Walter Tydecks

 

4. Von der Nachtseite der Naturwissenschaft

Emanzipation eines dunklen Kontinents

Jetzt folgt ein großer Sprung von Platon zu Kepler, von der Sonnenseite zur Nachtseite. Nachtseite: Das ist der Wechsel aus der Nähe des Orients in den Okzident, aus dem klassischen Athen auf der Höhe seiner Kultur nach dem Sieg über die Perser in den zerrissenen deutschsprachigen Raum kurz vor Ausbruch des 30-jährigen Kriegs, von der Antike zum Christentum, aus der Epoche der erwachenden Wissenschaft in die Umgebung von Alchemie und Astrologie, vom selbstbewußten Adligen aus der Elite der Sklavenhalter zum Sohn eines Söldners, vom Denker der mathematischen Ideen zum "Rechenknecht", vom Freund der Großen aus der Nachfolge des Perikles zum Angestellten am kaiserlichen Hof, der bis zu seinem Tod erfolglos um die Zahlung des ihm zugesagten Einkommens kämpfen mußte.

Jahrhundertelang war in der Abgeschiedenheit und Rückständigkeit Nordwesteuropas ein eigener Weg verfolgt worden gegenüber den großen Reichen des Nahen und Fernen Ostens, allerdings lange Zeit kaum erkennbar unter der politischen Hülle der selbsternannten Nachfolger des Römischen Reiches. Die Serie der Bauernaufstände und der Handwerkerrevolten in den neu aufstrebenden Städten riss nie ab, auch wenn sie mit Ausnahme des Unabhängigkeitskampfes der Schweizer Eidgenossen samt und sonders gescheitert waren. Sie hatten aber eine eigene Tradition begründet, deren erster wirklich großer Sieg mit der Revolution 1789 in Frankreich gelingen sollte. Die Schattenseiten und Widersprüche dieses Sieges sind bekannt und bis heute ist offen, welche Nachwirkungen und neuen Wenden hiervon noch ausgehen werden. Aber erstmals konnte selbstbewußt und im Vertrauen auf eine eigene Perspektive von den Nachtseiten gesprochen werden. Mitgerissen von der Französischen Revolution stellte die Romantik in Deutschland die Nachtseiten in den Mittelpunkt ihrer eigenen Vision. Nachtseiten: Das umschließt ein Denken ausgehend von der Natur ebenso wie ausgehend von einem neuen Verständnis des Geistes des Menschen, von der abgebrochenen Tradition der Göttinnen der Nacht wie den verborgenen Seiten dunkler, untergegangener Kontinente. Dies konnte nur eine erste Ahnung bleiben, stand in gefährlicher Nähe zu okkultistischen Strömungen und ihrer häretischen Geschichte bzw. jesuitischen Unterwanderung und geriet allzu schnell in den Taumel aller Enttäuschungen über das Schicksal der Französischen Revolution, spätestens als deren "Nachlaßverwalter" Napoleon sich als neuer Kaiser ausgab und ganz Europa unterwerfen wollte. Aber es blieb Zeit genug, dass 1808 in Dresden Gotthilf Heinrich Schubert Vorlesungen halten konnte über die "Ansichten von der Nachtseite der Natur". Unter den Zuhörern waren auch Kleist und Caspar David Friedrich, die auf ihre Art die Nachtseiten zu gestalten vermochten. Für Schubert ist Johannes Kepler der wichtigste Vertreter der nachtseitigen Naturwissenschaft.

Mit der Enttäuschung über die Entwicklung in Frankreich wurde diese Sichtweise sehr schnell wieder radikal eingeschränkt. Das gerade erst aufkommende Bewußtsein eines eigenen Weges zersplitterte in nationale Sonderwege, gab sich selbst auf in Bekenntnissen zum Katholizismus bzw. dem preußischen, protestantischen Obrigkeitsstaat und verlor sich ganz, als der Triumph der überlegenen industriellen Technologie zum Wettlauf um die Aufteilung der Welt führte. Kepler aber blieb in aller Bewußtsein. Seine Faszinationskraft war ungebrochen und jeder wollte ihn für seine Ziele einspannen. So wurde er in der Folge als der typische Vertreter und Hoffnungsträger eines neuen nordischen und schließlich noch weiter eingegrenzt deutschen Typs von Wissenschaft ausgegeben.

