipse? Kepler musste nicht nur gegen das Dogma verstoßen, dass der Kreis die unanfechtbare, göttliche Figur ist. Mit der Ellipse wurde das Paradigma einer neuen Zeit gefunden, die sich sowohl in der neuen Kunstauffassung des Barock wie der Wissenschaft zeigt (siehe z.B. die im Barock entstehenden Ovalkirchen). Was ist das Neue: Entlang der Ellipse ist  innerhalb  einer  kontinuierlichen Bewegung eine  Umkehrung  möglich, wenn sich der Abstand der Ellipse vom Brennpunkt zunächst fortlaufend vergrößert bis er umkehrt und sich dem Brennpunkt wieder annähert. Vom sonnennächsten Punkt aus verlangsamt sich die Bewegung fortlaufend, bis sie am sonnenfernsten Punkt ihre Bewegung ändert und fortlaufend beschleunigt wird.

Zweites Keplersches Gesetz

Zweites Keplersches Gesetz
Je weiter entfernt ein Planet von der Sonne ist, desto langsamer bewegt er sich. Daraus ergibt sich der Erhaltungssatz (das 2. Keplersche Gesetz): Alle Fläche, die in gleich viel Zeit überstrichen werden, sind gleich.
Quelle: auf Basis von Wikipedia, abgerufen am 31.1.2023

Es geht nicht nur um die Umkehrung, sondern an der Umkehrung zeigt sich das Zusammenwirken zweier Kräfte, die abwechselnd dominieren und zurücktreten, mal aktiv und mal passiv sind. Die Umkehrung innerhalb der Ellipse zeigt das Bild eines harmonischen Systems, an dem sich zwar einander gegenüberstehende Momente gedanklich unterscheiden lassen, die aber dennoch stets in einer Einheit bleiben. Das Bild der Ellipse wird zum Paradigma einer neuartigen Dialektik, die in voller Klarheit erst 200 Jahre später Hegel mit ausdrücklichem Bezug auf Kepler ausarbeiten konnte: Die Ellipse zeigt sowohl zwei Kräfte, die miteinander im Wechselspiel stehen, wie auch in ihrem Verlauf den Prozess (die Prozessualität) dieses Wechselspiels. Auf diese Weise ist es erstmals gelungen, ursprüngliche Ideen wie das Wechselspiel von Yin und Yang und ihrer Verlaufsform (Chi) nicht nur in eine mathematische Gestalt zu bringen, sondern die Idee einer neuartigen Mathematik zu entwerfen, die auf einem solchen Wechselspiel zweier Kräfte und ihres Prozesses aufgebaut werden kann.

Wer mag, kann hierin Motive aus dem Wettlauf von Atalante und Hippomenes wiedererkennen, wobei die ungewöhnliche Vertauschung der Geschlechterrollen zu beachten ist und eine zusätzliche Umkehrung ergibt. Das Männliche stürmt voran, bis es vom Weiblichen aufgehalten wird, um in der Nähe zu bleiben (dargestellt in der Rückwärtsbewegung, die sich in der Körperhaltung von Hippomenes zeigt), und umgekehrt periodisch von Neuem in neue Horizonte aufbricht. Die Musik hat mit den beiden im Wechselgesang stehenden Stimmen die stimmige Figur gefunden. Alles erfolgt nach harmonischen Gesetzen, dem walking bass der fallenden Äpfel.

Mit dem 2. Gesetz zeigt sich der Übergang von der sinnlichen zur übersinnlichen Welt noch deutlicher als im Bild einer Ellipse: Die Sonne und die Planeten sind zu sehen und sinnlich gewiss, aber die im Diagramm hervorgehobenen Flächen sind ein mathematisches Konstrukt, das niemand am Himmel sieht, nicht einmal an ähnlichen und vergleichbaren anderen Himmelserscheinungen, wie es noch bei der Ellipse mit den Kometenbahnen möglich war. Es existiert ausschließlich als eine Hilfskonstruktion in der mathematischen Anschauung und ist als solche nur in der mathematischen Zeichnung, aber nicht am Himmel zu sehen. Im Weiteren wird die Frage zu stellen sein, wie sich das Übersinnliche nicht gegenüber dem Sinnlichen verliert, sondern dazu in Beziehung bleibt. Darin zeigt sich auf einer Metaebene nochmals die Gegenläufigkeit zweier Kräfte, wenn der Mathematiker fortlaufend seine empirischen Untersuchungen und seine mathematische Theoriebildung aneinander messen und aufeinander abstimmen muss. Auf einer dritten Ebene kann dies als Gegenläufigkeit des konstruktiven und spekulativen Denkens verstanden werden, die einander wechselweise bedingen (siehe den Beitrag Spekulatives Denken zweiter Ordnung).

Mit diesem Gedanken öffneten sich der Wissenschaft alle Tore. Schon bald wurde das Pendel in ähnlicher Weise aus dem Wirken zweier gegenläufiger Kräfte erklärt und später als der periodische Ausgleich von kinetischer und potentieller Energie verstanden. Galilei entwarf einen Vorschlag für eine Pendeluhr, der jedoch erst 1656 von Christiaan Huygens (1629-1695) aufgegriffen, erweitert und umgesetzt werden konnte (Næss, 211f). Das war buchstäblich die Geburt einer neuen Zeitrechnung. Erst von Aufklärern wie Jean-Baptiste le Rond D'Alembert (1717-1783) wurde die Planetenbewegung aus dem Zusammenwirken der Anziehungskraft der Sonne und der Zentrifugalkraft des Planeten erklärt, wie es bis heute in den Physik-Lehrbüchern steht, wobei jedoch niemand diese Kräfte sehen kann: Weder die potentielle Energie noch die Zentrifugalkraft lassen sich beobachten. Wenn ein Schüler entsprechende Fragen stellt, kann das kein Physiklehrer beantworten. Erst Kant fand 1755 die schlüssige Antwort, als er in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels die Stabilität der Planetenbahnen aus der fortdauernden Drehbewegung des präsolaren Urnebels erklärte und damit einen völlig neuen Ansatz wählte.

