Walter Tydecks

 

Einführung und Kommentar zu Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung §§ 33 - 35

Beitrag für den Philosophie-Kurs von Frau von Uffel über Schopenhauer, Akademie 55plus Darmstadt am 21.10.2013

Im Subjekt muss eine Veränderung vorgehen (§33)

In diesem Paragraphen äußert Schopenhauer den Wunsch, dass sich das erkennende Subjekt aus seinen Grenzen befreit und wie der Apoll von Belvedere mit seinem »weit umherblickenden Haupt« einen größeren Horizont gewinnt.

Er will sich befreien aus der (egoistischen) Beschränkung des Individuums, dessen Erkenntnismöglichkeiten dem Satz vom Grunde unterworfen ist, dem Willen, dem Tier, dem Leib.

An diesem Paragraphen wird indirekt deutlich, in welcher Weise Schopenhauer Kant "radikalisiert" hat. Kant hatte eingesehen, dass alle menschlichen Erkenntnisse an Denkbestimmungen gebunden sind, die dem jeweiligen Inhalt vorausgehen. Der Mensch kann sich nichts vorstellen oder denken, was sich außerhalb von Raum und Zeit befindet, und für das nicht bestimmte Grundsätze des reinen Verstandes eingehalten werden (z.B. der Satz vom Widerspruch, der Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz und der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität).

Schopenhauer übernimmt das, gibt ihm jedoch eine völlig neue Wende: Seiner Meinung nach sind die von Kant entdeckten Denkbestimmungen noch nicht die letzte Wahrheit, sondern gehen ihrerseits auf den Willen zurück. Der Wille sucht sich spontan den Weg, auf dem er am weitesten kommen und am direktesten Erfolg haben kann. So wie Wasser den kürzesten Weg fließt oder ein erfolgreicher Manager alle zu Gebote stehenden Möglichkeiten optimiert, so ist auch das Denken im Ganzen organisiert. Es sucht sich spontan den Weg des geringsten Widerstands und des größten Nutzens. Dass das Denken so vorgeht, ist für Schopenhauer ein Ergebnis des Willens, der sich diese Art zu denken geschaffen hat. Die von Kant entdeckten Voraussetzungen des Denkens sind nach Meinung von Schopenhauer vom Willen gebildet worden und gehören zu den Objektivationen des Willens, weil der Wille mit ihnen am erfolgreichsten ist.

Doch es kommt noch etwas hinzu: Schopenhauer spricht nicht einfach vom erkennenden Subjekt, das dem Willen folgt, sondern vom Individuum. Er geht von der Konkurrenz-Situation aus, in der jeder gegen die anderen seinen Willen behaupten muss. Alle Arten von Gemeinschafts-Wille oder Sorge für andere scheinen ihm fremd. Wenn es sie gibt, ist dahinter doch wiederum nichts anderes als der Wille verborgen, diesmal getarnt mit besonderen moralischen Werten. Was altruistisch oder selbstlos aussehen mag, ist doch nur eine besonders geschickte Methode, für sich Anerkennung zu gewinnen und den eigenen Willen durchzusetzen (Nietzsche sprach vom Menschlich Allzumenschlichen).

Schopenhauer ist der Meinung, dass sich der in Konkurrenz gegen andere durchsetzende Wille die wahre Triebkraft ist, die sich sowohl den für ihre Zwecke passenden Leib ausgebildet hat (»Sensibilität, Nerven, Gehirn«), als auch die von Kant beschriebenen Anschauungsformen und Grundsätze. Er sieht die Triebkräfte des Willens überall am Werk, von den elementaren Naturkräften bis zur systematischen Architektonik erfolgreicher Wissenschaft.

Schopenhauer erkennt, dass es unmöglich ist, diese Art zu denken von innen her aufzubrechen, wenn nicht »im Subjekt eine Veränderung vorgeht« und es »nicht mehr Individuum ist«.

Damit gerät er in den Bereich der Fallen einer Anleitung zum Unglücklichsein (Watzlawick). Er  will das Nichtwollen. Er nähert sich den Maximen des Double-Bind: »Genieße! Sei spontan und befreie dich von allen Geboten!«. Auf welche Weise Zwickmühlen dieser Art zu vermeiden sind, davon handelt der folgende Paragraph.

Die Macht des Geistes und die gegenseitige Erfüllung von Subjekt und Objekt (§ 34)

Wie ist es möglich, den Standpunkt des Individuums zu verlassen? Hier gab traditionell die Religion die Antwort, dass dies nur durch eine Rückbindung an das Göttliche gelingen kann oder durch eine Intuition und Kreativität, die dem Menschen von Gott verliehen wurden. Der Mensch findet Erfüllung im Glauben und in den Taten, mit denen er dem göttlichen Auftrag folgt.

