Walter Tydecks

 

Was glauben die Konfessionslosen?

– Antworten der Hirnforschung und der Philosophie

Bansin Kiefer
Kiefer in Morgensonne auf Usedom

Beitrag für den Themenkreis Naturwissenschaft und Technik von 50plus aktiv an der Bergstraße am 27.4.2016 in Bensheim

 

 

Einleitung

Die Gruppe der Konfessionslosen ist in Deutschland bereits größer als jede Kirche mit wachsender Tendenz. Was glauben sie und an welchen Werten orientieren sie sich? Darauf gibt es keine klare Antwort, sondern zahlreiche Angebote unterschiedlichster Richtungen von Wellness über Yoga bis zu neuen Sekten. Sind die Konfessionslosen eine neue Strömung des Nihilismus, Materialismus oder Aberglauben und besonders empfänglich für populistische Ideen? Nicht nur religiöse Menschen können durch blasphemische Äußerungen verletzt werden, sondern ebenso Konfessionslose. Dies Thema ist recht heikel. Alle spüren, dass sich in den letzten Jahrzehnten in Glaubensfragen eine historische Wende vollzieht, über die jedoch kaum gesprochen wird – am wenigsten von den Kirchen –, und wenn dann nur unter Teilaspekten wie Politikverdrossenheit oder der Beziehungslosigkeit einer neuen »Generation Facebook«.

Im Rahmen eines Themenkreises mit Schwerpunkt Naturwissenschaft und Technik stellt sich die Frage, ob von dieser Seite erhellende Einsichten gewonnen werden können. Nach einem einführenden Überblick über die Situation der Konfessionen in Deutschland sollen zwei Fragen aus dem Umkreis der Naturwissenschaften aufgenommen werden:

–    Mithilfe der Hirnforschung wird immer besser verstanden, was im Gehirn bei religiösen und spirituellen Erfahrungen geschieht. Lassen sich daraus Praktiken und Drogen entwickeln, um solche Gefühle künstlich zu erzeugen? Der Ansatz der Hirnforschung wirft grundlegende philosophische Fragen auf, mit denen sich insbesondere Thomas Metzinger in seinem Buch Der Ego-Tunnel beschäftigt hat.

–    Die Konfessionslosigkeit kann als Spätwirkung einer Umwälzung der Naturwissenschaften gedeutet werden, die auf den Beginn der Neuzeit zurückgeht und sich in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg nochmals radikal beschleunigt hat. Seither prägt die Industrialisierung in den technisch fortgeschrittenen Ländern den Alltag aller Menschen. Die Naturwissenschaft beschäftigt sich mit Objekten und Grenzfragen, die früher für göttlich gehalten wurden und sich – wie zum Beispiel die Elektronen, Photonen, Radioaktivität oder Krümmung des Raums – der sinnlichen Erfahrung entziehen. Angesichts dieser Herausforderung gewinnt die Philosophie ein neues Verständnis von Religion und Spiritualität und findet Antworten, die nicht mehr in das Schema der überlieferten Konfessionen passen. Das soll am Beispiel der Phänomenologie von Husserl und der Religionsphilosophie von Buber näher ausgeführt werden.

Zur Entwicklung der Kirchen

Seit 1960 erodieren in Deutschland die Kirchen. Das war zuerst bei den evangelischen Kirchen zu beobachten, ist inzwischen jedoch ein allgemeinerer Trend, der auch für das Judentum und in absehbarer Zukunft mit Verzögerung für den Islam gelten wird.

konfessionslose

Entwicklung der Religionen in Deutschland
Quelle: Liberales Institut

Die Statistik zeigt einen langfristigen Mitgliederschwund beider christlicher Kirchen sowie einen Sondereffekt durch die Wiedervereinigung 1990 und ein geringfügiges Erstarken der Moslems. Während über den Islam viel gesprochen wird und islamfeindliche Bewegungen entstehen, wird der wesentlich stärkere Anstieg der Konfessionslosen fast geräuschlos hingenommen, nicht zuletzt von den Hauptbetroffenen, den christlichen Kirchen. Sie wissen nicht, ob sie sich gegenüber dieser Entwicklung wieder stärker auf ihre Traditionen besinnen oder umgekehrt den Änderungen des Zeitgeistes anpassen sollen. Im Ergebnis scheint beides gleich erfolglos zu sein. Weder die evangelische Kirche mit ihrer größeren Anpassungsbereitschaft noch die katholische Kirche mit einer stärker konservativen Haltung können die Entwicklung aufhalten. Weltweit gesehen gelingt der Kirche ein Wachstum nur in weniger entwickelten Ländern, und es ist nach heutigem Stand davon auszugehen, dass dies nur eine vorübergehende Erscheinung ist, bis auch dort mit der Industrialisierung alle Religionen an Mitgliedern verlieren werden.

Die Mitgliederentwicklung ist nur das äußerste Anzeichen. Der Rückgang des Gottesdienstbesuchs und der Priestermangel sind weit dramatischer. Hierfür Zahlen aus der katholischen Kirche:

katholiken

Anzahl der Katholiken und der Gottesdienstteilnehmer der katholischen Kirche in Deutschland 1950-2009
Quelle: fowid

Überraschenderweise ist noch größer der Priestermangel. In der katholischen Kirche ist die Zahl der Neupriester 1962 bis 2014 von jährlich 557 auf 75 um 85% gefallen (Wikipedia). Es wären jedoch 500 Neupriester notwendig, um die bestehenden Stellen aufrecht zu erhalten. Es kommt hinzu, dass nach Schätzungen der Vereinigung katholischer Priester und ihrer Frauen ca. 20% der katholischen Priester den Dienst verlassen haben oder verlassen mussten (petresmaries). Georg May (emeritierter Kirchenrechtler aus Mainz) nennt aus konservativer Sicht folgende Gründe: Kirchenaustritte, Geburtenrückgang, Auflösung der kirchlichen Moralvorstellungen etwa gegenüber der Sexualität und Rückgang der Beichten, Verlust der Vorbildfunktion der heute aktiven Priester, Priester sehen ihre Aufgabe nur noch als Broterwerb, hinzukommen Missbrauchsvorwürfe gegen Priester, Berufsausstieg zahlreicher Priester, antikirchliche Propaganda, Nivellierung des Priestertums, Anstieg von Laienpriestern, Macht der Pfarrgemeinderäte, Ungenügen der Priesterseminare, Zustand der theologischen Fakultäten, fehlende Unterstützung durch die Bischöfe.

