Walter Tydecks

 

Kommentar zu Urs Richli »Kritische Bemerkungen zu Thomas Kesselrings Rekonstruktion der Hegelschen Dialektik im Lichte der genetischen Erkenntnistheorie und der formalen Logik«

Kesselring will mit Piaget nachweisen, wie sich das Denken genetisch und sachlich über mehrere Stufen entwickelt, wobei auf jeder Stufe ein bestimmtes Schema (Form) gilt, mit dem auf dieser Stufe alle Inhalte gedacht werden. Wird das Schema selbst zum Inhalt des Denkens, führt das auf dieser Stufe in eine Antinomie, die zu einer Auflösung auf der nächsten Stufe und die Einführung eines neuen Schemas drängt. Mit Piaget ist Kesselring überzeugt, dass das Denken in der IV. Stufe (d.h. mit der Einführung formaler Systeme) seinen Abschluss findet, und auch bezüglich Hegel gilt, »daß der genetische Standort seiner Dialektik gleichfalls in die IV. Stufe fällt« (K, S. 316). Die Dialektik ist für Kesselring die am weitesten fortgeschrittene formale Wissenschaft, mit der sich das Denken seiner selbst bewusst wird und die Entwicklung und Auflösung der Antinomien zu beschreiben vermag. Das wird exemplarisch an der Russellschen Antinomie gezeigt, die auf der III. Stufe auftritt und für Kesselring auf der IV. Stufe mit der Unterscheidung in Objekt- und Metasprachen überwunden wird. Richli trifft daher nach meinem Eindruck Kesselrings Intention, wenn er in dessen Arbeit einen neuen Versuch sieht, den »dialektischen Fortgang in Hegels Logik [...] auf eine Grundform zurückzuführen« (R, S. 131). Das bleibt für Richli ein »Versuch, die spekulative Logik auf den Verstand zu bringen« (R, S. 143), wie er seinen Beitrag zusammenfasst.

Mit einer »Interpretation der Daseinslogik nach dem Dialektikmodell« (Kapitelüberschrift, K, S. 283) will Kesselring textnah Übereinstimmungen von Hegel und Piaget nachweisen. Er gliedert Hegels Kapitel über das Dasein (HW 5.115-173) in 6 Abschnitte, die den 4 Entwicklungs-Stufen nach Piaget entsprechen ergänzt um 2 Stufen für die beiden Kapitel über die Unendlichkeit, und sieht die kritische Wende auf der IV. Stufe. Das ist für ihn der Abschnitt über die Endlichkeit (HW 5.139-149), in dem Hegel in der 1. Auflage der Wissenschaft der Logik den Begriff der Negation eingeführt hatte. Die weiteren Abschnitte über die Unendlichkeit fasst Kesselring zusammen, »daß Hegel von der gesetzten IV. Stufe an keine neuen Begriffen mehr einführt, sondern die dialektische Bewegung in sich zurücklaufen läßt« (K, S. 316).

Richli setzt mit seiner Kritik an Kesselrings Deutung der vorausgehenden Stufen I bis III an. Für Kesselring wird sich das Denken erst auf der IV. Stufe seiner selbst bewusst, während es auf den vorausgehenden Stufen seiner selbst unbewußt bleibt und zwangsläufig jeweils in eine Sphärenvermengung gerät, die durchgreifend erst mit der IV. Stufe überwunden werden. Richli kritisiert beides: Sowohl, wenn aus seiner Sicht bei Kesselring das Denken auf den ersten Stufen in »Selbstvergessenheit« verharrt (R, S. 136) bzw. »anonym« bleibt (R, S. 138), wie auch die Darstellung der dort auftretenden Widersprüche als »Sphärenvermengung, ... categorial mistake« (R, S. 136). – Abschließend erinnert Richli an Wittgensteins Kritik der Typentheorie und deren Auflösung der Russellschen Antinomie in der IV. Stufe (R, S. 143).

(1) Kesselring gebraucht den Ausdruck »selbstvergessen« eher beiläufig (K, S. 67f). Er spricht von den »unbewußt ablaufenden Reflexionsprozesse(n)« (K, S. 45) und genauer, dass in der Seinslogik die Denk- und Wahrnehmungsstrukturen »unbewußt« »in die Außenwelt projiziert werden« (K, S. 88). Für Kesselring ist »das Bewußtsein bzw. Denken in seinen Gegenstand versunken, so daß es sich selbst nur in der Inhaltssphäre (im 2. Moment) gegenständlich wird, ohne sich als Denken wiederzuerkennen« (K, S. 119). Anders als in der Phänomenologie des Geistes sind für Kesselring in der Seinslogik die »Kategorien ... in gegenständliche Inhalte verloren« (K, S. 283).

