Walter Tydecks

 

Nikolaus von Kues »Über den Beryll« (1458)

– Fußnote / Zusatz zum Beitrag Sphäre des Begriffs und Logik der Sphäre

1458 veröffentlichte der aus dem heutigen Rheinland-Pfalz stammende Nikolaus von Kues (Cusanus) seine Schrift über den Beryll. Als Diplomat des Vatikans hatte er die Ereignisse im Osten hautnah miterlebt, die 1453 zur Eroberung von Konstantinopel (Istanbul) durch die Osmanen führten. Es war absehbar, dass sich die Schwerpunkte des philosophischen Denkens von Griechenland in den Westen verlagern würden. Denn gleichzeitig ging der 100-jährige Krieg zwischen England und Frankreich zuende und Paris würde wieder an die Glanzzeiten von 950 - 1250 anknüpfen können. In Florenz wurde 1459 die platonische Akademie gegründet, an der Ficino mit der Übersetzung der Texte von Platon und des Hermes Trismegistos arbeitete. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand ahnen, welche Umwälzung mit der Entdeckung Amerikas bevorstand, aber es war klar, dass sich das westliche Denken neu auf seine Wurzeln besinnen musste und der Boden für etwas Neues bereitet war. Da wirkt es wie eine ungewöhnliche Vision, wenn Kues 150 Jahre bevor Galilei mithilfe der verbesserten Teleskope seine großen Entdeckungen gelingen sollten, seiner Schrift den Titel "Über den Beryll" gibt.

Beryll    Beryll und Strukturbild einer Beryll-Elementarzelle

Figur 3: Beryll und Strukturbild einer Beryll-Elementarzelle
"Beryll ist ein häufig vorkommendes Mineral aus der Mineralklasse der 'Silikate und Germanate'. Es kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem mit der chemischen Zusammensetzung Al2Be3[Si6O18], ist also ein Aluminium-Beryllium-Silikat. Strukturell gehört es zu den Ringsilikaten. [...] Beryll kristallisiert hexagonal in der Raumgruppe P6/mcc (Raumgruppen-Nr. 192) mit den Gitterparametern a = 9,22 Å und c = 9,20 Å sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. [...] Zudem wurden im Mittelalter Berylle zu Linsen geschliffen, die als Brille verwendet wurden und dieser ihren Namen gaben." (Wikipedia)

Der Beryll ist ein Mineral mit einer besonderen Kristallstruktur, wodurch er sowohl als Mikroskop wie als Teleskop dienen kann. Er ermöglicht durch einen Winkel zu sehen, "der zugleich der größte und der kleinste ist" (Kues, S. 72). Erst dadurch wird die wahre Erkenntnis gefunden. "Solange nämlich das Größte und das Kleinste noch zwei sind, hast du noch keineswegs durch das zugleich Größte und Kleinste gesehen." (Kues, S. 73) Mir geht es in diesem Zusammenhang weniger um die Einsicht der Homogenität, dass der Raum im Großen wie im Kleinen gleichartig ist, bis schließlich im Grenzübergang das Kleinste und Größte identisch werden, sondern um die Bedeutung des Beryll für die philosophische Argumentation von Kues. Der geschliffene Beryll und die ihm folgenden naturwissenschaftlichen Instrumente sind ein künstliches Medium, mit dem das Forschen und Denken seine Sicht auf die Natur revolutionieren konnte. Hier entstand ganz praktisch die Idee, die Hegel später in seiner "Wissenschaft der Logik" in ein System bringen sollte, dass sich der menschliche Geist selbst das Medium schaffen kann, um seinen Horizont künstlich zu erweitern bis er eine Sicht auf die metaphysischen Grenzfragen erhält.

Die Neuveröffentlichung dieser Schrift 1938 beim Verlag Felix Meiner in Leipzig gehörte zu einem größeren Vorhaben, als in Deutschland mit der Übersetzung von Philosophen wie Kues oder Proklos für das deutsche Denken eine eigene Tradition gefunden und aufgezeigt werden sollte. Wiederum schien das Denken an einer Zeitwende wie 1453 zu stehen, und diesmal hoffte Deutschland zum intellektuellen Zentrum zu werden. Anders lässt sich aus meiner Sicht der Anspruch von Heidegger und der Denker in seiner Umgebung nicht verstehen. Nur auf den ersten Blick scheint der in der christlichen Kirche verwurzelte Kues nicht in dies Konzept zu passen. Ernst Hoffmann zeigt in seinem Vorwort der Ausgabe von 1938, in welcher Weise Kues von den Grundfragen der griechischen Philosophie ausging. (Ernst Hoffmann lebte 1880-1952, war mit Ernst Cassirer befreundet, seit 1935 als "Mischling" beurlaubt und ist ein Beispiel, wie diese neue Standortbestimmung des deutschen Denkens weit über die nationalsozialistischen Kreise hinausging. Max Steck, der aus dem Dingler-Kreis kam und in hohem Maß für die Verfolgung jüdischer Mathematiker in NS-Deutschland verantwortlich war, widmete dennoch Hoffmann die 1945 erschienene Übersetzung des Euklid-Kommentars von Proklos.)