Der Konflikt Nord contra Süd, das waren zu seiner Zeit (um 1600) erst die Türkenkriege und dann die Kriege von Reformation und Gegenreformation. All der Haß und die Wunden wurden neu aufgewühlt, die sich angesammelt hatten seit dem Einfall der römischen Legionen in den Norden, der Völkerwanderung der Mongolen und unter ihrem Druck der Germanen nach Westen und Süden und der blutigen Christianisierung des Nordens und Ostens. Aber am Ende dieser Kriege stand die Unabhängigkeit von England (nach dem Sieg über die spanische Armada), der Niederlande (nach dem Aufstand gegen Spanien) und Schwedens (nach seinen Erfolgen im 30-jährigen Krieg).

Schon um 1500 war die Renaissance nach Norden abgedrängt, als die oberitalienischen Städte zum Spielball Frankreichs und Spaniens geworden waren und nach der Entdeckung und Ausplünderung Amerikas durch Europa die Zeit Venedigs endgültig abgelaufen war. Kopernikus lehrte in Polen, und Bruno bezahlte mit dem Leben, als es ihn immer wieder zurück nach Italien zog.

Vorschnelle Vereinfachungen sind aber nicht angebracht. Immerhin hatten über mehrere Jahrhunderte die Folgen des Germanensturms gen Rom schwer auf Europa gelastet. Die Brutalität der merowingischen und frühen karolingischen Machthaber im Nordwesten kann sicher nicht als historischer Fortschritt verstanden werden. Die Renaissance wäre nicht möglich gewesen, hätten nicht erst die norditalienischen Städte die Vorherrschaft der deutschen Kaiser abgeschüttelt, die sich als Erben Roms aufführten, und Frankreich das Joch Englands.

Der Sieg Spaniens über die Mauren führte um 1500 zur Vertreibung der Juden erst nach West- und dann weiter nach Osteuropa. Ein klassisches Volk aus dem Süden war gezwungen, eine neue Heimat zu suchen mitten in einem Raum, der gerade unter größten inneren Spannungen dabei war, sein eigenes Selbstbewußtsein zu finden. Das hat zum einen die Entwicklung ungeheuer beschleunigt und ständig neue Impulse gegeben, nicht die verhängnisvolle Konfrontation Nord contra Süd und einer Religion oder Konfession gegen eine andere, sondern eine neue Toleranz und Einheit zu suchen. Keiner der großen Entwicklungsschritte im Norden wäre so abgelaufen ohne den Einfluß von Juden wie Spinoza, Marx oder Freud. Umgekehrt konnte aber immer das Gefühl mobilisiert werden, dass der Norden wegen der Juden nie zu seiner wahren, bodenständigen Identität gefunden habe und um diese weiter kämpfen müsse. Im 19. Jahrhundert hat das schließlich so weit geführt, dass sich der Norden wiederum als der wahre Erbe Roms verstand, nun im Kampf gegen Jerusalem. Das war die schier unglaubliche Konsequenz, die in Basel Bachofen aus seiner Beschäftigung mit dem Mutterrecht gezogen hatte und wo ihm natürlich in den 1920er Jahren Baeumler begeistert folgte.