In der evangelischen Kirche verläuft trotz der höheren Anzahl von Kirchenaustritten die Entwicklung moderater, aber in gleicher Tendenz.

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Anzahl der Weltpriester und Theologen in Deutschland 1953-2008
Sonderentwicklung 1990 durch die Wiedervereinigung, Quelle: fowid

Obwohl sowohl in der evangelischen wie katholischen Kirche die Bezahlung der Priester und Pfarrer »auf Studienrats- und Oberstudienratsniveau« liegt, gilt auch für die evangelische Kirche: »Während 1991 über tausend junge Pfarrer ihren Dienst antraten, waren es 2005 noch 405 und 2009 nur noch 260.« (Tagesspiegel vom 23.12.2013) Das zeigt zugleich, dass weder das Zölibat noch andere Anforderungen an die Lebensweise allein verantwortlich für den Priestermangel sind.

Wer tritt an die Stelle der Kirchen? Bei den Konfessionslosen gibt es Organisationen wie die Humanistische Union (ca. 1.500 Mitglieder, darunter viele Prominente aus dem Umfeld von Grünen und FDP), den Dachverband freier Weltanschauungsgemeinschaften, den Koordinierungsrat säkularer Organisationen, die 2004 gegründete Giordano Bruno Stiftung (einige prominente Mitglieder wie Hans Albert, Karen Duve, Janosch, Monika Griefahn, Thomas Metzinger, Esther Vilar) und viele weitere Organisationen. Sie haben jedoch bei weitem keine vergleichbare Bedeutung wie die Kirchen. Möglicherweise folgen sie noch einem überholten, aus dem 19. Jahrhundert tradierten Organisations-Modell. – Eine wirkliche Gegenmacht gegenüber den Kirchen entsteht dagegen bei den Transhumanisten, die bis in führende Positionen bei Unternehmen wie Google vertreten sind. Das ist ein Thema für sich und soll bei anderer Gelegenheit vertieft werden.

Wesentlich umfang- und einflussreicher ist dagegen das breite Angebot an Yoga, Ayurveda, Tiefenentspannung, Aromatherapien, Klangschalen, Gedächtnistraining, Lebensberatung und vieles mehr. Sie füllen die Lücke aus, die die traditionellen Kirchen hinterlassen. Die Anbieter reichen von kommerziellen fitness- und wellness-Centers über die Krankenkassen, Apotheken, Heilpraktiker, Ernährungsberater, Psychologen unterschiedlichster Ausrichtungen, Volkshochschulen, neue Einrichtungen wie hier in der Nähe das Odenwald-Institut, das Feldenkrais-Zentrum Heidelberg u.ä, Coaching-Unternehmen, kirchenähnliche Institutionen und dubiose Geschäftemacher. Selbst die Kirchen bieten heute in großem Maß Therapien und Kurse dieser Art an.

Ein Überblick über diese Bewegung ist mir nicht bekannt. Aber einige Beispiele mögen genügen: »Heute praktizieren mindestens drei Millionen Menschen in Deutschland Yoga, darunter etwa achtzig Prozent Frauen.« (Wikipedia, abgerufen am 1.4.2016). Die Anzahl der Heilpraktiker in Bayern zeigt eine Entwicklung, die spiegelbildlich zu den Veränderungen der Kirchen verläuft.

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Anzahl der Heilpraktiker in Bayern 1946-2013
Quelle: scienceblogs

Und schließlich wird von der Medizin und den Neurowissenschaften gefragt, welche Gehirn- und Denkprozesse der Frömmigkeit, Spiritualität und Religiosität zugrunde liegen. Lassen sich für diese Gefühle neurologische Korrelate nachweisen, und gibt es darauf aufbauend einen anderen, aufgeklärten Weg zu Gefühlen der Entspannung, des Glücks und eines sinnreichen Lebens, als es traditionell von Priestern, Kirchen und religiösen Gemeinschaften angeboten wird? Um diese Richtung soll es in diesem Beitrag gehen.

– Religion als Evolutionsvorteil, der verloren zu gehen droht?

Nur am Rande soll die Sicht der Evolutionstheorie im Sinne von Richard Dawkins (* 1941) erwähnt werden. Wenn sich heute über große Zeiträume hinweg ein Aufstieg und Niedergang der Religionen zeigt, stellt sich rückblickend die Frage: Ist unser Denken, Wissen und Glauben nichts weiter als ein komplexer Vorgang im Gehirn, der im Verlaufe der Evolution dem Menschen einen Vorteil verschaffte, weil Wesen, die an einen Gott glauben, mehr Kinder zeugen als Wesen ohne Glauben? Hat sich auf dem Umweg über die Religion das egoistische Gen durchgesetzt?

Studien belegen, dass gläubige Menschen mehr Kinder bekommen als Konfessionslose. Werden die Zahlen genauer betrachtet, dann zeigt sich weltweit von 1950 bis 2010 ein Rückgang der Anzahl Kinder je Frau von 5 auf 2,5 (pew Research Center, S. 25). Wird das nach der Religionszugehörigkeit differenziert, dann liegt 2010 die Rate bei den Muslims mit 3,1 am höchsten (jedoch auch bereits weit unterhalb des Werts von 1950), gefolgt von den Christen mit 2,7, während die Hindus mit 2,4, die Juden mit 2,3, die Konfessionslosen mit 1,7 und die Buddhisten mit 1,6 unter dem Durchschnitt liegen (ebd., S. 27). Aus Statistiken dieser Art haben Autoren wie Michael Blume und ihm folgend Sue Blackmore geschlossen, dass Religiosität mit höherer Geburtenrate verbunden und daher ein evolutionärer Vorteil ist, der jetzt verloren zu gehen droht und nur noch bei traditionellen Religionen wie dem Islam und verschiedenen christlichen Sekten erhalten bleibt. Werden jedoch die Entwicklungstendenzen betrachtet, dann zeigt sich, dass diese Zahlen einander annähern: Auch bei religiösen Menschen sinkt die Geburtenrate, während sie bei den Konfessionslosen leicht ansteigt (ebd., S. 27).

Offenbar sind das Sinken der Geburtenrate und der Anstieg der Konfessionslosen zwei Entwicklungen, die mit der wachsenden Industrialisierung und dem steigenden Bildungsgrad zusammenhängen, jedoch nicht auseinander erklärt werden können.

Insgesamt prognostiziert das Pew Research Center:

religionszugehörigkeit

Erwartete Veränderungen der Religionszugehörigkeit weltweit 2010-2050
Quelle: Pew Research Center, S. 11

Der Islam wächst noch, da er überwiegend in weniger entwickelten Ländern verbreitet ist, doch ist absehbar, dass er auf Dauer die gleiche Entwicklung wie das Judentum und Christentum nehmen wird.