Die Griechen gingen vom Gegensatz von Grenze und Unbegrenztem aus, der aus dem Chaos oder der Nacht entstanden war. Kues betont das Dritte.

"Entweder finden die beiden Glieder des Gegensatzes in einem Dritten ihr kosmisch vorgegebenes Maß; oder es ist zwischen beide dialektisch ein Drittes als Mittleres gelegt." (Hoffmann in Kues, S. 8)

Hier denkt Hoffmann sicher an metaxy (ein Mittleres, ein proportionales Drittes, ein Maß), über das er 1918 in Berlin zwei Vorträge gehalten hatte. In seiner Deutung wollte Platon nicht die in der vergänglichen Welt auftretenden Gegensätze und Widersprüche lösen, sondern sah sie als unlösbares Zeichen der Vergänglichkeit der Welt. Aber für ihn hat die Seele die Fähigkeit, sich aus der Welt der Vergänglichkeit zu erheben und von ihren Gegensätzen und Widersprüchen abzuwenden, um in ein Zwischenreich zu gelangen, in der ihr das Reich der Ideen offenbart wird, die frei von Widersprüchen sind.

Platon bleibt dabei, dass "der wahre Dialektiker niemals von der Idee aussagen dürfe, daß 'in ihr' selbst, in ihrem wahren Sein, Gegensätzliches koinzidiere" (Hoffmann in Kues, S. 19).

"Von einer coincidentia oppositorum in Gott darf also bei Platon nicht gesprochen werden; sie bleibt Kennzeichen des Dämonischen, Psychischen, Erotischen; nicht der ewigen Weisheit, sondern der Philosophie als der Liebe zu ihr." (Hoffmann in Kues, S. 21)

Das Zwischen (metaxy) hat bei Platon die Bedeutung des Dämonischen, Psychischen und Erotischen. Es steht zwar bei Platon über dem Vergänglichen und Sinnlichen, bleibt aber gegenüber dem Geistigen von geringerem Rang und dient nur dazu, dass das Geistige sich dem Sinnlichen offenbaren kann. Kues positioniert dagegen den äußersten Gegensatz anders. Für ihn steht nicht dem Reich des widersprüchlichen Vergänglichen die transzendente Welt der widerspruchsfreien Ideen gegenüber, sondern er will zeigen, wie sich innerhalb der vergänglichen Welt die Einheit der Gegensätze zeigt und erkennen lässt. Der Mensch muss sich für ihn nicht von der vergänglichen Welt abwenden, sondern kann innerhalb der Welt deren metaphysische Prinzipien erkennen. Das ist jedoch mit der unmittelbaren Erfahrung, dem bloßen Auge nicht möglich, sondern der Mensch muss sich einen neuen Zugang zur Welt verschaffen, um sie in ihren Grundlinien verstehen zu können. Dieser Zugang liegt nicht wie bei Platon in einem höheren Zwischenreich (metaxy) außerhalb der Welt, sondern lässt sich innerhalb der Welt finden. Das ist die Bedeutung des Beryll. Er dient als Medium, durch das hindurch der Mensch den gleichen Gegenstand in verschiedenen Brennweiten sehen kann. Ein Vorbild des Beryll könnte das Prisma sein, durch das der einheitliche Lichtstrahl in das Farbspektrum eines Regenbogens gebrochen wird. Verallgemeinernd kann gesagt werden, dass die Erkenntnis der inneren Vielfalt der Welt ein Medium verlangt, welches der beobachtende Mensch zwischen sich und den Gegenstand legt, um die innere Vielfalt des Gegenstands trennen und dadurch erkennen zu können. Das Medium befindet sich auf der gleichen materiellen Ebene wie der Gegenstand und das ihn wahrnehmende Organ und ist kein immaterielles Zwischenreich innerhalb der Seele.

