Walter Tydecks

 

Quantum und Lotus von Matthieu Ricard und Trinh Xuan Thuan

Beitrag für das Philosophische Colloquium der Akademie 55plus Darmstadt am 13.5.2019, überarbeitete Version

Matthieu Ricard (* 1946) und Trinh Xuan Thuan (* 1948) hatten sich 1997 bei einer Sommeruniversität in Andorra kennen gelernt. Aus ihren Gesprächen ging das Buch Quantum und Lotus hervor, das im Jahr 2000 erschienen ist und 2008 ins Deutsche übersetzt wurde (im Folgenden zitiert als QuL). Thuan ist Astrophysiker mit Schwerpunkt auf der Erforschung von Galaxien und hat 2002 in München am Wissenschaftskongress Unity in Duality - Einheit in der Dualität gemeinsam mit acht Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus den Bereichen Astronomie, Physik, Chemie, Medizin sowie Psychologie und dem Dalai Lama teilgenommen (darunter Maturana, Sheldrake, u.a.).

Von Vietnam über die Schweiz an das California Institute of Technology gekommen, erlebte er in den 1960ern das »goldene Zeitalter der Astrophysik« mit Entdeckung der Hintergrundstrahlung und der Quasare sowie der Satellitenflüge zu den Planeten (QuL, 16). Heute ist kaum mehr vorstellbar, wie radikal sich die Astrophysik in diesem Jahrzehnt geändert hat. Wer ein Lehrbuch aus den 1950ern liest, wird kaum glauben, dass es sich noch um die gleiche Wissenschaft handelt (das gilt ähnlich auch für einige andere Wissenschaften). Allerdings wurde Thuans naive Erwartung enttäuscht, dass kreative Wissenschaftler zugleich auch »höher entwickelte menschliche Wesen« sind (QuL, 18). Ricard hat offenbar ähnliche Erfahrungen gemacht, formuliert es aber diplomatischer: Er hatte zwar das »Glück, jahrelang mit außergewöhnlichen Menschen zusammenzuleben«, aber er entschied sich nach der Maxime »jeder von uns sollte sich, ohne zu zögern, dem widmen, was ihn im Leben wirklich begeistert« für den Buddhismus (QuL, 17).

Mir sind drei Beispielen wichtig, an denen die Ganzheitlichkeit des Kosmos diskutiert wird. Sie zeigen sowohl inhaltliche Übereinstimmungen zwischen der modernen Astrophysik und dem Buddhismus wie auch bedeutende Unterschiede.

Das anthropische Prinzip und das Karma: Die wesentliche Kontroverse zwischen Buddhismus und Wissenschaft liegt im unterschiedlichen Verständnis von Subjekt und Objekt. Für den Buddhismus sind Universum und Bewusstsein nicht getrennt (QuL, 56). Während Thuan das schöpferische und das anthropische Prinzip vertritt, ohne die es für ihn keinen uns erkennbaren Kosmos geben könnte und die faszinierende Genauigkeit der Naturkonstanten unbegreiflich bliebe, werden Prinzipien dieser Art von Ricard abgelehnt. Das anthropische Prinzip versucht die Frage zu beantworten, warum die Naturkonstanten wie die Elementarladung eines Elektrons, die Gravitationskonstante, die Feinstrukturkonstante, die Lichtgeschwindigkeit oder das Plancksche Wirkungsquantum zwar äußerst genau gemessen, aber ihr konkret gemessener Wert wissenschaftlich nicht begründet werden kann, sondern als gegeben hingenommen werden muss. Würden sie auch nur geringfügig von den uns bekannten Werten abweichen oder sich im Verlaufe der Geschichte des Kosmos ändern, wäre auf der Erde kein Leben in der Weise möglich, wie wir es kennen.