Neue Erkenntnisse der Hirnforschung

– Gehirnaktivität bei religiösen und spirituellen Erfahrungen

Die Hirnforschung hat im Verlaufe des 20. Jahrhunderts völlig neue Methoden entwickelt, um Gefühle wie Spiritualität und Religiosität besser zu verstehen. Seit 1924 gibt es das EEG (Elektroenzephalografie), mit dem elektrische Ströme im Gehirn gemessen werden. Ein neuer Durchbruch gelang in den 1990ern mit der fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie). Mit diesem Verfahren wird gemessen, welche Bereiche im Gehirn stärker durchblutet sind. Daraus wird auf die Gehirnaktivität geschlossen. Mit bildgebenden Verfahren werden die Ergebnisse veranschaulicht, und seither gibt es bis in alle Medien zahlreiche Bilder, die zeigen, in welchen Situationen bestimmte Muster der Gehirnaktivität auftreten.

Diese Verfahren liefern keine Erklärung, aber erste intuitive Zuordnungen. Wenn bestimmte Bereiche des Gehirns in bestimmten Situationen aktiv sind, wird daraus geschlossen, dass es eine gemeinsame Art der Verarbeitung gibt. Beispiele: Werden trauernden Menschen Namen oder Erinnerungen an die verlorene Person genannt oder gezeigt, entsteht in ihrem Hirn ein auffallendes Aktivitätsmuster. Dies klingt bei den meisten Menschen im Laufe der Zeit wieder ab, doch können sich 10-20% der Menschen nicht aus der Trauer lösen. Bei ihnen bleibt das Muster erhalten. – Auf ähnliche Weise werden bei psychisch kranken Menschen, Schizophrenen oder bei epileptischen Anfällen vom Durchschnitt abweichende Gehirnaktivitäten gemessen.

Mit Messungen dieser Art wird auch nach dem “Sitz” von Religiosität und Spiritualität im Gehirn gefragt.

sitz der religion im gehirn

Gehirntätigkeit bei religiösen und spirituellen Erfahrungen
Quelle: Blume Wohnt Gott im Gehirn?, S. 128

Das ist ein erster Hinweis auf die Unterschiede von Religion und Spiritualität aus Sicht der Hirnforschung und wird im Weiteren nochmals aufgenommen.

Anmerkung 1: Auf vergleichbare Weise wird untersucht, was im Gehirn geschieht, wenn Menschen etwas schön finden. 2012 wurde in Frankfurt das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik gegründet mit Schwerpunkten auf Literatur und Musik. Siehe hierzu den einführenden Beitrag auf der Website dasgehirn.info.

Anmerkung 2: Aktuell werden die Ergebnisse der fMRT jedoch wieder in Frage gestellt, siehe dazu einen Beitrag in Spektrum der Wissenschaft vom 5.7.2016.

– Neuronales Korrelat des Bewusstseins

Die gemessenen Hirnaktivitäten sind für die Hirnforschung ein erster wichtiger Hinweis, was im Gehirn geschieht, wenn wir fühlen, denken oder glauben. Es wird angenommen, dass Gefühle, Gedanken und Glaube aus körperlichen Prozessen hervorgehen. »Viele Forscher begeben sich auf die Suche nach den biologischen Wurzeln des Glaubens.« (Spektrum der Wissenschaft) Allerdings wäre es zu einfach, körperliche Prozesse und Denkvorgänge unmittelbar gleichzusetzen. Daher wird von Korrelation gesprochen (Neural correlates of consciousness, NCC): Dem Glauben und der Spiritualität korrelieren empirisch nachweisbare und messbare Vorgänge im Gehirn. Gefühle, Gedanken und Glauben sind nicht möglich ohne körperliche Prozesse und enden mit dem klinischen Tod eines Menschen. Aber niemand kann sagen, wie die Wechselbeziehung zwischen neuronalen (körperlichen, letztlich physikalischen) Phänomenen einerseits und mentalen Phänomenen andererseits erfolgt. Das ist das 1981 formulierte Bieri-Trilemma: Einerseits wird gesagt, dass sich mentale und physikalische Prozesse unterscheiden, andererseits muss es eine Ebene geben, über die sie aufeinander wirken können, wenn sich z.B. Angst oder religiöse Ekstase in körperlichen Reaktionen zeigt.

Auch wenn keine Antwort auf das Bieri-Trilemma in Sicht ist, arbeitet die Hirnforschung daran, das neuronale Korrelat der Gefühle fortlaufend genauer zu bestimmen. Hierfür sind allerdings zwei Bilder aufzugeben, die von den bildgebenden Verfahren der Gehirnaktivität suggeriert werden und sich als viel zu einfach erweisen:

–    Das Gehirn ist kein Baukasten, in dem für alle Aufgaben ein bestimmtes Teil vorliegt. Es lässt sich nicht aufklappen wie eine Motorhaube, unter der die voneinander getrennten Module wie Lichtmaschine, Vergaser, Einspritzung, Tank etc. sichtbar werden. So wie es unmöglich war, für alle Eigenschaften des Menschen ein bestimmtes Gen zu identifizieren, – ein Intelligenz-Gen oder ein Gen, das dick macht –, so werden sich auch im Gehirn keine Module finden, die für die verschiedenen Fähigkeiten des Menschen zuständig sind. Daher ist auch die klare Abtrennung von Spiritualität und Religion zu relativieren.

–    Das Gehirn ist kein Computer. Alle Versuche der Robotertechnik und der Künstlichen Intelligenz waren erfolglos, mit großen Rechnern und Maschinen die menschliche Intelligenz nachzubauen. Erst jetzt zeichnen sich mit dem Einsatz neuronaler Netze spektakuläre Erfolge ab (siehe zum Beispiel die Programme für das Go-Spiel).

Das neuronale Korrelat des Bewusstseins ist daher anders zu bilden. Hier kommen neue Erkenntnisse der Neurowissenschaft, Traditionen der Philosophie und Methoden der Mathematik und Informatik zusammen.

– Verteiltes Netzwerk und Schichtenmodell

Das Gehirn ist ein verteiltes Netzwerk. Bewusstsein entsteht in besonderen dynamischen Mustern des Zusammenwirkens, die über das Gehirn verteilt sind. Um das zu verstehen, sind unterschiedliche Ebenen zu unterscheiden, die einander nach außen teilweise gegenseitig verdecken.