Dieser Ansicht liegt ein eigenes Verständnis der setzenden, äußeren und bestimmenden Reflexion zugrunde. Kesselring versteht die setzende Reflexion so, dass sie ohne das selbst zu merken ein von ihr implizit herangezogenes Schema in die Gegenstände projiziert (»setzt«).

»So ist beispielsweise, was wir als Eigenschaften an den Dingen wahrnehmen, immer auch das Ergebnis unserer Sinnesaktivität, das wir in die Dinge hineinprojizieren bzw. -setzen (in Hegelscher Terminologie: das Ergebnis einer 'setzenden Reflexion'.« (K, S. 143) Die setzende Reflexion ist für Kesselring die Anwendung des Schemas, das auf der jeweiligen Stufe gilt. So wird auf der I. Stufe aus der Fülle der sinnlichen Reize das selektiert, wofür es ein Reaktionsschema gibt. Alle Reize, die keine körperliche Reaktion hervorrufen, bleiben unerkannt. Auf der II. Stufe werden nur die Eigenschaften registriert, die bestimmten Gegenständen zugeordnet werden können. Im Grunde bleibt für Kesselring die setzende Reflexion auf der II. Stufe stehen. Sie erkennt nur das an, was sie als Gegenstand deuten kann. Sie projiziert alles in Gegenstände, und wenn das nicht möglich ist, versagt die setzende Reflexion. »Das Denken (VI.1) reflektiert auf sich (VI.2a) als auf eines, das in seinem Gegenstand (VI.2b) auf sich selbst reflektiert.« (K, S. 315, zitiert R, S. 138). – Dies Denken wird von Kesselring bisweilen auch als »seinslogisches Denken« bezeichnet, »das ... ganz auf seine gegenständlichen Inhalte fixiert bleibt« (K, S. 289, zitiert R, S. 134) und der »Untrennbarkeit der Denkformen von den gegenständlichen Denkinhalten« (K, S. 88) nicht entrinnen kann.

Das scheint mir ein unzulässiger Übergriff. Es würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass jedes Denken, das über das nachdenkt, was auf der II. Stufe des Denkens geschieht, selbst an diese Stufe gebunden ist. Inhaltlich kann nicht bezweifelt werden, dass die Seinslogik mit der Untersuchung der Kategorien den Gegenständen und den frühen Denkprozessen der II. Stufe näher steht als etwa die Reflexions- und Wesenslogik. Sie untersucht u.a. Qualität, Quantität und Maß und hierin etwa die Zahl. Das sind typische Begriffe, über die sich das Denken im Vorschulalter bewusst zu werden beginnt. Aber kann mit Kesselring gefolgert werden, dass auch das Nachdenken über die Kategorien in der Seinslogik seinerseits auf die Gegenstände fixiert bleibt und nicht über die Grenzen hinauszukommen vermag, die für das Kind im Vorschulalter gelten? Einem an den Gegenständen fixierten Denken gelingt es z.B. noch nicht, abstrakte Gattungsbegriffe wie den Begriff einer Menge zu trennen von den jeweiligen Gegenständen, aus denen sich die Menge zusammensetzt. Es bleibt auf dieser Stufe darauf fixiert, Gattungsbegriffe mit bestimmten Gegenständen aus der Gattung gleichzusetzen (wie z.B. eine Menge von Äpfeln mit dem zuletzt gezählten Apfel). Aber soll das im Ernst auch für die Seinslogik gelten? Mit ihr wird umgekehrt die überaus schwierige Aufgabe angegangen, Kategorien wie Qualität, Quantität und Maß oder im Einzelnen z.B. das Eine und Viele, die Zahl oder die Wahlverwandtschaften als Kategorien zu erkennen, die als Kategorien nichts Gegenständliches sind (es gibt keinen Gegenstand ‘Qualität’, ‘Quantität’ usf.).

Während für Kesselring die setzende Reflexion ein Schema auf ihre Gegenstände projiziert, kann das für ihn erst die äußere Reflexion überwinden. Mit ihr muss von außen durchschaut werden, was mit der setzenden Reflexion geschieht, da die setzende Reflexion in ihrer Versenkung an ihre Gegenstände dazu nicht fähig ist. Auch der äußeren Reflexion gelingt das nur unvollständig. Für sie gilt, »daß die Reflexion nicht auf sich reflektiert, sondern selbstvergessen (als 'äußere Reflexion') ihr Produkt gleichsam bloß anzuschauen meint.« (K, S. 67f) Was die setzende Reflexion tut, ist »nur für die äußere Reflexion (d.h. die Perspektive eines äußeren Beobachters) erkennbar« (K, S. 116). Die äußere Reflexion durchschaut die Projektion und die an-ihre-Gegenstände-Fixiertheit der setzenden Reflexion. Sie geht nach Kesselring von außen an die setzende Reflexion heran, aber gewinnt noch keine Distanz sich selbst gegenüber. Das leistet erst die bestimmende Reflexion.