Obwohl Aristoteles eine ähnliche Kritik an Platon vorgetragen hat, fand auch er nach Kues und Hoffmann nicht zu der von Kues vertretenen Idee des Dritten. Kues und Hoffmann verstehen ihn so, dass er in seiner Logik das Dritte ausschließt und daher schon vom Ansatz her kein Verständnis für ein Medium gewinnen kann, welches ein Drittes zwischen Gegenstand und Wahrnehmungsorgan ist. In der Physik unterscheidet er zwar die drei Begriffe Stoff (hyle), Form (morphe) und Formlosigkeit (steresis), versteht aber in der Deutung von Kues und Hoffmann die Formlosigkeit nur als Mangel.

"Als Metaphysiker dachte Aristoteles zwar jegliche Entwicklung so, daß eine im Stoff liegende 'Möglichkeit' zu einer in Form kundwerdenden 'Wirklichkeit' sich wandle, wobei vorausgesetzt wird, daß dem Stoffe bereits ein Bedürfnis nach Form eigne. Aber diese 'Bedürftigkeit' des Stoffes nach Formung bleibt für Aristoteles ein negatives Moment. Sie zeigt nur an, wiefern das Mögliche hinreicht, um die Wirklichkeit einer Form anzunehmen; nicht aber worin das dynamische Moment besteht, durch welches die Formverwirklichung tatsächlich geschieht. Daher geben auch alle Stellen bei Aristoteles, wo der Mesotes ein Schein von schöpferischer Mitte anhaftet, nichts her, um die Frage der Koinzidenz in seinem Lehrgebäude zu situieren." (Hoffmann in Kues, S. 22)

Die Wende zu einem neuen Verständnis des Dritten sieht Hoffmann bei Dionysius Areopagita, ein christlicher Philsoph, der Anfang des 6. Jahrhunderts wirkte. Er lehrte:

"Es ist uns nicht gegeben zu erkennen, was Gott ist; sondern es kommt darauf an, daß wir Gott haben. Nicht das Erkennen, sondern das Erleben steht in Frage." (Hoffmann in Kues, S. 30)

Das ist zugleich der Grundgedanke von Heidegger. Wird das Erleben durch die existenzielle Erschütterung ersetzt, dann ist Heideggers Grundgedanke erreicht.

Nach meiner Meinung sind die Ausführungen von Aristoteles zur Formlosigkeit anders zu verstehen, siehe dazu den Beitrag "Steresis - eine Lehre des Fehlenden und Neinsagens" (Link). Die Formlosigkeit ist nicht nur ein Mangel, sondern eine Verneinung, wenn etwas nicht seiner Natur entspricht. Im Zustand der Abweichung von der eigenen Natur ist nicht nur ein Mangel festzustellen, sondern dieser Zustand enthält in sich den Impuls, diese Abweichung zu erkennen, zu kritisieren und die Bewegung zu ihrer Überwindung auszulösen. Wenn Aristoteles diesen Gedanken innerhalb seiner Physik entwickelt, verstehe ich ihn so, dass für ihn das genaue Studium der vergänglichen (physischen) Prozesse zeigt, wie der Mangel die letzte Ursache dafür ist, dass es zu einer Bewegung kommt. Gäbe es keinerlei Mangel, wäre auch keinerlei Bewegung notwendig. Hegel hat das in seinen Ausführungen zum Urteil des Begriffs aufgegriffen (siehe Anmerkung [6]), jedoch mit der Neigung, hier eine rein geistige Entwicklung zu sehen und nicht wie Aristoteles das Werden der Natur (physis). Aristoteles hat auch bereits in Grundzügen die Frage nach dem Medium gestellt, in dem dieser Prozess erfolgen kann, und dieses in der Zeit gesehen, wovon die Physik nach Darstellung der drei Prinzipien von Stoff, Form und Formlosigkeit handelt. Ohne Zweifel ist die Frage nach dem Medium bei Kues wesentlich deutlicher, sie lässt sich jedoch nach meinem Verständnis als eine Weiterentwicklung und weniger als eine Kritik an der Tradition von Aristoteles verstehen.