3 An den Größen sind ihre Basisvariablen und deren Dimensionalität (Potenz, der Exponent) zu unterscheiden.

Noch ungewöhnlicher ist das 3. Keplersche Gesetze, das er erst sehr spät am 8. März und 15. Mai 1618 gefunden und mit ihm seine Weltharmonik gekrönt hat (Kepler 1618, 291). Es lautet in Worten: Bewegen sich zwei Planeten auf unterschiedlichen Ellipsen um die gleiche Sonne, so verhalten sich die Quadrate ihrer Umlaufzeiten wie die Kuben (3. Potenzen) der großen Halbachsen der Ellipsen ihrer Bewegungsbahnen. Wiederum hatte es jahrelanger Arbeit bedurft, bis er diesen Zusammenhang zu postulieren und mathematisch an den ihm vorliegenden Beobachtungsdaten nachzuweisen vermochte. Es ist daran zu erinnern, dass diese nur in handschriftlichen Tabellen vorlagen und ihm keinerlei Rechenwerkzeuge wie Taschenrechner oder Computer zur Verfügung standen. Und doch war es dieses Gesetz, an dem 70 Jahre später Newton die Grundgesetze der Mechanik erkannt hat. Für dieses Gesetz wird jedoch nicht einmal mehr versucht, wenigstens eine mathematische Zeichnung zu finden. Um dennoch eine Idee zu geben, worum es geht, entwerfe ich ein Diagramm mit Ellipsen, ihren Hauptachsen, Quadraten und Würfeln (Kuben):

Zweites Keplersches Gesetz

Drittes Keplersches Gesetz
Die Quadrate der Umlaufzeiten verhalten sich wie die Kuben der Halbachsen.

Einem Mathematiker wie Newton ist zweifellos aufgefallen, dass die Quadrate der Umlaufzeiten geometrisch wie die einzelnen Seiten der Oberfläche der Kuben der Halbachsen aussehen. Das führte Newton zu der Entdeckung, mit der er die neuzeitliche Wissenschaft begründet hat: Die Dynamik, wie Figuren unterschiedlicher Dimensionen ineinander übergehen. Diese Dynamik zeigt für ihn das verborgene Gemeinsame am 3. Keplerschen Gesetz, der Bewegungsgleichung des freien Falls von Galilei und der Grundregel des Ableitens und Integrierens der von ihm und Leibniz unabhängig voneinander entdeckten Infinitesimalrechnung. Einen solchen Zusammenhang zu entdecken entfernt sich zweifellos noch weiter von der sinnlichen Erfahrung. Während die Experimente und Beobachtungen von Galilei und Kepler von jedem nachvollzogen werden können, ist es kaum möglich, den Gedankenweg zu rekonstruieren und zu wiederholen, den Newton bei der Erarbeitung seiner Gesetze gegangen ist. Das bedarf eines großen Einfühlungsvermögens in die Denkweise eines Wissenschaftlers, eine umfassende Kenntnis der menschlichen Intelligenz (ihrer Empfindungsfähigkeit, Anschauung, Einbildungs- und Vorstellungskraft, Gedächtnis und Denkens, um die Kapitel aus Hegels umfassender Darstellung zu nennen; Hegel, Band 10, 240-288) und ist weder mit Experimenten noch mit mathematischen Rechnungen zu belegen oder gar zu beweisen. Zum Beispiel hat niemand vermutet, in welchem Umfang Newton alchemistische Experimente ausgeführt hat und keiner kann sagen, in welcher Weise das seine mathematische Arbeit beflügelt hat.

Welche Gemeinsamkeit konnte Newton an den Erkenntnissen von Galilei und Kepler entdecken? 1609 hatte Galilei nach jahrelangen Experimenten und Beobachtungen die Bewegungsformel des freien Falls s = ½ g t² gefunden, wobei s für den jeweils zurückgelegten Weg, t für die betreffende Zeit und g für die Beschleunigung steht, die später als Gravitationskonstante erkannt wurde. Mit t² tritt wie in den Keplerschen Gesetzen eine höhere Dimension auf, die sich einer unmittelbaren Anschauung entzieht. Niemand kann sich vorstellen, was mit einer Zeit im Quadrat gemeint sein soll, und bis heute spricht kein Physiker von einer Quadratzeit, obwohl mit ihr gerechnet wird. Galilei hat es sich so veranschaulicht, dass beim freien Fall zwei voneinander unabhängige Bewegungen auftreten, für die jeweils eine eigene Zeitachse anzunehmen ist, die dennoch nur als zwei Momente einer einheitlichen Zeit zu verstehen sind: Zum einen die Bewegung eines Körpers entlang einer Strecke s und zum anderen die fortlaufende Vergrößerung der Geschwindigkeit v des frei fallenden Körpers. (Wenn der freie Fall aus der Ruhe heraus beginnt, ist die Geschwindigkeit anfangs gleich Null und vergrößert sich bis zur Geschwindigkeit im Moment des Aufpralls auf dem Boden.) Das lässt sich mit bloßem Auge kaum beobachten, und Galilei hat sich viele Experimente ausgedacht, wie z.B. die verlangsamte Bewegung entlang einer schiefen Ebene. Als er sich seiner Ergebnisse sicher war, gelang es ihm an seinem Lebensende, die Bewegung frei fallender Körper rein geometrisch darzustellen (Galilei 1638, 204). Auf diese Weise hat er einen intuitiven, geometrischen Beweis seiner Gleichung gefunden, der ohne Differentialrechnung auskommt. Die mathematische Herleitung gelang erst Newton mithilfe der von ihm neu entwickelten Fluxionentheorie (Theorie fluenter, d.h. fließender Größen, im heutigen Sprachgebrauch die Differential- und Integralrechnung). Er hat gezeigt, dass sich beim freien Fall die Geschwindigkeit v und die Beschleunigung a als die erste und zweite Ableitung von t² berechnen lassen. Das entspricht der allgemeinen Grundregel der Differentialrechnung: Beim Ableiten einer Funktion wird die Dimension um Eins verringert. Wird z.B. eine Funktion in der dritten Potenz x³ abgeleitet, so ergibt das eine Funktion der zweiten Potenz x², und die Ableitung einer Funktion der zweiten Potenz x² ergibt eine lineare Funktion y = a · x. – Während die spätere Naturwissenschaft die ursprünglichen Ideen von Galilei ebenso ignorierte wie die Weltharmonik von Kepler, hat nur Hegel in seiner Naturphilosophie versucht, auf ähnliche Art zu argumentieren wie Kepler und Galilei (Hegel, Band 9, § 267 und 270, 75-80 und 85-106).