Prag um 1600, etwas Extremeres lässt sich kaum denken. Wie in einem Treibhaus scheinen alle Konflikte angelegt, die sich später in den Metropolen als Begleiter aller Revolutionen wiederholen sollten (Paris, London, Wien, St. Petersburg, Berlin und in gewisser Weise New York). Hier mußte etwas losbrechen. Und so ist es eine gespenstisch lange Zeit, als sich dort 1576 - 1612 der Kaiser Rudolf II (1552 - 1612) aufgehalten hatte. Politisch hätte er zur Partei der Gegenreformation gehören sollen, hatte sich aber weitgehend von der Politik abgewandt und auf seinen Herrschaftssitz zurückgezogen. Durch ihn wurde Prag Zentrum der Alchemie. Politische Intrigen konnten daher zu seiner Zeit nur unter der Maske mysteriöser Symbole aus dem Bereich der Anfänge der Naturforschung gesponnen werden. Und umgekehrt gerieten dadurch die vielversprechendsten frühen Wissenschaftler in einen Sog, der sie oft genug in die persönliche Katastrophe trieb.

Der wichtigste ist John Dee (1527 - 1608). In Cambridge, Antwerpen, Löwen und Paris lernte er Mathematik, Logik, Alchemie und Magie und studierte ebenso intensiv die philosophische Tradition von Roger Bacon, Ficino, Mirandola, Agrippa von Nettesheim wie die klassische Geometrie von Euklid. 1558 – 1570 entstanden seine wichtigen Werke über die Monadologie und schließlich das Vorwort zur englischen Übersetzung der "Elemente der Geometrie". Er gilt als der erste englische Wissenschaftler und hat auf zahlreichen Gebieten gearbeitet. Berühmt wurden auch seine geographischen Arbeiten und seine Bibliothek, die zu dieser Zeit in England eine Spitzenstellung einnahm.

1582 lernte er Edward Kelley (1555 - 1597) kennen. Unter dessen Einfluß gab er seine mathematischen Studien auf und ließ sich auf spiritualistische Geistersitzungen ein. Wie magisch war er angezogen von Prag, wo er sich dann 1584 - 89 gemeinsam mit Kelley laufend aufhalten sollte. Auf seinen Wegen könnte er Giordano Bruno (1548 - 1600) begegnet sein. Der hatte während seines Aufenthaltes in London 1583 - 1586 seine Hauptwerke geschrieben und war ebenfalls in diesen Jahren ständiger Gast am Hofe Rudolf II in Prag. Bis heute ist unklar, inwieweit sie zugleich geheime politische Missionen zu erfüllen hatten.

Wie wenig abwegig das ist, zeigen andere Personen im Umfeld Rudolfs. Sein Leibarzt war Michael Maier (1566 - 1622). Der war ein Freund von Robert Fludd (1574 - 1637), ebenfalls aus England. Beide waren stark beeinflußt von den Ideen John Dees, insbesondere dessen Monadologie, und standen zugleich in Kontakt mit den Vorbereitungen im protestantischen Lager, nach dem zu erwartenden Tod Rudolfs II eine hegemoniale Position zu erobern. Unmittelbar nach dessen Tod wurde 1613 die Hochzeit Friedrich V aus Heidelberg mit der englischen Königstochter Elisabeth gefeiert und innerhalb weniger Jahre erschienen 1617 - 1620 in Oppenheim/Rhein in der Nähe von Heidelberg zahlreiche Werke von Maier und Fludd, die mit der "Chymischen Hochzeit" von Andreä (1586 - 1654) die "Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes" begründeten. Diese Ideen waren natürlich nicht aus heiterem Himmel gefallen, sondern in all den Jahren in Prag im geheimen vorbereitet worden. Nur vor diesem Hintergrund ist auch der geradezu euphorische Geist des 1620 in England veröffentlichten "Novum Organum" von Francis Bacon zu verstehen (Stichwort: Begründung der induktiven und experimentellen Methode). Einen Moment lang gab es die Hoffnung, entlang der Achse London - Amsterdam - Heidelberg - Prag ein Übergewicht über die katholischen Kräfte zu organisieren. Doch nur für einen Winter 1619 - 20 sollte Friedrich V in Prag herrschen.