Für Ricard ist dagegen auch das anthropische Prinzip nur ein Beispiel, »dass sie immer ein Element vor das andere stellen« (QuL, 68). Erst soll erklärt werden, wie vor der Entstehung des Menschen und seines Bewusstseins der Kosmos so eingerichtet wurde, dass Bewusstsein möglich wird, und dann kommt zeitlich und logisch danach das Bewusstsein. Für ihn befinden sich dagegen das Bewusstsein und der Kosmos von Anfang an in Übereinklang. Es gibt für ihn daher auch keinen Urknall, der dem Bewusstsein vorausgeht. Schon im Urknall befinden sich der Kosmos und das im Kosmos entstehende Bewusstsein in gegenseitiger Abhängigkeit. Diese Position klingt auf den ersten Blick abwegig und spirituell. Etwas klarer wird das möglicherweise mit einer Ausführung des Dalai Lama. Er möchte die Frage beantworten, in welchem Verhältnis die in der Naturwissenschaft bekannte deterministische Kausalität und das vom Buddhismus vertretene Karma (Wirkung, Prägung, Same) stehen. Ich verstehe ihn so: Er vergleicht die Entwicklung des Kosmos bis zum Menschen mit der Entwicklung von einem Samenkorn bis zum Baum. Im Samenkorn ist bereits die Richtung angelegt, dass es sich zu einem Baum entwickeln wird (Entelechie). Ähnlich verhält es sich beim Kosmos. Die Geschichte des Kosmos vom Urknall bis zum Menschen mit seinem Bewusstsein ist nicht einfach ein zeitlicher Ablauf, in dem der Mensch erst auf einer historisch späten Stufe auftritt, sondern diese Geschichte ist die Reifung des Bewusstseins, das von Anfang an als Keim angelegt ist. Der Kosmos und das Bewusstsein lassen sich nur einheitlich als der gesamte Entwicklungsweg verstehen, in dem sie aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig bedingen.

»Schwieriger ist es natürlich, den allerersten Einfluss des Karma zu verstehen. Dieser beruht auf der Reifung des karmischen Potentials fühlender Wesen, die sich in einem Universum entwickeln werden, das sein Entstehen eben dieser Reifung verdankt. [...] Wenn wir der Ansicht sind, dass in einem anderen Universum andere Naturgesetze wirksam sein können, dann liegt, aus buddhistischer Sicht, der Schluss nahe, dass selbst die Naturgesetze mit dem Karma der Wesen verknüpft sind, die sich in diesem Universum entwickeln.« (Dalai Lama, 110f)

Foucault'sches Pendel: 1851 wurde in Paris beobachtet, wie das Foucault'sche Pendel seine Schwingungsebene ändert. Diese Änderung erfolgt äußerst langsam und ist im gewöhnlichen Alltag nicht wahrnehmbar. Niemand sieht, wie sich an einer Pendeluhr die Schwingungsebene des Pendels ändert. Um das nachzuweisen, waren außergewöhnliche Bedingungen notwendig (ein sehr schweres Pendel in einem hohen Raum und präzise Messungen des Pendels an einer Unterlage, die zugleich die Pendelbewegung nur möglichst geringfügig stört). Das Ergebnis wird erklärt als Nachweis der Erdrotation, die sich unter dem Pendel fortbewegt. Anschaulich gesprochen: Wenn ich senkrecht in die Luft springe, komme ich nicht mehr an der gleichen Stelle wieder auf, an der ich gesprungen bin, da sich die Erde inzwischen weitergedreht hat. Gewöhnlich wird die Erdrotation mit der Kant'schen Nebularhypothese erklärt. (Das Planetensystem ist in einer rotierenden Urwolke entstanden, und die Erdrotation ist eine Turbulenz in der Wolke, die bis heute andauert.) Ohne diese Hypothese zu erwähnen argumentiert Thuan grundsätzlicher. Bevor eine Erklärung gesucht wird, muss die Bewegung als solche überhaupt wahrnehmbar sein. Es muss einen relativ zu ihr ruhenden Hintergrund geben, »denn eine Bewegung kann immer nur in Bezug auf einen Fixpunkt beschrieben werden« (QuL, 103). Das ist die Materie der weit entfernten Galaxien. Ähnlich hatte bereits Aristoteles argumentiert, wenn wir für ihn alle astronomisch beobachtbaren Bewegungen nur möglich sind vor einer relativ zu ihnen ruhenden äußeren Sphäre. Während Aristoteles davon ausging, dass diese äußere Sphäre kein physisches Objekt sein kann, das aus Materie besteht und dem Werden und Entstehen unterliegt, – denn dann müsste ihre Bewegung wiederum vor einem ruhenden Hintergrund erfolgen –, spricht Thuan von der »Allgegenwärtigkeit der Materie« (QuL, 103) und bezieht sich auf Einstein und das Mach'sches Prinzip. Keine der bekannten vier Grundkräfte kann das erklären (QuL, 104).

»Mach hat diese mysteriöse universelle Kraft, die sich von der Schwerkraft unterscheidet, niemals detailliert beschrieben.« Es handelt sich für ihn um »eine Interaktion, bei der keine Kräfte wirksam sind und es zu keinem Energieaustausch kommt, die aber das ganze Universum miteinander verbindet.« (QuL, 104f)

Leider wird das nicht weiter ausgeführt. Für mich deutet dieser Ansatz auf das Raumverständnis von Leibniz, auf den sich Einstein bezieht. Der Raum ist nur zu verstehen als die Wechselbeziehung der im Raum verteilten Massen. Diese Wechselbeziehung kann nicht mehr mit den üblichen Kräften, sondern nur mit einem im Raum wirkenden Prinzip erklärt werden (für Leibniz das Harmonie-Prinzip, das ist seine Verallgemeinerung des Prinzips der geringsten Wirkung). Darauf geht Thuan jedoch nicht ein. Er sagt nur: Für ihn könnte das eine Bestätigung sein, was mit Bedingtem Entstehen gemeint ist.