Geometrisch bedeutet das: Beim freien Fall kann die eindimensional gedachte Bewegungsbahn einer Kugel aus einer zweidimensional gedachten Zeit abgeleitet werden. Newton vermutete eine ähnliche Beziehung zwischen den Quadraten und Kuben im 3. Keplerschen Gesetz. Die Methods of Fluxions hatte er bereits 1671 abgeschlossen. In den Jahren ab 1678 führte er Gespräche mit seinem Vorgänger Robert Hooke (1635-1703) und mit John Flamsteed (1649-1719), der 1675 der erste Hofastronom Englands geworden war. Von Hooke kamen die maßgeblichen Ideen, dass sich die Schwerkraft im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat des Abstands 1 / r² verringert und sich daraus die elliptische Form der Planetenbahnen erklären lässt, aber erst Newton gelang es, dies mit der von ihm neu entwickelten Differentialrechnung mathematisch nachzuweisen. So wird das 3. Gesetz heute in allen Lehrbüchern der Physik sehr einfach in wenigen mathematischen Schritten hergeleitet (z.B. Giancoli, 188-190).

Der Zusammenhang von Flächen und Kuben kann geometrisch als die Bewegung einer Fläche gedeutet werden:

quadrat und kubus

Aus dem Integral der linearen Bewegung einer Fläche entsteht ein Kubus
beziehungsweise umgekehrt: Die Ableitung des Kubus nach der Tiefenachse ergibt die Frontfläche

In der Schule werden die Rechenregeln der Differential- und Infinitesimalrechnung einfach auswendig gelernt und kaum jemand traut sich zu fragen, warum das so ist, wie hier gerechnet wird. An diesem Diagramm ist zu sehen: Der Würfel enthält drei Dimensionen (Höhe, Länge, Breite). Entlang jeder Dimension kann sich eine Seite der Oberfläche zu der gegenüberliegenden bewegen. Das veranschaulicht, wie der Würfel x³ auf drei verschiedene Arten zurückgeführt werden kann auf 3 Bewegungen einander gegenüberliegender Flächen x² (von unten nach oben, von links nach rechts, von vorne nach hinten). Für die Ableitung eines Würfels gilt: (x³)' = 3x².

Wer sich die Quadrate anschaut, erkennt dort eine ähnliche Bewegung: So wie ein Würfel als Stapel von Flächen gedacht werden kann, ist eine Fläche als Stapel von Linien zu sehen. Entsprechend den 2 Dimensionen einer Fläche können die Linien von unten nach oben oder von links nach rechts gestapelt werden, und für die Ableitung einer Fläche ergibt sich (x²)' = 2x. Es ist nicht mehr schwierig, an diesen beiden Beispielen die allgemeine Regel zu erkennen (xⁿ)' = (n − 1) xⁿ⁻¹, aus der sich im Weiteren alle Operationen der Ableitung ergeben.

Während beim Integrieren Figuren gestapelt werden, wird beim Ableiten an einer Figur ein Grenzübergang betrachtet, durch den die Figur auf eine Grenzfläche verkleinert wird, wie z.B. ein Würfel auf eine der in ihm enthaltenen Flächen.

Rückblickend kann gefragt werden, ob dies bereits von Aristoteles in seiner Physik vermutet worden war oder gegen den Aristotelismus durchgesetzt werden musste (Seidel, 230-257). Newton selbst war überzeugt, lediglich ein Wissen neu zu entdecken, das bereits den Griechen bekannt war (Rattansi, 239).

Der abschließende Abstraktionsschritt gelang 1918 Emmy Noether (1882-1935) mit dem nach ihr benannten Theorem, dass jede Symmetrie innerhalb der Beobachtungsdaten als eine physikalische Erhaltungsgröße (wie z.B. der Energieerhaltung) gedeutet werden kann. Seither vertreten zahlreiche Autoren die Vermutung, dass nicht nur Quadrate in Würfel übergehen können, sondern sich in ähnlicher Weise aus Bewegungen dreidimensionaler Körper vierdimensionale »Super-Körper« ergeben, aus deren Bewegung wiederum fünfdimensionale Körper entstehen usf. Anders ist die von Einstein eingeführte vierdimensionale Raumzeit nicht zu verstehen. Wenn diese Dynamik in ihrer Allgemeinheit erkannt ist, stellt sich umgekehrt die Frage, nicht nach ständig höheren Dimensionen zu suchen, sondern an dieser Dynamik deren innere Symmetrien und Eigenschaften zu erkennen, ihre Eigenlogik. In dieser Weise verstehe ich die Arbeit von Renate Quehenberger Zur Hermeneutik der Penrose Muster (die für die Veröffentlichung vorbereitet wird): Für sie ist mit der fünften Dimension die Grundlage der Dynamik gegeben. An der fünften Dimension zeigen sich qualitative Eigenschaften, aus denen die Dynamik insgesamt hergeleitet werden kann. Sie bezieht dies ausdrücklich auf Pythagoras und die von ihm vermutete geradezu göttliche Bedeutung des Pentagramms ⛤. Die mathematische Physik beginnt in eine ähnliche Richtung zu denken, wie eine Arbeit von Bertram Kostant (1928-2017) zeigt, der ein führender Mathematiker auf diesem Gebiet war und auf die völlig neuartige Mathematik von Évariste Galois (1811-1832) zurückging, den Hegel noch nicht kannte. Auf diese Weise nähert sich die Wissenschaft aus ihrem Innern Fragen an, die traditionell als Magie und Zahlenmystik galten. – Einen vergleichbaren Weg ging Georg Cantor (1845-1918), als er spätestens seit 1884 nach kabbalistischen Ideen innerhalb der von ihm entdeckten Stufen der Unendlichkeit fragte. Es ist typisch für die moderne Wissenschaft des 19. und fast des gesamten 20. Jahrhunderts, Überlegungen dieser Art nicht anders als Ausdruck einer späten Geistesverwirrung verstehen zu können und ebenso wenig ernst zu nehmen wie die Weltharmonik von Kepler.