Aber noch mehr kam zusammen in Prag. Unter Rudolf II war Böhmen erstaunlich tolerant, jedenfalls wenn es mit den viel härteren Jahren zuvor und erst recht denen danach, nach dem Sieg Österreichs und der Gegenreformation verglichen wird. Zu seiner Zeit war die protestantisch-hussitische Kirche immer noch sehr stark. Und zugleich entwickelte sich Prag in dieser Zeit zu einem Zentrum des kabbalistischen Denkens. 1573 - 1582 lehrte Rabbi Löw (1525 - 1609) in Prag und war von 1597 bis zu seinem Tod dort Oberrabíner. 1592 soll er auch persönlich Rudolf II getroffen haben. Durch seinen Schüler David Gans, einem Astronomen, wurde er persönlich mit Tycho Brahe bekannt. Mit Sicherheit kann daher angenommen worden, dass die neuen kabbalistischen Ideen, die nur wenige Jahre zuvor Isaak Luria (1533 - 1572) in Safed / Palästina entwickelt hatte (die Idee des sich von der Welt zurückziehenden Gottes) auch in Prag bekannt waren. Sollte nun doch im Herzen Europas eine Wende zum Positiven gegen das dominierende Spanien (Habsburg) möglich sein? Umgekehrt sind dann - wie Martin Buber bemerkt - wenige Jahrzehnte später nicht nur die Arbeiten Spinozas, die ab 1663 in den Niederlanden geschrieben wurden, eine Reaktion auf die neue Katastrophe, die erst in Prag und dann ganz Mitteleuropa hereinbrach, sondern ebenso der verzweifelte Auftritt des Sabbatai Zwi als Messias 1665 - 66 in Palästina, um den Juden in einer sich wieder radikal verdunkelnden Umgebung eine neue Hoffnung zu geben. Der Hohe Rabbi Löw aus Prag wiederum wurde später Mittelpunkt zahlreicher Legenden und galt als Verfertiger eines Golem.

Damit noch nicht genug, rief Rudolf II 1599 Tycho Brahe (1546 - 1601) an seinen Hof, der 1576 in Uraniborg in Dänemark das erste wissenschaftliche Institut der Neuzeit aufgebaut hatte. Seine sorgfältigen Beobachtungen und Aufzeichnungen stehen in völligem Widerspruch zu allen spekulativen Arbeitsweisen der Astrologen und Alchemisten seiner Zeit. Durch ihn kam 1599 auch Johannes Kepler (1571 - 1630) nach Prag, und wurde nach dessen unerwarteten Tod 1601 sein Nachfolger als Hofastronom. An ihrer Seite arbeitete in Prag als Hofuhrmacher und Instrumentenmacher der Schweizer Joost Bürgi, der lange vor Neper die ersten Logarithmentafeln "erfunden" hat.

Konnte die Stimmung, die damals in Prag geherrscht haben mag, besser eingefangen werden als in den Gemälden von Giuseppe Arcimboldo (1527 - 1593), der 1562 - 1587 in Prag als Maler, Bühnenbildner und Ingenieur angestellt war, und Bartholomäus Spranger (1546 - 1611), der 1581 - 1611 überwiegend in Prag lebte?

Es mußte wie ein Wunder wirken, als ausgerechnet in diesen Jahren am Sternenhimmel 1572 und 1604 zwei Supernovae erschienen, die mitten in die Zeit der Beobachtungen von Brahe und Kepler fielen. Mit ihrer außergewöhnlichen Helligkeit sehen sie aus wie neue, kurzlebige Sterne. Aus der Geschichte der Menschheit sind nur 3 weitere Supernovae bekannt, die ohne Teleskop beobachtet wurden, seit 1604 keine einzige mehr. Sie zeigen noch weit beeindruckender als Kometen, wie die Schöpfung des Alls weiter in voller Dynamik steht, dass in einem umfassenden Sinne die Natur lebt und geradezu einmaliger Ereignisse fähig ist. (Im 20. Jahrhundert haben die Theorien zu ihrer Erklärung die Astronomie völlig umgewandelt. Supernovae werden heute als Explosionen von Sternen in der Endphase ihrer Geschichte erklärt. Bei besonders großen Sternen schlägt die Explosion in einen Gravitationskollaps um, der zu einem Schwarzen Loch führt.)