Nun ein wenig genauer zum Text von Kues. Als Philosoph der katholischen Kirche beruft er sich auf das Alte Testament, wonach dem Menschen von Gott die Schöpferkraft verliehen wurde, und auf die seinerzeit intensiv diskutierten Weisheits-Schriften des Hermes Trismegistus (Kues, S. 70), die als Zeugnis frühesten Wissens galten. In ihnen wurde ähnlich wie in den orphischen Überlieferungen ein Ur-Text heiligen Wissens gesehen, das den unterschiedlichen Religionen zugrunde liegt. (Erst 1614 hat Isaak Casaubons mit einer textkritischen Analyse nachgewiesen, dass sie keineswegs so alt sind wie angenommen, sondern wahrscheinlich aus dem 2. Jahrhundert stammen.) In einer Fußnote ergänzt der Übersetzer Karl Fleischmann das Originalzitat:

"Wohl wissend, daß er (der Mensch) ja ein zweites Bild Gottes ist, von dem es zwei Abbildungen gibt, die Welt und den Menschen." (Hermes Trismegistus, in: Kues, S. 136 Fn. 17 zu S. 70).

Kues will zeigen, wie es der Beryll dem Menschen ermöglicht, sowohl die Vielfalt der Erscheinungen eines Gegenstandes zu sehen und zu messen, wie auch innerhalb dieser Vielfalt die vorgängige Einheit. Er versteht die gemessenen Quantitäten als die Streuung der inneren Einheit, die durch den Beryll bewirkt wurde. Wenn erkannt ist, dass es sich um eine Streuung handelt, dann öffnet das das Verständnis, wie der Streuung etwas zugrunde liegt, was gestreut werden kann. Der Beryll vermittelt für ihn daher zwischen einer Größe auf der einen Seite, die wie Gott "vor aller Quantität" liegt (Kues, S. 75) und deren innere Einheit gestreut werden kann, und den gemessenen Quantitäten auf der anderen Seite, die sich auf das gestreute Bild beziehen. Damit wandelt er das Höhlen-Gleichnis von Platon radikal um. Für ihn gibt es nicht mehr das volle Licht außerhalb der Höhle und die Schattenbilder innerhalb der Höhle, die nur ein radikal reduziertes Bild des Lichtes zeigen, in denen die Farb- und Leuchtkraft verloren ist, die nur außerhalb der Höhle im vollen Licht zu sehen sind, sondern das gebrochene Licht zeigt die Fülle des Lichtes, jedoch auseinander gelegt in ein Spektrum. Hier zeigt sich gegenüber Platon sein christlicher Ansatz: Gott verwirklicht sich in der Welt in seiner Fülle und nicht nur als blasser Schatten. In der Auseinanderlegung in das Spektrum ist jedes einzelne Phänomen nur eine Messung, aber der Mensch ist in der Lage, die Gesamtheit der zusammengehörigen Messungen zu erkennen und mit ihnen die übergreifenden Begriffe von Größe, Harmonie und Schönheit, die sich in der Gesamtheit der Messungen zeigen.

Kues versteht die von Aristoteles eingeführten Kategorien wie Substanz, Quantität, Qualität als Eigenschaften der gemessenen Phänomene und fragt nach Begriffen, die ihnen vorausgehen. Wer nach dem Sein von Gott fragt, bleibt für ihn daher auf der Ebene des verstandesmäßigen Denkens, das an Kategorien gebunden ist. Im Sinne des kategorialen Denkens hat Gott kein experimentell nachweisbares Sein. (Das gilt ebenso für verwandte Begriffe wie die Seele, die sich nie experimentell nachweisen lassen.) Aus Sicht des kategorialen Denkens können sie nur negativ bestimmt werden (Kues, S. 76).

Um das zu veranschaulichen, wählt Kues den Begriff des Punktes. Für sich genommen hat er kein Sein, denn er ist dimensionslos und seine gemessene Größe ist Null. Und doch liegt er nicht wie die platonischen Ideen außerhalb des Seienden, sondern ist an ihm zu erkennen.

"Aber kein Punkt findet sich losgelöst vom Körper, Fläche oder Linie, deswegen, weil er das innere Prinzip ist, das ihnen Unteilbarkeit verleiht. Die Linie aber hat mehr Anteil an der Einfachheit des Punktes als die Fläche, und die Fläche mehr als der Körper, wie ganz klar geworden ist. Von dieser Betrachtung des Punktes und des Körpers steige auf zum Abbild der Wahrheit." (Kues, S. 84)

Der Begriff der Größe wird unabhängig von Mehr oder Minder, also von Quantität gesehen. Wenn das Größte und das Kleinste zusammenfallen, dann wird ein Begriff der Größe erreicht, die sich jeder Messung entzieht. Als Symbol für diesen Sprung wählt Kues den Beryll, der konkav und konvex geschliffen sowohl als Lupe wie als Fernrohr dienen kann.