Für Kepler hatte das dritte Gesetz unmittelbar eine ganz andere Konsequenz: Da sich die Umlaufzeiten der Planeten sehr genau beobachten und messen lassen, können mit diesem Gesetz die Abstände der Planeten von der Sonne berechnet werden. Die Abstände von der Sonne waren für ihn von größter Bedeutung, denn er wollte an den Verhältnissen der Abstände jeweils zweier Planeten zur Sonne die Intervalle (die musikalischen Harmonien) erkennen, auf denen seine Weltharmonik aufbaut. Wie für Fludd war für ihn das Planetensystem ein Instrument von kosmischen Ausmaßen. Doch ging er weit über Fludd hinaus, als es ihm gelang, dies quantitativ nachzuweisen.

Aus Sicht der Astrologie ist ein anderer Aspekt hervorzuheben: Während die Ellipsen geometrisch auf einer Fläche dargestellt und im Ganzen überschaut werden können, entstehen mit der Dreidimensionalität der Kuben mathematische Zeichnungen, in denen die in der dritten Dimension übereinander liegenden Flächen, Strecken und Punkte einander verdecken. Das ist an dieser Zeichnung unmittelbar zu erkennen: Von den Kuben sind nur die dem Betrachter zugewandten Seiten zu erkennen, wobei an einigen zu sehen ist, wie sie von einer äußeren Lichtquelle angestrahlt werden. Um die abgewandt liegenden Außenflächen sehen zu können, muss entweder der Betrachter um den Würfel herumgehen oder den Würfel drehen, so dass nacheinander alle Seiten sichtbar werden. Es ist auch vorstellbar, dass sich der Würfel von sich aus dreht und sich z.B. entlang eines Möbiusbandes bewegt, wodurch in einer periodischen Bewegung die sichtbaren und unsichtbaren Seiten ihre Sichtbarkeit vertauschen. In der Sprache der Astrologie wird an den Planeten ihr Name, ihre Intelligenz (Sonnenseite) und ihr Dämon (Schattenseite) unterschieden, die insgesamt das Siegel eines Planeten ergeben. (Im Umfeld von Michael Maier und Robert Fludd hat Matthäus Merian d.Ä. vermutlich ebenfalls in den Jahren 1618-1618 eine graphische Darstellung aller Siegel gezeichnet, die in der Frankfurter Universitätsbibliothek aufbewahrt und seit Kurzem virtuell zugänglich ist: Link) Wird an das einleitend dargestellte Horoskop erinnert, so gilt in der Astrologie der die Geburt bestimmende Planet (in diesem Beispiel der Mond) als eine Eigenschaft, die anfangs im Schatten steht und erst im Verlaufe des Lebens des Ereignisses (des Menschen) hervortritt. Wer Schwierigkeiten mit den Metaphern und Vorstellungen der Astrologie hat, wird dennoch an dreidimensionalen Figuren wie dem Würfel ihr mit der Drehung gegebenes Wechselspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit (Zugewandtheit und Abgewandtheit, Licht und Schatten) erkennen und sich daran erfreuen können.

4 Die Mathematik entsteht durch einen Grenzübergang aus der Physik. Im Grenzübergang wird an der Physik deren Geometrie erkannt. In der Geometrie werden Partikel auf materiefreie Punkte vereinfacht. Dieser Grenzübergang erklärt, warum es innerhalb der Mathematik keine geschichtliche Zeit, aber Musik gibt.

Während sich die Transformationen geometrischer Gebilde unterschiedlicher Dimension graphisch veranschaulichen und mit der Differential- und Integralrechnung quantitativ bestimmen lassen, ist es eine völlig andere Frage, wie die dimensionslosen Punkte der Geometrie in die materiellen Körper der Physik übergehen können. Den meisten ist nicht bewusst, dass die Keplerschen Gesetze in ihrer reinen, mathematischen Gestalt ausschließlich für eine rein geometrische Welt gelten, in der die Sonne und die Planeten nichts als materiefreie, geometrische Punkte sind, ohne innere Dimension (Ausdehnung) und Gewicht. Hätten sie Masse und Gewicht, so würde dies zu Störungen führen und die Reinheit der Keplerschen Gesetze verletzen. Werden in der geometrischen Darstellung die Materiepunkte durch kleine hohlraumartige oder massive Figuren ersetzt, so führt das zu einer komplexeren Geometrie, wie die Verhältnisse im Innern der Figuren und der Randpunkte der Figuren zu ihrer Umgebung zu verstehen sind, aber es bleibt weiter offen, wie aus ihnen Materie entstehen soll. Daher wird meist einfach bei jedem Punkt mit einem Zahlenwert die Masse des jeweiligen Sterns ergänzt, obwohl es ein Widerspruch ist, einen dimensionslosen Punkt mit einer Materie zu versehen. Aus physikalischer Sicht kann gesagt werden, dass angesichts der ungeheuren Entfernungen im Kosmos die Größe der einzelnen Sterne vernachlässigbar und ist und mathematisch als unendlich klein angenommen werden kann. Eine Lösung kann nur mit der von Newton und Leibniz eingeführten Differentialrechnung gefunden werden, in der die besonderen Rechenregeln unendlichkleiner Größen gelten. Seither wird an einer darauf aufbauenden Differentialgeometrie gearbeitet, doch ist bis heute nicht im Ansatz klar, in welcher Weise die Gravitationskraft materieller Körper mit rein geometrisch darstellbaren Gesetzen vereint werden kann.