Der Physiker Wolfgang Pauli hat in wenigen Worten das Lebensschicksal Keplers zusammengefaßt:

"Kepler ist 1571 in dem württembergischen Städtchen Weil geboren. Er wurde als Protestant erzogen, von seinen Eltern ursprünglich sogar zum geistlichen Stand bestimmt, geriet aber bald durch sein Bekenntnis zur kopernikanischen Lehre in Konflikt mit der in Württemberg herrschenden evangelischen Theologie. Mästlin, sein Lehrer in Mathematik und Astronomie, vermittelte ihm eine Lehrstelle in Graz. Als Kepler von Graz aus an Mästlin seine Erstlingsarbeit, das Mysterium Cosmographicum, sandte, damit sie in Tübingen im Druck erscheine, geriet Mästlin in eine neue Verlegenheit. Der Senat erhob Einwendungen, weil die dem Werk zu Grunde liegende Lehre von der Bewegung der Erde das Ansehen der Heiligen Schrift beeinträchtigen könne. Die Schwierigkeiten wurden aber schließlich überwunden, das Werk erschien. Doch neue Schwierigkeiten entstanden für Kepler: Ferdinand II wurde Landesherr von Steiermark und führte die Gegenreformation in seinen Ländern strikte durch. Als Protestant wurde Kepler bei Todesstrafe des Landes verwiesen. Glücklicherweise brachte ihn das mit Tycho Brahe in Berührung, der nach dem Tode seines Gönners Friedrich II von Dänemark von seiner berühmten Sternwarte Oranienborg auf der Insel Hven, einem Ruf Kaiser Rudolfs II folgend, im Jahre 1599 nach Prag übersiedelt war. Von Prag aus erfolgte in diesem Jahre Tychos Ruf an Kepler, eben als er aus Graz vertrieben wurde. Das Zusammenarbeiten der beiden Astronomen in Prag war ein überaus fruchtbares. Tycho starb zwar bereits zwei Jahre später, doch konnte Kepler aus Tychos genauen Beobachtungen seine ersten beiden Gesetze ableiten. Die Kreise wurden durch Ellipsen ersetzt (1609), eine große Umwälzung in der Astronomie! Nach dem Tode Rudolfs II siedelte Kepler nach Linz über. Viel Energie mußte Kepler aufwenden, um seine Mutter in dem gegen sie geführten Hexenprozeß zu verteidigen. Eine in der Nachbarschaft von Keplers Mutter wohnende Frau war erkrankt und hatte behauptet, sie sei von dieser behext worden. Es gelang Kepler schließlich, die Mutter vor der Folter und dem Scheiterhaufen zu bewahren. Im Jahre 1619, in welchem Kepler sein Hauptwerk Harmonices mundi veröffentlichte, bestieg Ferdinand II den Kaiserthron. Die Verfolgungen der Protestanten nahmen zu, und Kepler mußte 1626 sogar seine Stelle in Linz aufgeben. Nachdem Verhandlungen mit Wallenstein durch dessen Sturz und spätere Ermordung ein Ende fanden, begab sich Kepler im Jahre 1630 nach Regensburg, um dort auf dem Reichstage seine finanziellen Forderungen geltend zu machen. Seine Gesundheit war bereits geschwächt, und er erlag den Strapazen und Aufregungen dieser Reise kurz nach seiner Ankunft in Regensburg. Er wurde vor den Toren dieser Stadt begraben; der Dreißigjährige Krieg hat aber bald darauf jede Spur seines Grabes verwischt." (Jung / Pauli, S. 115-117)