"Aller Art-Inbegriff bleibt sich in der Größe gleich. Die Größe muß jedoch etwas anderes sein als Quantität, da Quantität ja ein Mehr oder Minder aufnimmt. Sie ist vielmehr substantielle Größe, vor aller sinnlich wahrnehmbaren Quantität." (Kues, S. 121)

Dieser Begriff der Größe geht der jeweils gemessenen einzelnen Größe voraus. Er verhält sich zur Vielfalt der Messergebnisse wie das vom Prisma polarisierte Licht zum einheitlichen Lichtstrahl.

"Und so kann der Art-Inbegriff Form genannt werden, die kein Mehr oder Minder aufnimmt: verleiht er doch dem Substrate Form oder Schönheit, gleichwie alles Schöne auf Maßverhältnis beruht. Denn dort leuchtet die göttliche Vernunft in ihrem Abbild hervor, wo Harmonie Maß bringt und Eintracht." (Kues, S. 122)

Mit diesem Begriff der Größe versteht Kues die Mathematik und kommt hier in Übereinstimmung mit Aristoteles. Begriffe von der Art dieser Größe, die den messbaren Quantitäten vorausgehen, sind für ihn der Stoff der Mathematik. Die Mathematik im Ganzen ist dann eine Polarisation, die den einheitlichen Stoff der Größe aufspaltet in die Vielfalt der Größen, mit denen mathematisch operiert werden kann.

"Die Mathematik beschäftigt sich mit einem Stoff, der geistiger Art ist, wie Aristoteles sich zutreffend ausdrückt (Met. 1036a). Diese ihre Materie ist Größe, ohne die der Mathematiker nicht auffassen kann. Doch einfacher als stetige ist unterschiedliche Größe. ... Alles geistige Erfassen ist nicht möglich ohne Größe. ... Die erste Substanz geht notwendig in ihrer Einfachheit aller Art von Akzidenz voran, sei es nun im sinnlichen oder im mathematischen, vom Sinnlichen losgelösten Sein. Und darum kann sie nicht wahrgenommen werden durch unsere Vernunft, die dem Körper oder der Quantität verhaftet ist, als dem Werkzeug zum Begreifen." (Kues, S. 123)

Der Begriff Größe ist mit diesen Ausführungen noch nicht recht entfaltet, aber die Richtung ist erkennbar. Kues sieht Punkt, diskrete und kontinuierliche Größe als Grundbegriffe der Mathematik, bevor Quantität gezählt oder gemessen werden kann. Er hält die Größe für die geistige Materie der Mathematik. Es ist für mich schwer zu verstehen, warum er sich nicht neben der Größe auch mit dem Continuum beschäftigt hat. So weit ich Aristoteles verstehe, ist das Zusammenhängende (Kontinuum, synecheia) die Materie der Mathematik. – Zu diesem Thema ist ein Beitrag über den Begriff der Größe (megethos) bei Aristoteles in Vorbereitung, der sich vor allem auf die Eudoxos-Studien von Oskar Becker und das Buch "Aristoteles und Eudoxos" von Waschkies beziehen wird.

Nach Kues bleibt Aristoteles innerhalb der kategorialen Ebene und will deren Grundzüge mithilfe des Organon (Kategorienlehre, formale Logik, Topik und Kritik an sophistischen Trugschlüssen) erkennen und sichern, aber nicht darüber hinausgehen. Dagegen zeigt für Kues das Alte Testament einen Weg, der weiter führt, wenn es die Grundlagen der bestehenden Welt mit dem Wollen Gottes erklärt.

In seiner Kritik an Aristoteles geht es Kues letztlich weniger um einen seiner Meinung nach unvollständigen Begriff des Mangels, sondern darum, dass Aristoteles die jeweilige Form ausschließlich an der Natur misst. Für ihn ist Gott dagegen nicht an die Natur gebunden und zeigt sein Wesen auch nicht nur in den in der Natur erkennbaren Maßen, sondern geht in seinem Wollen grundsätzlich auf ähnliche Weise über die Natur hinaus, wie der von Kues gemeinte Begriff der Größe über die gemessene Quantität hinausgeht.