Worum es geht, kann auch von einer anderen Seite beleuchtet werden: Erst ausgedehnte physische Körper haben eine eigene Lebendigkeit mit ihrer jeweiligen Geschichte und sind wie alle physischen Prozesse dem Werden und Vergehen, der Geburt und dem Tod unterworfen. Dagegen enthalten zwar die Keplerschen Gesetze, die Bewegungsgleichung von Galilei und alle späteren rein geometrisch formulierten Naturgesetze die Zeit als Parameter, wenn z.B. bei Kepler mit Umlaufzeiten und bei Galilei der Zeit im Quadrat gerechnet wird, aber sie selbst gelten als Gesetze ewig (zeitlos).

Wenn es dennoch zwischen den Abständen der Planeten zur Sonne Beziehungen gibt, können diese innerhalb geometrischer, materiefreier Theorien nicht aus der Körperlichkeit oder inneren Kräften der Planeten erklärt werden, sondern nur aus sich selbst heraus als eine übergreifende, rein mathematische Harmonie. Das ist seit Pythagoras die Sphärenmusik. Sie tönt nicht und ist nicht vom menschlichen Ohr zu hören, sondern sie spricht nur die innere Anschauung der Mathematik an. So wie ein Kinästhet Farben hören und Töne sehen kann, kann gesagt werden, dass die Mathematik an den von ihr betrachteten Harmonien Klänge hört.

Kepler hatte davon sehr genaue Vorstellungen. Während Michael Maier von dem Zusammenspiel zweier Stimmen und dem basso continuo ausging, vermutete Kepler eine innere Harmonie der 6 zu seiner Zeit bekannten Planeten (Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter und Saturn) und ordnete sie den 4 Stimmlagen eines Chores zu: Sopran, Alt, Tenor, Bass, wobei er den Alt und den Bass nochmals in je zwei Stimmen unterteilte (in Mezzosopran und Alt bzw. Bariton und Bass). Am wichtigsten war ihm die Basslinie. Während Maier vom Rhythmus der herabfallenden Äpfel ausging, sah Kepler die Basslinie im Verhältnis der beiden sonnenfernsten und größten Planeten Jupiter und Saturn mit den größten Umlaufzeiten, deren Abstände von der Sonne er mit dem 3. Gesetz bestimmen konnte. Für mich bestätigt das in der Musik die Rhythmusgruppe des Basses und der tiefen Trommeln in einer Jazzformation, die einen ganz besonderen Zauber zu erzeugen und den Klang im Ganzen zu tragen vermag.

Für Kepler hatte der Kubus eine doppelte Bedeutung. Er tritt nicht nur in der Formel des 3. Gesetzes auf, sondern auch innerhalb seines ersten Entwurfs einer Weltharmonik, an der er bei allen Umarbeitungen und Verbesserungen zeitlebens festhielt. Er ging davon aus, dass die Planeten auf Kugeln um die Sonne angeordnet sind, die wiederum durch die ineinander verschachtelten fünf platonischen Körper voneinander getrennt werden: Zwischen der Saturn-Kugel und der Jupiter-Kugel ist ein Kubus (Würfel) einbeschrieben, zwischen der Jupiter-Kugel und der Mars-Kugel ein Tetraeder (Tetrahedron) usf. Als klar wurde, dass sich die Planeten auf Ellipsen statt auf Kreisen bewegen, musste das erweitert werden. Die elliptische Bahn verläuft zwischen zwei Kreisen. Maßgeblich für die Harmonien sind die jeweiligen Durchschnittswerte. Das ist in der folgenden Zeichnung dargestellt: Der durchschnittliche Abstand (Medius) eines Planeten zur Sonne bildet einen Kreis, die Ellipse verläuft zwischen dem sonnennächsten Punkt (Perihel) und dem sonnenfernsten Punkt (Aphel).

Kepler - Ellipse in zwei Kreisen

Verlauf einer Ellipse in zwei Kreisen

Daraus ergeben sich die Abstände der Planeten von der Sonne, mit denen Kepler die Weltharmonik berechnet hat.

Kepler - Saturn und Jupiter

Planetenbahnen und einbeschriebene platonische Körper nach Kepler
Kepler Weltharmonik, 287

Das ungewöhnliche Verhältnis von Saturn und Jupiter hat sich empirisch bestätigt und wird heute als Große Konjunktion bezeichnet, wenn sich von der Erde aus gesehen die Bahnen von Saturn und Jupiter kreuzen. In dem Beitrag von Wikipedia ist eine Animation »Bewegung der Planeten Jupiter und Saturn zwischen Dezember 1980 und Oktober 1981 im Sternbild der Jungfrau« zu sehen, auf der Jupiter und Saturn eine ungewöhnliche Tanzfigur ausführen. Das geschieht alle 20 Jahre, wobei es in größeren Abständen sogar zu einer dichten Abfolge von drei Konjunktionen kommt, der Größten Konjunktion. Die Große Konjunktion erinnert mit ihrer Gegenüberstellung der beiden Götter Saturn und Jupiter (bzw. Kronos und Zeus, El und Jahwe) an die conjunctio oppositorum, wie sie in der Zeichnung von Rembrandt angesprochen ist. Heute wird angenommen, dass der Stern von Bethlehem eine Große Konjunktion war. Die letzte große Konjunktion fand am 21.12.2020 statt, also zugleich am Tag der Wintersonnenwende.

5 An der Mathematik ist die existenziale, psychische, mentale Verfassung des Menschen zu erkennen, der im Denken einen Grenzübergang wie den von Physik und Geometrie vollziehen kann.