Ricard argumentiert dagegen nochmals grundsätzlicher und hat Zweifel, ob Thuan ihn richtig versteht, wenn er fortlaufend auf materielle Beispiele und Dinge und deren Verhalten verweist, um mit ihnen das Bedingte Entstehen zu erklären. Für ihn können Beispiele wie diese »nur eine von vielen Informationen [sein], die höchstens als intellektuell inspirierend betrachtet wird« (QuL, 105). Für ihn ist das Bedingte Entstehen nur zu verstehen, wenn mit ihm die »Mauern der Illusion« eingerissen werden, »die unser Geist zwischen dem 'Ich' und dem 'Anderen' errichtet hat« und »Regungen wie Hochmut, Neid, Gier und Böswilligkeit« überwindet (QuL, 106). Das muss jeder physikalischen Betrachtung vorausgehen.

Quantenverschränkung, Photon: 1982 konnte der französischen Physiker Alain Aspect (* 1947) an verschränkten Photonen experimentell nachweisen, dass es in der Quantenphysik Prozesse gibt, die nicht dem Modell des Glücksspiels und seinen Wahrscheinlichkeitsregeln entsprechen, auf denen bis heute die Quantenmechanik gegründet ist. Um zu verstehen, was er entdeckt hat, kann ein einfaches Gedankenexperiment helfen: Wenn 6 Spieler würfeln, ist es reiner Zufall, wer von ihnen eine 1 würfelt. Bei Quantenverschränkung gilt zusätzlich: Wenn eine 1 gewürfelt wird, ist damit entschieden, dass kein anderer Spieler ebenfalls die 1 würfelt. Jeder Spieler würfelt eine andere Zahl.

Woher wissen die Spieler voneinander? Wie wird sichergestellt, dass keine Zahl mehrfach gewürfelt wird? Die Würfel fallen gleichzeitig, und daher ist ausgeschlossen, dass es ein Signal gibt, mit dem einer dem anderen mitteilt, was er gewürfelt hat. Es kann auch kein dritter Beobachter im Spiel sein, der alles von außen überschaut und den anderen mitteilt, was der erste getan hat. »In diesen Experimenten wird nämlich keinerlei Information weitergegeben. Ein Photon ist unmittelbar mit seinem Partner verbunden.« (QuL, 211) Daher gilt nicht die Grenze, dass Information nur mit Lichtgeschwindigkeit ausgetauscht werden kann, und für Thuan handelt es sich nicht um ein Beispiel von »Fernwirkung« (QuL, 213), sondern um ein anderes, bisher unbekanntes Prinzip.

Das hat auf eine noch unbekannte Weise mit der besonderen Natur des Lichts zu tun. Solange es nicht gemessen wird, breitet sich das Photon (das Lichtteilchen) wellenförmig aus, bis es »überall im Raum ist« (QuL, 97). Aber es kann nur die Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden, wo es sich aktuell aufhält. Einstein hatte Zweifel, ob es wirklich am Einfluss der Beobachter in ihren physikalischen Experimenten liegt, wodurch die ungewöhnlichen Eigenschaften der Wahrscheinlichkeitsaussagen der Quantenphysik entstehen. Die Quantenverschränkung gibt ihm recht, da hier der Einfluss des Beobachters ausgeschlossen ist, auch wenn Einstein diese Art von Experimenten nicht vorhergesehen hat und offen bleiben muss, wie er auf sie reagiert hätte.

An dieser Stelle gehen die Wege von Thuan und Ricard auseinander. Thuan versucht physikalisch zu verstehen, was bei der Quantenverschränkung und dem Foucault'schen Pendel geschieht. Für Ricard sind diese Beispiele eine Bestätigung, sich von der üblichen Vorgehensweise der Physik zu trennen und in der Untersuchung eines Bewusstseins, das Subjekt und Objekt übergreift, eine höhere Ebene zu finden.