Bestimmende Reflexion. »Das Denken, das auf diesen ganzen Zusammenhang reflektiert, bezeichnet Hegel als 'bestimmende Reflexion'.« (K, S. 120) Die bestimmende Reflexion ist für Kesselring nicht die mittels eines Schlusses hergestellte höhere Einheit der setzenden und äußeren Reflexion, sondern die Reflexion der Reflexion, die ähnlich wie die äußere Reflexion einen nochmals erweiterten äußeren Standpunkt gewinnt, von wo aus sie das Tun der äußeren Reflexion übersieht und versteht.

»Die Reflexion der Reflexion beleuchtet zwar die Vorgänge des Denkens, erkennt also den Ursprung der Begriffe aus dem eigenen Tun, sie betrachtet also dessen Produkte – die Reflexionsbestimmungen – mit dem Wissen, daß sie ihre eigenen 'Setzungen' sind, aber diese Betrachtung erfolgt aus der Distanz: Die eigenen Setzungen werden objektiviert und in der für die äußere Reflexion typischen Weise gleichsam von außen aufgenommen. In der Logik nennt Hegel diese sich wissend auf ihre eigenen Resultate beziehende Reflexion 'bestimmende Reflexion'.« (K, S. 144)

Richli versteht den von Kesselring gemeinten Akteur der Reflexion als »anonymes Denken« oder »anonymen Akteur« (R, S. 138), vergleichbar dem Kind, dessen Entwicklung Piaget beschreibt. Er setzt dagegen, die Denkbestimmungen an und für sich zu betrachten und aus ihrer »Binnenstruktur« (R, S. 136) zu verstehen. »Im spekulativen Diskurs sind die Kategorien weder als Formen noch als Inhalte eines endlichen Subjekts thematisch, sondern werden 'an ihnen selbst betrachtet'.« (R, S. 138) Mir erscheint an dieser Kritik der Hinweis auf das endliche Subjekt wesentlich. Wenn Kesselring die Denkbestimmungen aus der Perspektive eines endlichen Subjekts sieht, womit ein beliebiger Mensch gemeint ist, der im Laufe seines Lebens zu denken lernt und später mit dem Denken neue Erkenntnisse gewinnt, hierin jedoch immer an seine Endlichkeit als vergängliches Wesen gebunden bleibt, dann grenzt er die Untersuchung des Denkens auf die Endlichkeit ein. Weil er mit Piaget vom Entwicklungsprozess einzelner Menschen in ihrer Endlichkeit ausgeht, wird für ihn die IV. Stufe nicht überwunden, in der ein Mensch in seiner Endlichkeit über sein Denken nachdenkt. Wird jedoch die Perspektive gewechselt vom Menschen, der über etwas nachdenkt, auf das, worüber er nachdenkt, dann kommt die Unendlichkeit in den Blick. Obwohl der Mensch endlich ist, kann er über Unendliches nachdenken. Das ist ein Paradox, und es fragt sich, dank welcher Denkbestimmungen das möglich ist. Wird die Frage so gestellt, dann wird verständlich, warum für Richli nicht der jeweilige endliche Mensch, sondern seine Denkbestimmungen in das Zentrum rücken, mit denen er über seine Endlichkeit hinauszugehen vermag. Hiermit ist jedoch zunächst nur die Kritik geleistet, warum Kesselring diese Frage nicht einmal stellt. Es ist eine andere Aufgabe, dies Anliegen seinerseits inhaltlich auszuführen.

In einer Fußnote sieht Richli eine Parallele zu Theunissen: »Kesselrings Auslegung stimmt in dieser Hinsicht weitgehend mit der These von Michael Theunissen überein, Hegel kritisiere die Identität von 'Sein' und 'Nichts' als Vorstellung eines im Schein befangenen Denkens (Sein und Schein, S. 115ff).« (R, S. 141 Fn. 9).