Doch auch der Übergang von dimensionslosen Punkten zu mit Gewichten (Masse) verbundenen Partikeln ist nicht der letzte Schritt. Abschließend ist zu fragen, in welchem Verhältnis die Realität, Empfindungen, Beobachtungen und die mathematischen Modelle stehen. Gibt es einen übergreifenden Raum, der von der Realität zu den Modellen führt und zurück, wenn die Ergebnisse der mathematischen Modelle in technische Verfahren umgesetzt und angewandt werden? Die Magie ging von Mächten in der Natur und von höheren Mächten aus, die diesen Zusammenhang regeln. Für Leibniz sichert eine prästabilierte Harmonie den übergreifenden Zusammenhang. Die Wissenschaft sah und sieht es dagegen einseitig: Für sie entstehen die mathematischen Modelle aus der Freiheit des Menschen. Nur sie verfügt über die Sprache, mit der die von sich aus unsprachliche Natur in Form gebracht werden kann.

Kepler vermutete eine Wechselwirkung. Für ihn gibt es nicht nur im Menschen eine Seele, sondern auch in den bewegten Dingen, die Anima motrix, die Seele des Bewegers. Kann von einer Wahlverwandtschaft gesprochen werden, wenn beide einander anziehen und sich finden? Das ist der Grundgedanke, den Goethe in seinem Roman Wahlverwandtschaften und Hegel in seiner Wissenschaft der Logik als Wahlverwandtschaft der realen Maße (Harmonien) aufgenommen haben. Beide bekannten sich ausdrücklich zu Kepler. Die Naturwissenschaft lehnt dagegen Ideen dieser Art ab. Der Eintrag in Wikipedia sieht die anima motrix als »ein von dem Astronomen Johannes Kepler verwendetes - aber nicht zutreffendes - Konzept im Rahmen seiner Planetentheorie [...], die noch tief in der Impetuslehre der Scholastik verwurzelt ist« (abgerufen am 10.2.2023). So vertritt es auch Max Caspar, der Herausgeber der Werke Keplers. Er sieht sich bestätigt, wenn Kepler 1621 in einer Anmerkung der 2. Auflage des Mysterium Cosmographicum von der vis motrix spricht, worin Max Caspar eine Abwendung vom »von der animistischen Erklärung der Planetenbewegungen zu der mechanistischen« sieht (Kepler 1596, 416).

Anders als die spätere Wissenschaft berücksichtigt Kepler ausdrücklich nicht nur den physischen, sondern auch den seelischen (mentalen) Standort des Wissenschaftlers. Bei all seinen großen wissenschaftlichen Erfolgen räumt er dennoch der Astrologie und Magie eine eigene Bedeutung ein. Das wird später meist einfach ignoriert oder als Dummheit und Fehler angesehen, der sich aus den Einflüssen der Zeit erklärt, in der er lebte. Die Astrologie denkt geozentrisch: Wie wirken die Sonne und die Planeten auf einen auf der Erde lebenden Menschen und dessen Seele. Kepler bleibt sich treu: Er lehnt sowohl eine deterministische Astrologie wie eine deterministische Naturwissenschaft ab. Für ihn können die von der Astrologie betrachteten Einwirkungen der Sterne auf den Menschen nur verstanden werden, wenn sie im Wechselspiel mit der Seele des Menschen zu sehen sind. Umgekehrt lehnt er ebenso das zu seiner Zeit entstehende einseitige Denken einer Naturwissenschaft ab, die glaubt, ihre Gesetze wären ausschließlich von ihr autonom bestimmt. Auch die Naturwissenschaft ist nur zu verstehen als Wechselspiel mit der von ihr betrachteten Natur und nicht als einseitige Dominanz oder Autorität.

Um das verständlicher zu machen, kann gefragt werden: Wie ist das Kepler inspirierende Gespür zu verstehen, an den Beobachtungsdaten die in ihnen verborgenen Gesetze zu erkennen? Welche Mitteilung hat er den Beobachtungsdaten von Tycho Brahe entnehmen können, und auf welchem Weg ist diese Mitteilung zu ihm gelangt? Statt von einem Wechselspiel zwischen der Natur und dem Menschen zu sprechen, werden von der Wissenschaft die Eingebungen des Menschen ausschließlich seiner Genialität bzw. dem Genie einzelner großer Wissenschaftler zu verdanken, die sich kaum von einer naiv gedachten Magie großer Heiliger oder Priester unterscheiden lässt.

In neuerer Zeit hat Bruno Latour (1947-2022) diesen Gedanken wieder aufgegriffen. In seinen soziologischen Untersuchungen, wie die Arbeit in modernen Forschungseinrichtungen aussieht, betont er ausdrücklich, dass es ihm nicht nur um den Wissenschaftsdiskurs geht, wie er in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen ausgetragen wird, sondern darüber hinaus um das Wechselverhältnis von Theorien und all den Dingen (Instrumenten, Materialien), mit denen die Wissenschaftler arbeiten. Er erkennt als den Grundzug der Wissenschaft das Gespür, mit dem die Wissenschaft ihren Themen buchstäblich auf der Spur ist, ohne sich Rechenschaft abgeben zu können, welche Kräfte es sind, von denen sie sich hierbei leiten lässt.

Goethe und Hegel konnten in ihrer Ablehnung von Newton, den sie als Antipoden Keplers sahen, noch nicht wissen, wie nahe Newton in diesen Fragen Kepler stand. Doch lebte Newton in einer Zeit, in der er es offenbar nicht wagen konnte, das öffentlich zu äußern. Möglicherweise hätte er die Kritik von William Blake (1757-1827) geteilt, als dieser ihm, d.h. den von ihm öffentlich bekannten Werken vorhielt, sie würden in eine rein materielle Sphäre versinken und die geistige Ebene leugnen. Für Blake verliert eine Wissenschaft, die nur vom Buch der Natur spricht, die geistige Dimension. Sie ist blind und kann das Buch der Natur nur mit den Füßen lesen.

Blake Urizon

William Blake (1757-1827): The Book of Urizen, 1793, Deckblatt
Urheber: By William Blake - The William Blake Archive, Public Domain, Link

6 Der Mathematik liegen quantitative Prozesse zugrunde, die in der Physik gegeben sind. Wird sich die Mathematik ihrer bewusst, dann führen die zeitlosen Formeln zu den auf Zuweisungen beruhenden Algorithmen der Informatik. Erst in solchen Zuweisungen wird die Mathematik anwendbar.