Ricard beruft sich auf den französischen Physiker und Wissenschaftsphilosophen Bernard d'Espagnat (1921-2015), für den die Nichtseparabilität der Quantenverschränkung auf eine »autonome Realität« verweist, die »sich allen Denkkategorien, die wir entwickeln können« entzieht (QuL, 163). Für Ricard hat sich der Buddhismus auf ähnliche Weise mit der Annahme eines »realen Substrat, das aus sich selbst heraus hinter dem Schleier unserer Wahrnehmung existiert« beschäftigt, und er ergänzt: »Der Buddhismus geht davon aus, dass unser begriffliches Denken die Realität nicht erfassen kann. Die Tatsache, dass diese zwar existiert, aber gleichzeitig keine Eigenexistenz hat, kann von unserem Intellekt nicht verdaut werden.« (QuL, 163) Ricard: »Die Texte (des Buddhismus, t.) jedenfalls sagen, dass nur ein allwissendes Wesen (wobei man Allwissenheit verstehen könnte als die vollkommene Erkenntnis der Ganzheitlichkeit der Welt) alle Ursachen und Bedingungen kennen kann.« (QuL, 228f)

Der Buddhismus kann die Ansichten von Emergenz und Selbstorganisation teilen. Es war nicht zuletzt der mit dem Dalai Lama eng verbundene Biologe, Philosoph und Neurowissenschaftler Francisco Varela (1946-2001), der diese Ideen maßgeblich begründet und entwickelt hatte. Wichtig ist für Ricard, die Emergenz in beiden Richtungen zu verstehen: Aus der Emergenz geht etwas Höheres hervor, und dieses vermag wiederum rückwirkend die körperliche Ebene zu beeinflussen, aus der es entstanden ist. (Spencer-Brown entwarf eine Logik, mit der das zu denken ist, und sprach vom Re-entry. Spencer-Brown war in seinen späten Jahren ein überzeugter Buddhist und konnte sogar Ort und Datum nennen, an dem er eine erste buddhistische Erleuchtung erlebt hat.) Der Raum, in dem die Emergenz entsteht und zurückwirkt, ist für Ricard die tiefere und verborgene Einheit, in der Subjekt und Objekt, Sein und Bewusstsein, Geist und Körper übereinstimmen. Diese Einheit ist für einen Buddhisten nur auf dem Weg der Meditation und nicht des experimentellen Forschens und der Erkenntnisse im Verlaufe der wissenschaftlichen Arbeit zu erfahren.

Mathematik und Schönheit Da ist Thuan anderer Meinung. Für ihn kann ein Naturwissenschaftler ein eigenes Reich der Mathematik erleben, das sich durch »Zielsicherheit, Schnelligkeit und Unerwartetheit« auszeichnet. Wenn es das gäbe, müsste es für Ricard auch ein eigenes Reich der Poesie geben, in dem z.B. Baudelaire seine Gedichte erfindet. Für ihn kann es ein solches Reich nicht geben, weil es sich der wechselseitigen Bedingung entziehen würde (QuL, 326).

Thuan beruft sich auf seine eigenen Erfahrungen als Wissenschaftler. Für ihn gibt es eine eigene Meta-Ebene, die sich nicht anders als mit dem Begriff der Schönheit fassen lässt und die für Thuan jeder Wissenschaftler in seiner Arbeit erlebt. Ihm scheint der Begriff der Schönheit weit besser zu treffen, was in der Forschung geschieht als die Ausführungen des Buddhismus über das sehr subtile Bewusstsein jenseits der Unterscheidung von Subjekt und Objekt.

»Die Relativitätstheorie Einsteins zum Beispiel hat diesen vollkommenen Charakter: Sie ist so perfekt wie eine Bach'sche Fuge. Man könnte an ihr nicht einen Strich ändern, ohne dass alles in sich zusammenfiele.« (QuL, 378)

Als Meta-Eigenschaften nennt Thuan: ihr zwingender Charakter, eine verblüffende Einfachheit, Wahrheit. Mit Wahrheit ist gemeint, dass sich aus ihr überraschende Voraussagen ergeben, die bestätigt werden können. Dafür liefert vor allem die Allgemeine Relativitätstheorie viele Beispiele. Sie gilt daher

»als die schönste Theorie, als das am kunstvollsten gebaute intellektuelle Gebäude, das es je gegeben hat. Nicht genug damit, dass sie bislang getrennte Fundamentalkonzepte der Physik wie Raum, Zeit, Materie, Energie, Bewegung, Beschleunigung und Gravitation vereinigte, sie enthüllte auch Aufsehen erregende Phänomene, die bis dato nicht erkannt worden waren.« (QuL, 379)

Conclusio In seiner Conclusio ist Thuan dankbar für die Ideen des bedingten Entstehens und der Leerheit, mit denen sich viele offene Fragen der Wissenschaft besser beantworten lassen. Aber er hält am schöpferischen und am anthropischen Prinzip fest. Die Frage des ersten Anfangs ist für ihn offen. Wenn es – wie der Buddhismus lehrt – keinen Ur-Anfang gibt, muss der Kosmos zyklisch sein. Dafür gibt es wissenschaftlich noch nicht ausreichend viele Hinweise.