Schon diese Kurzbiographie zeigt, wie wenig es aussagt, von einem Konflikt Nord gegen Süd zu sprechen: Die Protestanten hielten in ihrer Buchgläubigkeit strenger an der Kritik an Kopernikus fest als manche Katholiken. Und doch ist es kein Zufall, dass dessen Arbeit die erste große wissenschaftliche Leistung war, die weit aus dem Norden kam. In den meisten Gebieten verfolgten die Katholiken jeden Protestanten. Auf beiden Seiten gab es Ausnahmen, wie den dänischen König, der die astronomische Forschung unterstützte, und Kaiser Rudolf II, der an neuen alchemistischen und astronomischen Erkenntnissen interessiert war. Von den Katholiken wurden im Zuge der neuen Welle der Gegenreformation erneut der Aberglaube und konkret seit 1580 die Hexenverfolgung geschürt, die dann aber ihre letzte Phase im protestantischen Norddeutschland erlebte. Luther hatte sich ja schon immer eines besonderen Verhältnisses zum Teufel gerühmt. Es gehörte zu den weniger bekannten Amtshandlungen Leibniz' in Hannover, die Hexenverfolgung in diesem Gebiet schließlich offiziell per Dekret zu beenden.

Kepler war offen für alle Ideen seiner Zeit. Am Ende zählte für ihn aber nur, was aus der Naturbeobachtung gewonnen und mit ihr bestätigt werden konnte. Daher nahm er bewußt inkauf, dass seine verschiedenen Ideen nie ein geschlossenes System ergaben, sondern im Gegenteil eher voller innerer Widersprüche blieben:

Während die Keplerschen Gesetze zum festen Bestand der Physik und Astronomie geworden sind, sind seine anderen Ideen fast ganz vergessen oder in oberflächlicher Weise vereinnahmt von neuen Wellen des Aberglaubens. Und das ist ausgerechnet einem Mann geschehen, der seine eigene Mutter vor der Hexenverfolgung schützen mußte. So bleibt am Ende das Bild eines Naturforschers und Mathematikers, der in keine Tradition paßt und von einer Fülle von Vorstellungen getragen war, die nie weiter geführt worden sind. Kepler steht seit seiner Wiederentdeckung in der Romantik für die Vision ungeahnter neuer Möglichkeiten auf dem Boden der Mathematik und auf deutschem Boden. Er steht für die Ahnung, dass auf der Nachtseite noch Vieles verborgen liegt, was bisher keiner hat heben können.

Mit einem Wort: Seit den Vorlesungen von Gotthilf Heinrich Schubert 1808 in Dresden gilt Kepler als der einzige, der "Eingang in das innerste Heiligtum der Naturwissenschaft gefunden" hat.

"Der Vorhang öffnet sich ein wenig, um hernach, vielleicht auf Jahrhunderte, das innere Licht wieder desto dichter zu verhüllen. Wie der Mensch in der neueren Zeit als etwas Besonderes aus der Harmonie mit dem Ganzen hervorgetreten, hat sein Verstand alle andre Wesen in diesen Abfall mit verstrickt, und sehr vielfältig abgerissene, bloß durch einigen mechanischen Zusammenhang verbundene Dinge in die lebendige Natur hineingedichtet. Deshalb ist jener Riesenschritt Keplers, ist das Licht, welches der deutsche Sinn für alle Zeiten angezündet, anfangs dem Anschein nach ohne Einfluß geblieben." (Schubert, S. 14)

Unverkennbar verbindet Schubert mit Kepler eine Vision. Kepler sei es gelungen, am Beginn der Neuzeit wissenschaftliches Arbeiten mit einem Blick auf die Natur zu vereinen, der seit dem Untergang von Atlantis, seit dem Ende des Goldenen Zeitalters endgültig verloren schien. Je unbestimmter dies bleibt, desto einfacher konnte die von ihm fast magisch ausgehende Wirkung für nationalistische "Revolutionen" mißbraucht werden.