Die Mathematik kann zwar mit Umlaufzeiten und Zeiten rechnen, doch bleibt sie im Ganzen statisch. Wie kann sie sich zu einer dynamischen Wissenschaft entwickeln, die sich selbst zu verändern und in ein Wechselspiel mit ihrem Gegenstand und dessen Veränderungen zu treten vermag? Abschließend sei als These formuliert: Sie muss von einer Wissenschaft der Gleichungen und Größen (Quanta) zu einer Wissenschaft quantitativer Prozesse werden, wobei sie sowohl ihren Gegenstand wie auch sich selbst als quantitative Prozesse versteht, die miteinander in Resonanz treten. So wie das Gehör in Resonanz mit dem gehörten Ton zu schwingen beginnt und diese Schwingung das Nervensystem anregt, ist an die spezifische Fähigkeit der mathematischen Anschauung zu erinnern: Die mathematische Anschauung ist kein statischer Widerschein dessen, was sie anschaut, sondern sie ist wie die Bewegung des Trommelfells als eine Schwingung zu verstehen. Sie ist ein quantitativer Prozess. An der mathematischen Anschauung zeigt sich eine Eigenschwingung, die in Resonanz zur Schwingung des quantitativen Prozesses steht, den sie versteht. Die Mathematik wird von einer Lehre der Größen zu einer Wissenschaft quantitativer Prozesse und deren Resonanzwirkungen, so wie es Fludd und Kepler an den Beispielen der Bewegungen der Planeten und der Sonne gezeigt haben, die sich in Harmonien ihrer Resonanzen und Resonanzzustände bewegen.

Das bedeutet: Die Mathematik muss die von ihr betrachteten Gleichheiten umwandeln in dynamische Prozesse von Zuweisungen, so wie es in der Entwicklung der Programmiersprachen der Informatik bereits geschieht. Deren Geschichte geht bis zu ersten Berechnungen durch Ada Lovelace (1815-1852) zurück und hat im engeren Sinn in den 1950ern mit Sprachen wie FORTRAN begonnen. Statt zu sagen ›a ist b‹ oder ›a = b‹, muss gesagt werden, ›a wird b zugewiesen‹ oder ›b → a‹. Gleichungen wie ›a = b‹ sind lediglich der statische Grenzfall von dynamischen Prozessen. Die Mathematik wandelt sich von einer Wissenschaft der Zahlen in eine Wissenschaft der Pfeile (Zuweisungen). Zuweisungen gibt es sowohl auf der Objektebene, wenn dort Zuweisungen betrachtet und untersucht werden, wie auch auf der Meta-Ebene, wenn die mathematische Arbeit im Ganzen als die Wechselwirkung einer Zuweisung der Gegenstände auf die Symbole, mit denen der Mathematiker arbeitet, und deren Ergebnisse zurück auf die Gegenstände angesehen wird, das Wechselspiel des Berechenbaren und des Rechnen-Könnenden.

Die Radikalität dieser Transformation wird deutlich, wenn sie auf die Selbstbezüglichkeit ›a ist a‹ angewandt wird, die in ›a wird a‹ oder ›a → a‹ zu transformieren ist, bzw. noch genauer in den von Hegel eingeführten mathematischen Schluss A – A – A, mit dem selbstbezüglich von A über A auf A geschlossen wird.

Das lässt sich nochmals von der Mathematik auf die Sprache und deren Zeichen verallgemeinern, wenn aus der Grundstruktur einer sprachlichen Aussage ›S ist P‹ die Einsicht wird, ›S und P befinden sich im Wechselspiel‹. Wenn die Mathematik, die Logik und die Linguistik diese Transformation vollziehen, werden aus Gleichungen Zuweisungen und aus mathematischen Formeln Algorithmen.

Algorithmen werden häufig als ein rein mechanisches Vorgehen verstanden, über das sich die Intelligenz und die Freiheit der menschlichen Kreativität weit erheben. Aber sind eine Intuition und die Fähigkeit für Innovationen möglich, wenn sie sich nicht zugleich verlassen können auf elementare Wiederholungen, mechanisches Auswendiglernen und ein gutes, in zahlreichen Übungen trainiertes Gedächtnis und Gespür? Gibt es nur statische Algorithmen oder auch lernende Algorithmen bis auf die Ebene von unendlich-kleinen Algorithmen vergleichbar dem Differentialkalkül, aus dem sich die üblichen Algorithmen zusammensetzen lassen, d.h. Übergänge zwischen Algorithmen unterschiedlicher Dimensionalität (Potenzen), wie sie von Galilei, Kepler und Newton untersucht wurden? Gibt es Potenzenverhältnisse nicht nur von Größen, sondern auch von Algorithmen? Das sind die Fragen, mit denen im Herbst das Thema dieses Vortrags fortgeführt werden soll: Was sind und was können die Algorithmen.

Ausklang

Doch als Ausklang ist ein Stück Musik zu hören, dass zur Zeit von Fludd, Michael Maier, Galilei und Kepler in Rom entstanden ist: Das Miserere von Gregorio Allegri (1582-1652), vermutlich erstmals in den 1630ern vorgetragen, kurz nach dem Tod von Kepler und zur gleichen Zeit, als Galilei gezwungen wurde, in Rom sein Bekenntnis zu Kopernikus zu widerrufen. Das Miserere wird von neun Stimmen gesungen, die sich in zwei Gruppen aufteilen, und vermutlich an die Neun Chöre der Engel in der christlichen Mythologie erinnern. In YouTube findet sich eine Aufnahme des Miserere - Tenebrae mit dem Notenbild. Helmut Krausser (* 1964) hat in seinem Roman Melodien oder Nachträge zum quecksilbernen Zeitalter diese Zeit und eine halb fiktive Entstehungsgeschichte dieses Gesangs dargestellt und das Stück von Allegri in den Mittelpunkt gestellt. Einer der größten Bewunderer dieser Musik war Papst Urban VIII (1568-1644), der in jungen Jahren Förderer und Gönner der neuen Ideen von Galilei war, sich jedoch später der Mehrheit der Kirchenhierarchie anschloss und 1632 die Inquisition gegen Galilei zuließ. Immerhin hat er vermeiden können, dass Galilei wie wenige Jahre zuvor im Jahr 1600 der Philosoph, Astronom und Dichter Giordano Bruno (1548-1600) auf dem Scheiterhaufen hingerichtet wurde und es bei der Androhung der Folter blieb (Næss, 182).