Heute wird statt von Religion von der Macht der Liebe gesprochen. Der Mensch sucht Erfüllung in der Liebe, in der er sich in der Hinwendung zum Partner ganz aufgeben und alle Grenzen des Egoismus überwinden kann. Wer sich verliebt, verlässt in diesem Moment die üblichen Regeln. Das Leben teilt sich für ihn in zwei Zeiten: Vor und nach der Liebe. Alle Vorstellungen und Erfahrungen werden im Moment des Verliebens nicht inhaltlich geändert, aber sie bekommen durch die Liebe (die Erfüllung) eine neue Bedeutung. Alles wird in neuem Licht gesehen. Alles wird umgewertet.

Statt von Religion oder Liebe spricht Schopenhauer vom »Geist«. Das Subjekt kann seine Veränderung nicht erzwingen. Er spricht daher von der »Kraft des Geistes«, die einen überwältigt und der man sich überlässt, von der man »gehoben« wird und alles »fahrenläßt«, was vorher galt. Das Subjekt vertieft sich in den Gegenstand, »verliert« sich darin, »vergißt« sich, tritt heraus aus seiner normalen Beschränktheit und gelangt in einen Zustand, »indem sie (Subjekt und Objekt) sich gegenseitig vollkommen erfüllen und durchdringen«.

Schopenhauer ist sich bewusst, dass dieser neue Zustand dem ursprünglichen Standpunkt und allen anderen, die sich noch darin befinden, nicht vermittelt werden kann und ihnen lächerlich erscheinen muss. Er lässt sich nur als ein ozeanisches Gefühl beschreiben, für das Schopenhauer Beispiele aus der Kunst (ein Gedicht von Lord Byron), dem Pantheismus (Spinoza) und der indischen Philosophie sucht.

Schopenhauer gelangt hier an eine Grenze, die später von Heidegger als Existenz beschrieben wurde. Der Mensch kann nur in seiner eigenen Existenz auf eine Weise erschüttert werden, die einen solchen Zustand erfahrbar macht. Wer er eine solche Erschütterung der eigenen Existenz nicht erlebt hat, dem erscheint sie von außen als ein Wahnzustand, als Verlust des Verstandes.

Schopenhauer entdeckt den Punkt, an dem eine vom Willen und dessen Optimierungszielen dominierte Wissenschaft von innen an ihre Grenze kommt. Sie kann zwar »am Leitfaden der Gestaltungen des Satzes vom Grunde« Relationen erkennen, »das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu«, aber sie wird nicht »das Was« verstehen. Sie kann daher weder einen Begriff der Substanz fassen noch die Existenz an sich verstehen.

Anmerkung: Wird die weitere Entwicklung der Naturwissenschaft gesehen, dann scheint Schopenhauer geradezu prophetisch zu sein. Die Naturwissenschaft stößt mit ihren empirischen Beschreibungen an einen Punkt, an dem sie die Vorstellung der Substanz verliert. Weder die Allgemeine Relativitätstheorie noch die Quantenmechanik können einen eindeutigen Begriff der Substanz definieren. Daher sucht gegenwärtig die Philosophie der Physik nach einem neuen Essentialismus.

Figuren und Kräfte (§ 35)

Das Kapitel dient zunächst der Begriffsklärung:

–    der Wille als Ding an sich
–    die adäquaten Objektitäten des Willens
–    die verschiedenen Stufen dieser Objektitäten
–    die Erscheinungen der Idee
–    die Ideen selbst

Für die ersten drei Punkte sind in den vorangegangen Paragraphen bereits Beispiele genannt. Zur Erläuterung der Idee nennt Schopenhauer zunächst drei Beispiele »im Geringsten« (Wolken, Bach, Eisblumen) und dann »im Größten« (Weltbegebenheiten, »alle verlorenen Schätze ganzer Weltalter«, wenn es das Schicksal so gewollt hat, dass verschiedenste Möglichkeiten keine Chance zur Verwirklichung hatten).

Verblüffend erscheinen mir die Beispiele Wolken, Bach, Eisblumen. In allen drei Fällen versteht Schopenhauer als Idee die zugrundeliegenden Naturkräfte, während ihm die jeweiligen Erscheinungen als unwesentlich gelten.

Nach meinem Eindruck entsteht Ästhetik dann, wenn gerade umgekehrt in den scheinbar vernachlässigbaren unwesentlichen »Figurationen« etwas entdeckt wird, das dem Willen und seinem Interesse an Optimierung verborgen geblieben ist.

Siehe die Wolken in der barocken Malerei oder bei Van Gogh.

Beethoven hat unnachahmlich in der 6. Sinfonie, der Pastorale, die Szene am Bach komponiert, Smetana die Flötenmelodien der an der Quelle hervorsprudelnden Moldau.

Und für die Eisblumen gibt es ein Beispiel von Thomas Mann, der im übrigen Schopenhauer überaus geschätzt hat. Im Doktor Faustus beschreibt er die Entwicklungsgeschichte eines großen Komponisten. Von seinem Vater Jonathan übernahm er schon in seiner Kindheit das Interesse an allem, über das sonst hinweggesehen wird, und das doch eine eigene Schönheit enthält.