Vor-bewusste Wahrnehmungen (kleine Perzeptionen) Auf einer unteren vor-bewussten Ebene verarbeitet das Gehirn eine unüberschaubare Vielfalt von Eindrücken und bildet aus ihnen Gesamtheiten, die wir als Empfindung wahrnehmen. Dieser Ansatz geht auf Leibniz zurück. Er nahm als Beispiel das Meeresrauschen. Wir nehmen mit den Sinnesorganen das Geräusch von jedem einzelnen Wassertropfen wahr, aber bewusst hören wir nur ein unbestimmtes Meeresrauschen, das wir bei einiger Übung als solches erkennen. Noch deutlicher wird das beim Musikhören. Das Ohr hört Schwingungen bestimmter Wellenlängen und Intensität. Es trennt die Melodie von Nebengeräuschen und übersetzt sie für das Bewusstsein. Im Bewusstsein kommt an, dass wir eine Melodie hören, die uns spontan gefällt oder nicht gefällt, mit bestimmten Erinnerungen verbunden ist und tiefe Gefühle auslösen kann. Wir nehmen viel mehr wahr, als uns bewusst wird. Alle Wahrnehmungen werden vorgefiltert und vorgeprägt.

Andere Beispiele sind Farben und geometrische Muster. Wir nehmen die sinnlichen Reize nicht "roh" wahr, sondern bereits gebündelt und miteinander integriert als Farben wie Gelb oder Grün oder als regelmäßige geometrische Muster (Qualia). Das Verblüffende ist, dass sie keineswegs photographisch eins-zu-eins übersetzt sind. Mit einfachen psychologischen Experimenten kann gezeigt werden, wie der Mensch Farben und Muster von Objekten jeweils in ihren Zusammenhang und an ihren Hintergrund anpasst und genau genommen in ihren Größenverhältnissen verfälscht. So scheint die gleiche Farbe vor einem dunklen Hintergrund heller auszusehen als vor einem hellen Hintergrund. »Farben sind nicht draußen in der Wirklichkeit. Sie sind nur im Phänomenalen Selbstmodell. Optische Illusionen belegen das.« (Helmut Schnitzspan) Siehe zahlreiche Beispiele bei Wikipedia. In den Zeichnungen von M.C. Escher wird das systematisch ausgenutzt.

Daher entspricht nicht einfach im Gehirn ein Gefühl oder ein Gedanke einem sinnlichen Reiz, sondern was wir fühlen und denken ist das Ergebnis eines Verarbeitungsprozesses, an dem unterschiedliche Regionen des Gehirns beteiligt sind und zusammen wirken. Die Hirnforschung kann inzwischen immer besser nachweisen, wie das geschieht. Offenbar gibt es zunächst in einzelnen Gebieten des Gehirns Oszillationen, die in einer Selbstorganisation synchronisiert werden und übergreifende Oszillationen ergeben, in denen eine höhere Kohärenz gebildet wird (Metzinger, S. 53). Kontextschleife: Wahrnehmungen werden überlagert. Es kommt zum Paradox einer Wahrnehmung der Wahrnehmung.

Das Auge macht »pro Sekunde etwa drei kleine Sprünge, sogenannte Sakkaden. Jedes Mal, wenn sie eine bestimmte Szene erfassen, entsteht ein innerer Kreislauf, ein Feedforward-Feedback-Zyklus, der sich auf das aktuelle Bild bezieht, und dieser Zyklus liefert uns das detaillierte bewusste Wahrnehmungsbild dieser Szene.« (Metzinger, S. 55f)

Transparenz des Bewusstseins Zugleich gibt es im Gehirn einen zweiten Prozess, der verhindert, dass wir diesen Vorgang bemerken. Der erste Prozess wird transparent (durchsichtig, unsichtbar) gemacht. Wir glauben, dass alles so ist, wie wir es wahrnehmen, und merken nicht, wie es in unserem Kopf zu einem veränderten Bild zusammengesetzt wurde. Es war eine Wende der Philosophie, als erstmals Kant mit der Einführung der transzendentalen Logik ein Konzept entwickelte, um das verstehen zu können. Der Anspruch der Neurowissenschaften geht wesentlich weiter, wenn im Gehirn die Prozesse nachgewiesen werden sollen, die das erklären. Von klaren Ergebnissen ist die Wissenschaft jedoch noch weit entfernt. Es ist unbekannt, wie es dem Gehirn gelingt, ein solches Bild der Welt aufzubauen, in dem dessen Zusammensetzung aus den unmittelbaren sinnlichen Reizen nicht mehr erkennbar ist. Es ist eine der schwierigsten Aufgaben, Prozesse dieser Art mit künstlicher Intelligenz bei Robotern nachzubilden. Diese bleiben auf der Stufe sinnlicher Reize stehen, und erst jetzt wird mithilfe neuronaler Netze versucht, analoge Vorgänge zu entwerfen und auf großen Rechnernetzen zu implementieren, wobei oft unklar bleibt, dank welcher Eigenschaften die neuronalen Netze im Einzelnen zu ihren Ergebnissen gelangen. Nur das Verfahren im Ganzen ist verstanden und kann auf Rechnern programmiert werden. Ergibt sich das möglicherweise einfach aus der Geometrie der Verknüpfung? Fragen dieser Art sollen in einem späteren Vortrag vertieft werden.

Das Phänomenale Selbstmodell Und noch mehr: Im Gehirn entsteht das Gefühl des Ich im Hier und Jetzt. Was auch immer geschieht: Wir sind überzeugt, dass es ein Ich gibt, das sich auf paradoxe Weise zugleich in der Welt und außerhalb der Welt befindet. Wir haben das Gefühl und die Sicherheit, dass alles von einer bestimmten Perspektive aus wahrgenommen werden kann. Wir wissen, dass sich diese Perspektive ihrerseits in der Welt befinden muss, die wir zugleich von außerhalb zu sehen glauben.

Das Selbstmodell enthält zentral eine Vorstellung über den eigenen Körper und seine Bewegungen in der Welt. Dies wird erstmals gewonnen, wenn sich ein Kind im Spiegel selbst erkennt. Metzinger nennt zahlreiche Beispiele, dass diese Selbst-Wahrnehmung, – das ist für ihn im engeren Sinn der Ego-Tunnel –, keineswegs selbstverständlich ist. Sie kann künstlich erweitert und manipuliert werden. Er ging von Out-of-Body-Erlebnissen aus. Wer das erlebt, hat das Gefühl, dass sich sein Geist von seinem Körper trennt und zum Beispiel wie ein Schlafwandler durch den Garten geht, während er weiß, dass der Körper sich nach wie vor im Zimmer aufhält. Es wird geschätzt, dass bis zu 20% aller Menschen solche Erfahrungen gemacht haben, und dass inzwischen die korrelierenden Prozesse im Gehirn so gut verstanden sind, dass Erfahrungen dieser Art künstlich provoziert werden können. Viele verbinden Erlebnisse dieser Art mit Nahtod-Erfahrungen.