Literatur

Peter J. Ammann: The Musical Theory and Philosophy of Robert Fludd
in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Vol. 30 (1967), 198-227

Hans Aurenhammer: Hippomenes und Atalante, um 1615-1618
in: Der göttliche Reni, Ausstellungskatalog, Hatje Cantz Verlag 2022, 98-99

Christa Blenk: Atalanta und Hippomenes von Guido Reni (1575-1642), in: kultura-extra vom 17.11.2022

Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main 1996 [1975]

Diethelm Brüggemann: Alchemie ohne Labor Aufschlüsselung des Kryptogramms in Rembrandts Radierung "Sogenannter Faust"
in: Jahrbuch der Berliner Museen, 43. Bd. (2001), 133-151

Ioan Mihai Cochinescu: Alchemy and Music
in: Philobiblon, Volume X-XI, 2005-2006, Cluj (Rumänien) 2006, 135-159; philobiblon.ro

Alistair C. Crombie: Von Augustinus bis Galilei, München 1977 [1959]

Eva Dewes: Atalanta
in: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 2008, S. 164-171.

Sybille Ebert-Schifferer: Guido Reni – der Anti-Caravaggio? Vortrag am 30.11.2022 am Zentralinstitut für Kunstgeschichte München; YouTube

Jutta Emig (u.a.): Tagungsbericht: Der Begriff der Magie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Ein Arbeitsgespräch des Sonderforschungsbereichs 980 "Episteme in Bewegung",
In: H-Soz-Kult, 20.04.2018, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-126238>

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Karl R.H. Frick: Die Erleuchteten (Gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts - ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit), Graz 1973

Galileo Galilei (Galilei 1623): Il Saggiatore (Der Prüfmeister mit der Goldwaage), Rom 1623
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englische Übersetzung in: Stillman Drake: Discoveries and Opinions of Galileo, New York 1957

Galileo Galilei (Galilei 1638): Discorsi - Unterredungen und mathematische Beweisführungen zu zwei neuen Wissensgebieten, Übersetzt und herausgegeben von Ed Dellian, Hamburg 2015

Douglas C. Giancoli: Physik, Hallbergmoos 2010³ [2000]

Karen Gloy, Manuel Bachmann (Hg.): Das Analogiedenken, Freiburg, München 2000

Jan Golinski: Das geheime Leben eines Alchemisten
in: John Fauvel u.a. (Hg.): Newtons Werk, die Begründung der modernen Naturwissenschaft, Basel u.a. 1993 [1988], 191-217

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971

Dagmar Hoffmann-Axthelm: Mozart und die Alchemie
in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis, 7(1983) Heft 2, 358-376

Johannes Kepler (Kepler 1596): Mysterium Cosmographicum de Stella Nova, herausgegeben und eingeleitet von Max Caspar, München 1938 [1596]

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Carl Kiesewetter: Geschichte des neueren Occultismus, Leipzig 1891

Bertram Kostant: The Graph of the Truncated Icosahedron and the Last Letter of Galois
in: Notices of the American Mathematical Society, Vol. 42 No. 9 1995, 959-968

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in: Peter Plath, Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Theorie und Labor, Köln 1978, 110-147

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deutsche Übersetzung: Thomas Hofmeier: Michael Maiers Chymisches Cabinet. Atalanta fugiens deutsch nach der Ausgabe von 1708, Basel 2007
englische Übersetzung: Translation from British Library MS. Sloane 3645, transcribed by Clay Holden, Hereward Tilton und Peter Branwin; on alchemywebsite.dom

Marina Münkler: Epistemische Figurationen
in: Peter-André Alt u.a. (Hg.): Magia daemoniaca, magia naturalis, zouber, Wiesbaden 2015, 203-231

Atle Næss: Als die Welt still stand, Galileo Galilei - verraten, verkannt, verehrt, Berlin Heidelberg 2006 [2002]

Thomas de Padova: Das Weltgeheimnis; Kepler, Galilei und die Vermessung des Himmels, München 2011² [2009]

Ovid: Metamorphosen, 10. Buch, Vers 560-707; online bei gottwein.de

Piyo Rattansi: Newton und die Weisheit der Alten
in: John Fauvel u.a. (Hg.): Newtons Werk, die Begründung der modernen Naturwissenschaft, Basel u.a. 1993 [1988], 237-256

María Isabel Rodríguez López: Atalanta e Hipomenes: recreación iconográfica de un mito
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Wilhelm Heinrich Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1884

Lothar Seidel: Kritik der Physik des Aristoteles, Frankfurt am Main 2005

Hildemarie Streich: Musikalische und psychologische Entsprechungen in der Atalanta fugiens von Michael Maier, in: Eranos-Jahrbuch 42 (1973), 361-424

Christopher Vogler: Die Odyssee der Drehbuchschreiber Romanautoren und Dramatiker, Berlin 2018 [1992]

Berit Wagner (Hg.): Matthäus Merian d.Ä. und die Bebilderung der Alchemie um 1600, Virtuelle Ausstellung & Dynamische Wissensplattform, Frankfurt 2021ff. (merian-alchemie.ub.uni-frankfurt.de)

Volkhard Wels: Die Alchemie der Frühen Neuzeit als Gegenstand der Wissensgeschichte
in: Peter-André Alt u.a. (Hg.): Magia daemoniaca, magia naturalis, zouber, Wiesbaden 2015, 233-265

Frances Yates: Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes, Stuttgart 1975


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