»Ein verwandtes Gefallen fand er an Eisblumen, und halbe Stunden konnte er sich an Wintertagen, wenn diese kristallischen Niederschläge die bäuerlich kleinen Fenster des Buchelhauses bedeckten, mit bloßem Auge und durch sein Vergrößerungsglas, in ihre Struktur vertiefen. Ich möchte sagen: alles wäre gut gewesen und man hätte darüber zur Tagesordnung übergehen können, wenn die Erzeugnisse sich, wie es ihnen zukam, im Symmetrisch-Figürlichen, streng Mathematischen und Regelmäßigen gehalten hätten. Aber daß sie mit einer gewissen gaukelnden Unverschämtheit Pflanzliches nachahmten, aufs wunderhübscheste Farrenwedel, Gräser, die Becher und Sterne von Blüten vor täuschten, daß sie mit ihren eisigen Mitteln im Organischen dilettierten, das war es, worüber Jonathan nicht hinwegkam, und worüber seines gewissermaßen mißbilligenden, aber auch bewunderungsvollen Kopfschüttelns kein Ende war. Bildeten, so lautete seine Frage, diese Phantasmagorien, die Formen des Vegetativen vor, oder bildeten sie sie nach? Keines von beiden, erwiderte er wohl sich selbst; es waren Parallelbildungen. Die schöpferisch träumende Natur träumte hier und dort dasselbe, und durfte von Nachahmung die Rede sein, so gewiß nur von wechselseitiger. Sollte man die wirklichen Kinder der Flur als die Vorbilder hinstellen, weil sie organische Tiefenwirklichkeit besaßen, die Eisblumen aber bloße Erscheinungen waren? Aber ihre Erscheinung war das Ergebnis keiner geringeren Kompliziertheit stofflichen Zusammenspiels als diejenige der Pflanzen. Verstand ich unseren Gastfreund recht, so war, was ihn beschäftigte, die Einheit der belebten und der sogenannten unbelebten Natur, es war der Gedanke, daß wir uns an dieser versündigen, wenn wir die Grenze zwischen beiden Gebieten allzu scharf ziehen, da sie doch in Wirklichkeit durchlässig ist und es eigentlich keine elementare Fähigkeit gibt, die durchaus den Lebewesen vorbehalten wäre, und die nicht der Biologe auch am unbelebten Modell studieren könnte.«

Schopenhauer scheint diese Art von ästhetischen Ideen deswegen nicht zu sehen, weil er mit den nachfolgenden Beispielen »im Größten« in eine andere Richtung gehen will. Wer über die »verlorenen Schätze ganzer Weltalter« klagt, dem gibt der »Erdgeist« die tröstende Antwort, dass alle Lebensgeschichten »doch auch nur Erscheinung« sind, nicht mehr als die jeweiligen Wolkenbildungen, Strudel des Baches oder Eisblumen. Hinter ihnen steht etwas Höheres, das nur durch die Idee erfasst werden kann, »der Wille allein, … das Ding an sich, die Quelle aller jener Erscheinungen«. So wie Schopenhauer schon im Geringsten an den Beispielen der Wolken oder Eisblumen die sich in ihnen zeigende und über sie hinausgehende Idee zeigen will, so zeigt sich für ihn auch in den scheinbar auf ewig verlorenen Schätzen der Weltalter eine über ihren Verlust hinausgehende Idee. Das klingt wie eine bittere Enttäuschung oder eine Vertröstung auf eine unbestimmte Zukunft, wenn an den ursprünglichen Wunsch erinnert wird, sich vom Willen zu befreien, doch verspricht Schopenhauer in der Fußnote eine neue Wendung im weiteren Text.

Angesichts der Themen »im Größten« ergeben sich für die Kunst zwei Wege: Sie kann auch in denjenigen Lebensgeschichten, die nach außen wie ein Scheitern aussehen, ihre innere Schönheit erkennen, oder sie sucht unmittelbar eine Größe darzustellen, die der Größe der von Schopenhauer gemeinten Idee entspricht (das Erhabene). Beispiele für die erste Richtung sind im 19. Jahrhundert in den Jahrzehnten nach Schopenhauer entstanden: Bartleby, der Schreiber von Melville (1853), die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch von Dostojewski (1864), Ein schlichtes Herz von Flaubert (1877). Sie alle zeigen Menschen, die auf den ersten Blick gescheitert sind und auf ihre Umgebung lächerlich wirken können, und dennoch ein inneres Leuchten haben, das von den Schriftstellern erkannt, bewundert und in ihren Werken gestaltet wird.

Ein Beispiel für die andere Richtung kann die Entstehung der abstrakten Kunst sein, die sich bewusst von der sinnlichen Wahrnehmung abwendet und auf ihre Weise den Geist und die Größe seiner Ideen direkt gestalten will, mit frühen Vorläufern in den Erzählungen Das unbekannte Meisterwerk und Seraphita von Balzac (1831, 1834), die sich sowohl Cezanne wie Schönberg als Vorbild nahmen. Das war der Weg der Kunst im 20. Jahrhundert.


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