Andere Beispiele sind die Phantom-Hand und der begleitende Roboter. Ein Mensch sitzt an einem Tisch und lässt einen Arm frei nach unten hängen, während der andere Arm vor ihm auf dem Tisch liegt. Wird nun ein Phantom-Arm auf dem Tisch neben dem eigenen Arm bewegt, entwickelt jeder Mensch das Gefühl, dass der Phantom-Arm zu seinem Körper gehört, obwohl er genau sieht und weiß, was geschieht. Andere Beispiele sind vom Sport bekannt, wenn ein regelmäßig trainierender Radfahrer oder Autofahrer das Gefühl entwickelt, das Fahrrad bzw. das Auto seien Teil seines eigenen Körpers. Wie weit lässt sich das steigern und ausbauen? Können Roboter entwickelt werden, die mich begleiten, aber über ein anderes Blickfeld verfügen, bis ich ihre Augen für eigene Augen halte und ihre Wahrnehmung in die eigene Wahrnehmung integriere? Kann das eigene Erleben auf solche Weise erweitert werden bis hin zu katastrophalen oder positiv überwältigenden Erlebnissen, sei es in virtuellen Räumen oder in entfernten Räumen, die dem eigenen Körper nicht zugänglich sind?

Umgekehrt macht jeder täglich mehrfach die Erfahrung, wie sein Selbstmodell infolge abschweifender Gedanken (wandernder Geist) oder von Tagträumen erschüttert wird, zusammenbricht und mühelos wieder re-integriert werden kann. Wer hört jetzt gerade weg und denkt an etwas anderes, vielleicht an eigene Erfahrungen, die mit dem Thema dieses Vortrags verbunden sind, und vermag dennoch seine Aufmerksamkeit wieder zurück zu lenken?

Ein weiteres Beispiel sind Luzide Träume: Ich werde mir im Traum des Träumens bewusst. Es wird vermutet, dass die Fähigkeit für luzide Träume verbunden ist mit der Synästhesie, das ist die Fähigkeit, Farben zu hören oder Töne als Farben wahrzunehmen. Alle diese Beispiele kommen bereits in die Nähe dessen, was klassisch mit religiösen und spirituellen Erfahrungen gemeint ist. Wenn es gelingt, sie besser zu verstehen, könnte es möglich werden, sie künstlich hervorzurufen und zu steuern. Diese Fähigkeit gilt häufig als Zeichen künstlerischer und kreativer Intelligenz und ist bei vielen Künstlern mit ungewöhnlichen Doppel- und Mehrfachbegabungen bekannt.

Das empathische Ego Wahrnehmung und Handlung sind nur schwer zu trennen. Bei allem, was ich wahrnehme, verbinde ich unmittelbar, wie ich mich in der wahrgenommenen Situation fühlen und wie ich in der Lage des Anderen handeln würde. (Metzinger, S. 246). Verständnis ist nur möglich durch Einfühlung und Nachahmung. Das ist inzwischen keine ethische oder philosophische Frage mehr, sondern es konnten kanonische Neuronen nachgewiesen werden, die bei Wahrnehmung von Handlungen so reagieren, als würden sie selbst diese Handlung ausführen. Zu ihnen gehören die 1992 entdeckten Spiegelneuronen, mit denen wir die anderen wahrnehmen und in unser Selbstbild integrieren.

Zusammenfassend bleibt zu erinnern, dass alle diese Vorgänge nicht einfach nebeneinander, nacheinander oder streng aufeinander aufbauend ablaufen, sondern sich wechselweise beeinflussen. Sie lassen sich zwar begrifflich voneinander trennen und haben ihren jeweils eigenen Schwerpunkt, aber sie sind dennoch  synchronisiert. Mithilfe der Hirnforschung kann identifiziert werden, welche Gehirnareale jeweils besonders intensiv aktiv sind. Zugleich hat das Gehirn die erstaunliche Fähigkeit, die Aufgaben anders zu verteilen, falls bestimmte Gehirnbereiche durch Krankheiten oder Beschädigung ausfallen (Plastizität des Gehirns).

Die Antwort der Hirnforschung auf die Frage Was glauben die Konfessionslosen lautet daher: Sie glauben nur und genau an das, für das sich neuronale Korrelaten nachweisen lassen oder in Zukunft mit besseren Methoden nachgewiesen werden können.

Neue Antworten der Philosophie auf die Frage der Religion (Husserl, Buber)

Während es für viele Vertreter der Hirnforschung nur eine Frage der Zeit ist, bis religiöse Gefühle und mit ihnen die Religion restlos durch wissenschaftliche Erkenntnisse aufgeklärt sein werden, vollzog sich in der Philosophie Anfang des 20. Jahrhunderts eine Wende, ausgehend von den offenen Fragen der neuen Naturwissenschaften ein völlig neues Verständnis der Religion zu finden, jenseits der überlieferten religiösen Glaubensrichtungen und ihrer Institutionen, aber auch jenseits einer an bloßen Fakten und Experimenten orientierten Wissenschaft wie der Hirnforschung.

– Phänomenologie nach Husserl

Der Philosoph Edmund Husserl (1859-1938) lehrte vor seinem Wechsel nach Freiburg 1901-1916 in Göttingen und erlebte dort hautnah den Umbruch der modernen Naturwissenschaft mit. In dieser Zeit machte er 1909-1911 eine tiefe Krise durch, die ihn zu völlig neuen Ideen führte. Er war bekannt mit dem Mathematiker David Hilbert, und führende Vertreter der neuen Naturwissenschaft wie z.B. Hermann Weyl hörten seine Vorlesungen. Husserl war gebürtiger Jude und hatte sich 1887 im Alter von 27 Jahren evangelisch taufen lassen. (Anmerkung: Wer mehr über diese Zeit in Göttingen wissen möchte, dem sei von Thomas Pynchon der Roman Gegen den Tag empfohlen.)