"So sehen wir die gesamte Schöpfung als Wollen des allmächtigen Willens. Das wußte weder Platon noch Aristoteles. Offenkundig glaubten beide, die Schöpfer-Vernunft erschaffe alles aus der Notwendigkeit der Natur; und daraus folgte ihr ganzer Irrtum." (Kues, S. 98)

Statt von der Natur auszugehen, an der gemessen Form und Formlosigkeit erkannt werden können, geht er von der in Gott liegenden Überfülle aus, aus deren Unendlichkeit die Natur geschaffen wurde.

"Wenn Aristoteles das Prinzip, das er Privation nennt, in dieser Weise verstanden hätte, daß nämlich dieser  Mangel  des Noch-nicht-seins  Fülle  des Ursprungs wäre, welcher notwendig in seinem Begriff das Zusammenfallen von Gegensätzen fordert, und dem  darum  jede Gegensätzlichkeit fehlt, weil er der Dualität vorhergeht, die für Entgegengesetztes nötig ist, dann hätte er richtig gesehen." (Kues, S. 101)

Es ist sicher zuzustimmen, dass der Begriff der Natur (physis) nicht mit dem Begriff der Überfülle übereinstimmt. Das hat meiner Meinung jedoch bereits Aristoteles gesehen und daher den weiter gehenden Begriff der dynamis eingeführt, die die Unbegrenztheit der verborgenen Potenz enthält, aus der alles hervorgeht. Mit Überfülle wird eine Eigenschaft betont, die Aristoteles in dieser Deutlichkeit noch nicht gesehen hat, die sich jedoch auf seinen Begriff der dynamis beziehen lässt.

Als Beispiel, was er mit Überfülle meint, wählt Kues wiederum den Punkt und will daran zugleich die Differenz zu Aristoteles zeigen. Der Punkt ist formlos (und im Grunde auch stofflos). Gerade deshalb können aus ihm alle Formen entstehen. Das sind die geometrischen Figuren wie die Linie und der Körper. Hier zeigt sich überall die Fülle, die aus dem Punkt hervorgeht.

"Geteiltwerden können kommt aber vom unteilbaren Stoff, der nicht auf Grund seiner Einheit unteilbar ist wie die Form, oder auf Grund seiner Kleinheit wie die Verknüpfung, vielmehr infolge seines Nichtgeformtseins, als etwas, das auch kein Sein hat." (Kues, S. 103)

Dies muss für Kues in Gott begründet werden und kann nicht durch den Verstand begründet sein, der vielmehr an den Paradoxien des Punktes scheitert (so die Paradoxien des Zenon, von denen Aristoteles in der Physik spricht). Kues ist der Meinung, dass auch die von Aristoteles eingeführten Begriffe des Möglichen (dynamis) und Wirklichen (energeia) dafür nicht geeignet sind, da weder das eine Prinzip des anderen sein kann noch umgekehrt und beide gleichberechtigt sein müssten. Es muss wiederum etwas Drittes geben, worin sie sich treffen, und das ist für Kues das vom ihm eingeführte Prinzip der coincidentia oppositorum.

Zusammenfassend verstehe ich das Anliegen von Kues so, mit dem Beryll ein Medium zu finden, in dem die Überfülle des göttlichen Einen aufscheinen kann. Dies Medium kann nur "funktionieren", wenn es im Innern durch das Prinzip der coincidentia oppositorum gepägt ist, wodurch es in der einen Richtung das Eine in das Vielfältige streut und in der anderen Richtung im Vielfältigen den Blick auf das Eine öffnet. Dieser Ansatz sollte eine neue Interpretation von Aristoteles' Schrift über die Seele ermöglichen, um zu erkennen, wie weit Aristoteles bereits in diese Richtung gedacht hat und wo es bei ihm wie von Kues behauptet innere Schranken gibt. Hier wäre auch der Anima-Kommentar von Picht aufzunehmen, der zwar nirgends Kues erwähnt, aber inhaltlich eine ähnliche Kritik an Aristoteles und Hegel entwickelt, den Picht als Nachfolger von Aristoteles versteht.

Literatur

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert. Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1969-1971 (zitiert als HW); Link

Ernst Hoffmann: Methexis und Metaxy bei Platon
in: ders.: Drei Schriften zur griechischen Philosophie, Heidelberg 1964

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787) (zitiert als KrV)

Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus): Über den Beryll, Leipzig 1938

Georg Picht: Von der Zeit, Stuttgart 1999

2014

 


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