(2) Kesselring versteht die Negation der Negation als eine »Projektion« des jeweiligen Schemas auf einen Inhalt, der unter dieses Schema fällt und daher als eine »Sphärenvermengung« (K, S. 122, zitiert R, S. 132), für Richli synonym mit einem »categorial mistake« (R, S. 136). (Der Ausdruck Kategorienfehler geht auf Ryle zurück, der mit ihm die von Russell untersuchten Typenfehler weiter fassen wollte. Für Kesselring ist es die Leistung des Denkens der IV. Stufe, die auf der III. Stufe entstandenen Typenfehler durch die Unterscheidung in Meta- und Objektebene aufzulösen.)

Mit Ausdrücken wie ‘Projektion’, ‘Sphärenvermengung’ und implizit auch die von Ryle kritisierten Kategorienfehler legt Kesselring nahe, als würde es auf der jeweiligen Stufe zu Antinomien kommen aufgrund einer Unreife oder Unvollständigkeit des Denkens. So gilt es bei Piaget: Es gehört zum Entwicklungsprozess des Kindes und des Jugendlichen, stufenweise seine Denkfähigkeit auszubilden. Das führt nach Richli in eine Fehleinschätzung, wenn es in die begriffliche Darstellung hineingelesen wird, die Hegel in der Wissenschaft der Logik ausgearbeitet hat. Wenn Hegel dort Widersprüche aufzeigt, liegen diese nicht in der Begrenztheit oder Unvollständigkeit eines Denkens begründet, das mit Begriffen arbeitet, die an ein vorgegebenes Schema gebunden sind, sondern an der Sache selbst, wie Richli in einer exemplarischen eigenen Deutung zeigen will (R, S. 137f). Widersprüche werden bei Hegel nicht überwunden, sondern aufgehoben. Wiederum scheint Kesselring zu eng den Erkenntnissen von Piaget zu folgen: Piaget beschreibt, wie auf jeder Stufe eine Antinomie auftritt. Das Kind leistet jedoch Widerstand, das gewohnte Schema aufzugeben, und erst wenn der Widerstand überwunden ist, kann das Denken auf eine neue Stufe gestellt werden. Ähnlich scheint Kesselring die Entwicklung der Widersprüche bei Hegel zu sehen. Ein Widerspruch muss überwunden werden, damit der Übergang zur nächsten Kategorie erfolgen kann. Die Fixiertheit der Seinslogik auf ihre Gegenstände muss überwunden werden, damit das Denken seiner selbst bewußt werden kann.

(3) Wittgenstein hat an der Typentheorie und verwandten Theorien kritisiert, »daß diese sich selbst innerhalb ihres Objektbereichs gar nicht oder nur auf widersprüchliche Weise reflektieren kann, sondern darin, daß ihr Gegenstand nicht darstellbar ist« (R, S. 143). Wenn ich es richtig verstehe, hat nach Richli Wittgenstein damit den Grundzug des spekulativen Denkens erfasst, den Russell und ihm folgend Kesselring verfehlen. »Im Begriff sind nach Hegels Überzeugung sowohl die Einheit von Relat und Relation, wie die Totalität der kategorialen Hinsichten unmittelbar gesetzt.« (R, S. 143) Daher kann es nur die Aufgabe der Wissenschaft der Logik sein, die »Denkbestimmungen ... an ihnen selbst« zu betrachten (HW 5.30, zitiert R, S. 141). So wie Wittgenstein gesagt hat, dass sich die Sprache an und in ihren Äußeren nur  zeigen  kann, während alle Versuche scheitern, ein abgeschlossenes formales System der Sprache zu entwerfen, so können auch die Denkbestimmungen nur  an ihnen selbst  erkannt werden und nicht in einer Methode, die von außen an das Denken herangeht und fähig ist, es abschließend zu durchschauen. Auch diese Methode würde wiederum dem unendlichen Progress stets neuer Metasprachen unterliegen, wenn gefragt wird, in welcher Sprache diese Methode zu beschreiben ist. – Richli legt dagegen nahe, nicht mit einer vorgegebenen Methode an die Denkbestimmungen heranzugehen und sie zu untersuchen, sondern in einem rekursiven Prozess aus der Betrachtung der Denkbestimmung-an-und-für-sich-selbst die Methode als die abschließende Denkbestimmung zu gewinnen.

Siehe zum Thema auch:
» Beitrag zur Russellschen Antinomie
» Beitrag zu Antinomien in der Daseinslogik

Siglen

HW: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971; Link

K: Thomas Kesselring: Die Produktivität der Antinomie, Frankfurt am Main 1984

R: Urs Richli 1988: Kritische Bemerkungen zu Thomas Kesselrings Rekonstruktion der Hegelschen Dialektik im Lichte der genetischen Erkenntnistheorie und der formalen Logik
in: Philosophisches Jahrbuch, 1988 1. Halbband, Freiburg / München 1988, S. 131-143; PDF

2016


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