Husserl erlebte, wie den Mathematikern und Physikern ihre klassischen, »natürlichen« Objekte abhanden kamen. Seit den 1905 veröffentlichten bahnbrechenden Arbeiten von Einstein musste auf neue Weise definiert werden, was ein physikalisches Objekt ist. Photonen und Raumkrümmung entziehen sich der natürlichen Anschauung. Wer versucht, sich anschaulich vorzustellen, was sie sind, wird prinzipiell nicht das treffen, was die Theorie mit ihnen meint. Dennoch sind sie die Objekte der modernen Physik. Ein physikalisches Objekt ist nicht mehr einfach das, was zu sehen ist, experimentell untersucht und gemessen werden kann, wie z.B. ein Stein, ein Apfel, eine Kanonenkugel oder die mit bloßem Auge sichtbaren Objekte am Himmel, sondern ein physikalisches Objekt ist innerhalb einer physikalischen Theorie ein gedankliches Konstrukt, auf das sich die Aussagen der Theorie beziehen. Auf ähnliche Weise suchte Husserl nach einer Methode, Gefühle und Gedanken als abstrakte Objekte in ihrem eigenen Bewegungsraum anzusehen.

Husserl erkannte, dass die Wende der Physik elementare Auswirkungen auf das Denken haben muss. Bisher war davon ausgegangen worden, dass sich Gedanken auf Inhalte oder Bilder beziehen, die vergleichbar den physischen Objekten wie Stein, Apfel oder Sterne bzw. aus ihnen mittels Phantasie zusammengesetzter Vorstellungen wie Einhörner oder Centauren beziehen. Eine Ausnahme war nur der Gedanke an Gott oder an das Absolute, der daher gegenüber dem sonstigen Denken eine einzigartige Sonderstellung bekam. Mit der neuen Physik wurde es dagegen notwendig, völlig neue Gedanken über solche Gegenstände zu entwickeln, die sich der Anschauung entziehen. Einstein führte systematisch Gedankenexperimente ein. Welche Fähigkeit zeigt sich, wenn ich in Gedanken Experimente ausführen kann, und kann ich dann auch umgekehrt Gedankenexperimente ausdenken, mit denen andere Arten zu denken ausprobiert und bewertet werden? Mit einem Wort: Übersteigen die Anforderungen der modernen Naturwissenschaft die Möglichkeiten des Denkens? Müssen auf eine logisch nachvollziehbare Weise Denkweisen in das Denken aufgenommen werden, die bisher der Theologie vorbehalten waren, und welche Stellung bleibt dann in diesem neuen Horizont des Denkens den Gedanken an Gott oder noch allgemeiner gesagt an das Religiöse?

Um Fragen dieser Art zu beantworten, hat Husserl in seinen Göttinger Vorlesungen eine phänomenologische Reduktion entwickelt und vorgetragen, mit der schrittweise von allen klassischen Inhalten des Denkens und Fühlens abgesehen wird und sie in reiner Form betrachtet werden. Statt von den natürlichen Gedanken etwa an den Abendstern oder eine geliebte Person auszugehen und wie in der üblichen Psychologie zu fragen, wie solche Gedanken entstehen, welches Verhalten sie hervorrufen, ob sie sich gegenseitig blockieren usf., entwickelte er ein abstraktes gedankliches Konstrukt, was ein »reiner Gedanke« sein soll. Ohne auf die damit verbundenen Paradoxien einzugehen, wenn vom »Gedanken eines Gedankens« gesprochen wird, die formal den kosmologischen Paradoxien eines Raums, in dem der Raum dargestellt werden soll, oder den Paradoxien der Mengenlehre und Logik ähnelt, geht es mir in diesem Zusammenhang um seinen letzten Schritt, mit dem er konsequenterweise auch »die Transzendenz Gottes ausgeschaltet« hat (Husserl, S. 124).

Das war der entscheidende Schritt, um gegenüber der Religion ein neues Verhältnis zu finden. Die Religion oder genauer die »Transzendenz Gottes« wurde allen anderen Inhalten des Denkens und Fühlens gleichgestellt. Husserl fragte nach dem Bewegungsraum eines Denkens, in dem die unterschiedlichen Gedanken dargestellt werden können, und Gedanken wie das Absolute, Gott oder die Transzendenz sind für ihn nichts weiter als alle anderen Gedanken, denen sie gleichgestellt sind.

Was lässt sich über das Denken aussagen, wenn in dieser radikalen Weise von allen Inhalten abstrahiert wird? Welche Eigenschaften hat das Denken unabhängig von den Inhalten, an die gedacht wird? Als wichtigsten Begriff übernahm Husserl von dem Philosophen und Psychologen Franz Brentano (1838-1917) die Intentionalität. Für alle Gedanken gilt, dass sie auf etwas bezogen sein müssen, das mit ihnen intendiert wird. Im einfachsten Fall beziehen sie sich auf einen Gegenstand oder ein Lebewesen, an das mit diesem Gedanken gedacht wird. Es kann aber auch sein, dass mit Gedanken an eine noch ungelöste Aufgabe gedacht wird, die noch nicht in Worte gefasst, sondern nur umschrieben werden kann. Als allgemeinsten Begriff für dasjenige, woran in Gedanken Bezug genommen wird, wählte Husserl den Begriff ‘Phänomen’ und nannte die von ihm gegründete philosophische Richtung ‘Phänomenologie’. Das gilt auch selbstbezüglich: Das Denken und die mit ihm verbundenen Fragen sind ein Phänomen, das untersucht werden kann. Und so gelten seither auch die Spiritualität und die Religion als natürliche Phänomene, über die wie über alles andere nachgedacht werden kann. Es wird sich zeigen, dass Religion und Spiritualität innerhalb des Denkens über das Denken wiederkehren: Religiosität und Spiritualität werden sich als Weisen des Denkens zeigen. Sehr einfach gesagt steht Spiritualität für ein frei fließendes und alle Grenzen überschreitendes Denken und Religion für ein Denken, das sich auf den Dialog mit einem Anderen einzustellen vermag, der oder die als völlig gleichberechtigt und autonom anerkannt wird, wie es historisch aus dem offenen Gespräch, dem Gebet oder der Offenbarung überliefert ist. Hier liegt für mich der Bezugspunkt zu Martin Buber.

– Die Religionsphilosophie von Martin Buber

Bereits wenige Jahre vor Husserl hatten der Ökonom Max Weber (1864-1920) und der Philosoph Georg Simmel (1858-1918) die Religionssoziologie entwickelt und systematisch zwischen Religiosität und Religion unterschieden: Jemand kann religiös sein ohne einer der überlieferten Religionsgemeinschaften anzugehören und an deren Religion zu glauben. Sie standen untereinander in engem Austausch. Zu Webers und Simmels Schülern zählten Georg Lukacs und Ernst Bloch, Max Scheler, Karl Mannheim, José Ortega y Gasset und Martin Buber (1878-1965), der 1905-1909 keine von Simmels Vorlesungen ausließ.