Während Ricard die grundsätzliche Differenz der Naturgesetze zum sehr subtilen Bewusstsein betont, möchte Thuan die Prinzipien der Naturgesetze erkennen. Das sind für ihn Linearität und Lokalität. Aufgrund der Linearität können in einem Klanggemisch individuelle Stimmen wie ein Klavier und eine Violine erhalten bleiben, oder ein kleines rotes Licht einer Laterne an einem lichtdurchfluteten Tag (QuL, 307). Aufgrund der Linearität war die Naturwissenschaft in der Lage, Dinge und Eigenschaften zu differenzieren. Es ist nur wichtig, das daraus entstehende Dogma des Reduktionismus zu vermeiden. Die Lokalität ermöglicht es, nicht alle Einflüsse berücksichtigen zu müssen. Ohne Lokalität bliebe alles ein ununterscheidbares Grundrauschen. Ricard kritisiert den Reduktionismus »von Einzelobjekten mit einer autonomen Existenz« (QuL, 308). Thuan betont, dass die Linearität nur in einem bestimmten Bereich gilt. »Oberhalb einer bestimmten Schwelle verlieren fast alle Systeme ihre linearen Eigenschaften.« (QuL, 308)

Ricard betont, dass bei aller Anerkennung der technischen Leistungen der Wissenschaft die Frage nach Glück wichtiger ist. Die Wissenschaft klebt an dinghaften Existenzen und kann sich von ihnen nicht lösen. Sie erkennt zwar mit Gödel ihre Begrenztheit, ohne darüber hinaus gehen zu können.

Für mich ist das Gespräch von Ricard und Thuan offen. Das Beispiel der Quantenverschränkung ist treffend und wirft wichtige Fragen auf. (i) An der Quantenverschränkung zeigt sich, dass das Thema Zeit tiefer durchdacht werden muss als es bisher in der Relativitäts- und Quantentheorie geschehen ist. Es scheint zu wenig zu sein, die Zeit mit der Relativitätstheorie als eine zusätzliche räumliche Dimension anzusehen, oder mit der Quantenmechanik von einer Zeitentwicklung zufälliger Zustandsänderungen zu sprechen. Die Zeit hat einen eigenen Charakter, der sich in der Synchronizität der Quantenverschränkung zeigt und bisher nicht verstanden wurde. – (ii) Ebenso ist die Frage nach dem Licht offen. Das Licht ist wie der Impuls ein imponderables (unwägbares) Agentium in der Doppelbedeutung von Unwägbarkeit als Unvorhersehbarkeit und Gewichtslosigkeit (Masselosigkeit). Hier können Physik und Buddhismus voneinander lernen: Der Buddhismus hat dank seiner genauen Selbstbeobachtung der Meditation ein gutes Verständnis gefunden, was bei einer Erleuchtung geschieht. Das könnte auf die Physik anregend wirken. Umgekehrt können die Fragen der Relativitätstheorie anregend für den Buddhismus sein, um seinerseits den Vorgang der Erleuchtung besser zu verstehen. – (iii) Schließlich wird mit einer Licht-Metapher von Gedankenblitzen gesprochen, worauf sich Thuan bezieht. Mir scheint noch längst nicht das letzte Wort gesprochen, um Parallelen zwischen dem flow, den Wissenschaftler in ihrer Arbeit erleben, und Meditationserfahrungen besser zu verstehen. So kann ein Wissenschaftler zum Beispiel erfahren, wie er sich einer Lösung genähert hat und kurz vor ihrem Erreichen steht. Das kann einen Sog auslösen, der einen geradezu in die Arbeit reißt und für andere unnahbar wie einen Nerd oder einen abwesenden Mönch erscheinen lassen kann. Situationen dieser Art werden von den Buddhisten nach ihren intensiven Erfahrungen mit der Meditation sehr genau studiert und ausgewertet und können einem Wissenschaftler helfen, sich selbst besser zu verstehen und davon zu lernen.

Literatur

Dalai Lama: Die Welt in einem einzigen Atom, Berlin 2005

Matthieu Ricard, Trinh Xuan Thuan: Quantum und Lotus, München 2008 [2000] (zitiert als QuL)

Walter Saltzer, Peter Eisenhardt u.a. (Hg.): Die Erfindung des Universums?, Frankfurt am Main 1997


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