Bei Buber sehe ich einen vergleichbaren Ansatz für ein neues, abstraktes Verständnis der Religion wie bei Husserl und Simmel. Er geht sogar von den gleichen Beispielen wie Husserl aus: Was geschieht, wenn ich einem Baum gegenüber stehe und ihn auf mich wirken lasse? Welche Schönheit und welche Kraft sehe ich in ihm, welche lebendige Beziehung kann sich zwischen dem betrachteten Gegenstand und den Betrachter entwickeln? Wie spricht er mich an und welche Gedanken und Gefühle löst er aus? Das ist die gleiche Ebene, die auch Husserl meinte, und auf dieser Ebene trifft Buber in größter Allgemeinheit die Unterscheidung von Du-Denken und Es-Denken. Ein Gegenstand kann wie ein lebloses Ding (in der Sprache von Buber wie ein Es), oder wie ein Wesen verstanden werden, mit dem ein lebendiger Austausch erfolgt, ein Du.

Wird mit Buber auf diese Weise das Religiöse gesucht, dann wird offensichtlich von allen überlieferten sonstigen religiösen Inhalten abgesehen. Buber sucht in seinem Werk Ich und Du die Religion nicht in der Kirche und ihren Veranstaltungen und Texten, sondern gewissermaßen im Sinne der Weisheit Salomos »auf der Straße« (Sprüche Salomos, Vers 1, 20). (Später hat er mit der Bibelübersetzung diese Haltung möglicherweise wieder relativiert.)

Was geschieht im Denken und Glauben, wenn ich von allen konkreten jeweiligen Inhalten absehe? Für Buber bleibt übrig eine Beziehung des Ich zum Es oder des Ich zum Du. Er hat damit eine Ebene getroffen, auf der sich sowohl die Gläubigen unterschiedlichster Konfessionen verstanden fühlen wie auch Konfessionslose dasjenige an der Religion erkennen können, was für sie nach dem Austritt aus ihrer jeweiligen Kirche bestehen bleibt. Buber selbst hat das in gewisser vorgelebt, als er zwar ein religiöser Denker war, der jedoch nicht am kirchlichen Leben in den Synagogen teilnahm und die Vorschriften des Judentums kritisierte und nicht befolgte.

Anders als Husserl hält Buber aber etwas Besonderes fest, das ihm an der Religion wichtig ist, das Du-Denken. Er scheint mir daher die nötige Perspektive zu öffnen, um im Weiteren Schlussfolgerungen aus der Hirnforschung kritisch zu betrachten, wenn sie einseitig die Religion zugunsten der Spiritualität aufgeben wollen. Er bezieht den von Metzinger als neuen Wert eingeführten Begriff der Redlichkeit zurück auf die Fähigkeit, mit einem Du in eine wechselseitige Rede eintreten zu können (siehe Buber zu meditativer Versenkung und zur Redlichkeit, Ich und Du, S. 89, 98).

– Schichtenmodell des Denkens

Entsprechend diesen Überlegungen kann für das menschliche Denken ein Schichten-Modell entworfen werden, das den Schichten für die Wahrnehmung entspricht und innerhalb dessen Religion und Spiritualität ihren Platz finden. Werden Gefühle und Gedanken wie naturwissenschaftliche Objekte betrachtet, dann lässt sich eine Analogie bilden: Wie bei den äußeren Eindrücken die Schichten der sinnlichen Reize, ihrer Vorverarbeitung, Wahrnehmung und den daraus gebildeten Vorstellungen unterschieden werden, gibt es auch für die innere Wahrnehmung des Bewusstseins verschiedene Schichten. Dort wird verständlich, was mit Religion und Spiritualität gemeint ist, und wie sie wissenschaftlich untersucht werden können.

(1)     Den ständig auf uns eindringenden sinnlichen Reizen entspricht der kontinuierliche Strom von Gefühlen und Gedanken. Noch bevor daraus einzelne Gefühle und Gedanken in unser Bewusstsein treten, umfasst das eine unendliche Schicht von Tagträumen, Ängsten und Hoffnungen, die von innen kommen und den Menschen kontinuierlich begleiten. Sie bilden den Bewusstseinsstrom. Ein großer Teil wird davon sofort wieder ausgefiltert und bleibt unbewusst. Kaum jemand macht sich klar, wie oft und wie viele solche Gedanken nebenher mitlaufen. Heute ist das Verständnis dieser ersten Schicht dank Psychologie und Werbung, die das systematisch auszunutzen versucht, jedem vertraut. Wie sehr Husserl ein Zeitgefühl getroffen hat, zeigt der 1922 erschienene Roman Ulysses von James Joyce, in dem alle Facetten des vorbewußten Denkens dargestellt sind.

(2)     Aus diesem Meer von vor- und halbbewussten Ideen, Wünschen und Assoziationen entstehen die Gedanken, die wir bewusst denken, aussprechen und aufschreiben. Die Philosophie hatte sich in der Vergangenheit nur mit ihnen beschäftigt und ihre Logik untersucht. Husserl erweiterte dagegen das Feld der Logik. Den Urteilen in Aussageform wie ›S ist p‹ (ein Gegenstand, Satzsubjekt S hat die Eigenschaft, das Prädikat P) gehen prä-prädikative Urteile voran, aus denen sich diese Urteile ergeben: Tagträumereien, Phantasien, vage Ideen, halbfertige Gedanken, Wünsche und Befürchtungen.

(3)     Und so wie aus der naiven Wahrnehmung eine kritische Einstellung hervorgeht, mit der geprüft wird, ob es sich um Täuschungen, Verblendungen oder Irrtümer handelt, kann im Bewusstseinsstrom ein  Innehalten  erfolgen, um in Gedanken zu prüfen, was im Denken geschieht. Ist das Denken manipulierenden Einflüssen ausgesetzt, von Vorurteilen belastet und enthält es Lügen und Heuchelei? Ist jeder für sich selbst noch in der Lage zu unterscheiden, was er wirklich denkt und was er nach außen zu denken vorgibt?

(4)     Wenn ein solcher Zustand der Selbstprüfung und der inneren Zwiesprache mit sich selbst erreicht ist, kann übergreifend gefragt werden, ob es bestimmte Eigenschaften des Denkens gibt, dank derer es frei fließen und sich offen entfalten kann oder in irgendeiner Weise blockiert ist. Gibt es Eigenschaften des Denkens, die es unbequem oder erhebend, grüblerisch oder öffnend machen? Solche Symptome werden z.B. von der Stressforschung untersucht. Metzinger ist überzeugt, dass heute die meisten Menschen auf dieser Ebene nach Antworten und Glück suchen. »Was wir wollen, ist vielmehr Wachheit, Konzentration, emotionale Stabilität, Ausstrahlung, alles, was zu beruflichem Erfolg führt und den Stress lindert.« (Metzinger, S. 331f) Das Ideal ist die Erfahrung eines  Flow, der das Denken sicher und mit innerer Freiheit zu neuen Ufern führt und im Innern des Denkens klar, überschaubar und nachvollziehbar bleibt.

(5)     Wird auf einer weiteren Ebene gefragt, unter welchen Bedingungen solch ein Zustand erreicht und aufrecht erhalten werden kann, dann stellt sich die Frage nach Religion und Spiritualität. Von ihnen wird erwartet, dass sie dem Denken die gewünschte Qualität verleihen und den Menschen in eine ausgeglichene Balance von Körper und Geist, von Selbst und Anderen versetzen. – Gibt es auf dieser höchsten Ebene eine übergreifende Logik? So wie Leibniz nach den Kleinen Perzeptionen gefragt hat, die im Bereich der prä-prädikativen Logik liegen, kann seine Monadologie als Logik der höchsten Stufe verstanden werden. Diese ließe sich möglicherweise nur poetisch zeigen, etwa in der Art von Gedichten wie von Mallarmé. Sie enthielte über die Syntax hinaus eine Eigenorganisation der Worte. Die Worte bilden für sich eine eigene Sprache, die der von Leibniz gemeinten Universalsprache entspricht. Gedichte und andere literarische Texte werden in diesem Sinn ausschließlich aufgrund einer solchen Eigenorganisation, ihrer formalen Struktur, aus sich heraus verstanden und nicht aus biographischen, historischen Hintergründen oder ihrer sinnlichen Wirkung.

Auf dieser Ebene sind Religion und Spiritualität zu bestimmen und zu unterscheiden. Mithilfe der Hirnforschung kann rein empirisch erkannt werden, dass es sich zunächst offenbar um zwei voneinander zu unterscheidende Arten der Hirnaktivität handelt, die mit jeweils unterschiedlichen Fähigkeiten verbunden sind. Religion ist mit Buber im weitesten Sinn zu verstehen als die Fähigkeit zu jemand anderem eine Du-Beziehung aufbauen zu können. Spiritualität ist das Erleben einer Entgrenzung. Oft wird der Impuls nicht über eine geistige Erfahrung (etwa das Lesen eines Textes oder Hören einer Andacht) gesucht, sondern über körperliche Erfahrungen, eine Praxis der Meditation oder Bewegung (Tanz, Musizieren, Flow, ...). »Es geht nicht um Wahrheit im Sinne der richtigen Theorie, sondern um eine bestimmte Praxis, eben eine spirituelle Praxis.« (Metzinger, S. 382)

Und an dieser Stelle unterscheiden sich unter den Konfessionslosen verschiedene Wege. Die einen wollen nichts anderes gelten lassen als was sich mit der Hirnforschung oder anderen empirischen Methoden nachweisen lässt. Die anderen betonen, dass sie mit der genannten höchsten Ebene im Innern etwas wahrnehmen und spüren, das sich jeder Sprache entzieht. Dieser Gesichtspunkt wurde von den Nachfolgern von Husserl und Buber weiter ausgeführt. Martin Heidegger (1889-1976) sprach von der existenziellen Erschütterung, Emmanuel Levinas (1905-1995) von »Verwundbarkeit, Ausgesetztsein der Beleidigung, der Verletzung – Passivität, die passiver ist als jede Geduld, Passivität des Akkusativs, des Anklagefalls, Trauma einer Anklage, unter der eine Geisel bis hin zur Verfolgung zu leiden hat, Infragestellung der Identität der Geisel« (Levinas, S. 50). Das umreißt den Horizont, in dem der Glaube der Konfessionslosen zu verstehen ist, und es wäre Thema eines weiteren Treffens, die Unterschiede von Husserl, Heidegger, Buber, Levinas und Metzinger näher auszuführen.

Literatur

Susan Blackmore: Die Macht der Meme oder Die Evolution von Kultur und Geist, Heidelberg u.a. 2000 [1999]

Susan Blackmore: Why I no longer believe religion is a virus of the mind
in: Guardian vom 16.9.2010; Link

Michael Blume: Wohnt Gott im Gehirn? Zur Evolution der Religiosität
in: Markus, P. (Hrsg.) 2011: Evolution neu denken. Darwins Theorien im wissenschaftlich-gesellschaftlichen Diskurs. IKuG Westfalen 2011, S. 125 - 140; Link

Martin Buber: Ich und Du, Stuttgart 1995 [1923]

Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Heidelberg u.a. 1978 [1976]

Thomas Fuchs: Wege aus dem Ego-Tunnel
in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2015, Heft 63(5), S. 801-823; Link

Johannes Haag: Erfahrung und Gegenstand, Frankfurt 2007

Philipp Hummel: fMRT-Messungen massenweise fragwürdig
in: Spektrum der Wissenschaft, 5.7.2016; Link

Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Hamburg 2009 [1913]

Editors of Journal of Consciousness Studies: The Future of Consciousness Studies
in: Journal of Consciousness Studies, 4, No. 5-6, 1997, S. 385-388; Link

Claudia Keller: Den Kirchen fehlt der Nachwuchs,
in: Tagesspiegel vom 23.12.2013; Link

Monika Konigorski: Hirnforscher und Theologen auf der Suche nach Gott
in: Deutschlandfunk, 6.4.2015; Link

Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1998 [1978]

Georg May: Priestermangel; Link

Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel, München 2014 (2. erweiterte Auflage)

perlentaucher: Bücher über Hirnforschung; Link

Pew Research Center: The Future of World Religions: Population Growth Projections, 2010-2050, veröffentlicht April 2015; Link

Ulrich Schnabel: Unterm Mystikhelm
in: ZEIT vom 15.7.2010; Link

Helmut Schnitzspan: Thomas Metzinger, der EGO-Tunnel, Referat, Darmstadt 2015

Spektrum Glaube und Wissenschaft

Jean Twenge u.a.: Declines in American Adults' Religious Participation and Beliefs, 1972-2014
in: sage journal vom 23.3.2016; Link
siehe hierzu: Florian Rötzer: In God's own Country schwindet der Glauben, in: Telepolis vom 24.3.2016

 


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