Wie sah Kepler selbst seine Vision?

Zusammenspiel qualitativer und quantitativer Fragen

Schon 1596, im Alter von 25 Jahren, hatte Kepler die Idee, wie die Planetenbahnen in einem Schalenmodell angeordnet werden können. Er fügte immer abwechselnd die platonischen Körper und zwischen ihnen Kugeln ineinander: Die Umlaufbahn des Saturn bewegt sich auf der äußersten Kugel. Dieser ist ein Würfel einbeschrieben und im Innern des Würfels befindet sich eine weitere Kugel, auf dessen Oberfläche die Umlaufbahn des Jupiter verläuft. Dieser Kugel folgt im Innern ein Tetraeder und so weiter bis zur kleinsten Kugel, auf dessen Oberfläche die Bahn des Merkur liegt. In der folgenden Tabelle sind in den ersten beiden Spalten die Planeten und Körper nach dem Modell von Kepler und in der dritten und vierten Spalte ergänzend die den regelmäßigen Polyedern von Platon zugeschriebenen Elemente und Zahlen zusammengestellt:

  Planet Polyeder Element Zahl
  Saturn      
  Jupiter Würfel Erde 4
  Mars Tetraeder Feuer 1
  Erde Dodekaeder   5
  Venus Ikosaeder Wasser 3
  Merkur Oktaeder Luft 2

Die Unstimmigkeiten sind natürlich mehr als deutlich. Dem Planet Erde ist keineswegs das Element Erde zugeordnet, sondern der geheimnisvolle Dodekaeder und damit im Sinne Platons die Zahl 5. Nirgends konnte die Reihenfolge der Planeten entsprechend der Reihenfolge der Polyeder bei Platon eingehalten werden. Vielmehr wirkt es so, als habe Kepler alle Möglichkeiten ausprobiert, die regelmäßigen Körper ineinander zu verschachteln, und sich schließlich für die Variante entschieden, die dem wirklichen Beobachtungsmaterial am nächsten kam.

Seine Vision geht vom Beobachtungsmaterial aus. In den Daten erkennt er Regelmäßigkeiten und vergleicht sie mit den ihm aus der Geschichte überlieferten Symbolen. Die eigentliche Idee seiner Weltharmonik liegt in der Intuition, die platonischen Körper ineinander zu verschachteln und durch Kugeln voneinander zu trennen, auf deren Oberflächen sich die Planeten bewegen. Doch ist die Frage, von welcher Seite der Anstoß kam: Hat die Kenntnis der überlieferten Symbole zur Entdeckung ihres Abbildes in den Beobachtungsdaten geführt oder haben umgekehrt die Beobachtungsdaten wohlbekannte Symbole wiedererkennen lassen? Diese Frage entschied sich, als Kepler mit den Ellipsen Regelmäßigkeiten im Beobachtungsmaterial gefunden hat, die nicht nur kein Gegenstück in den Symbolen der Tradition seit Pythagoras und Platon haben, sondern direkt dem Axiom widersprachen, alle Bewegung müsse sich an das Ideal der Kreisgestalt halten.

Von heute aus ist kaum mehr zu verstehen, wie schwer diese Erkenntnis zu akzeptieren war. Es war aber ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit. Trotz aller internen Gegensätze hatten alle antiken Naturphilosophen und auch die gesamte Geschichte der Astronomie nie auch nur zu denken gewagt, dass es anders sein könnte. Bei aller Kritik an Platon hat auch Aristoteles nie daran gezweifelt, dass jede ideale Bewegung in der Natur Kreisgestalt hat. Und mit der gemeinsamen Autorität von Platon und Aristoteles war dies in die mittelalterliche Dogmatik eingegangen. Im Grunde war das auch das Motiv von Kopernikus: Er hoffte, mit dem Übergang zum heliozentrischen Weltbild das Ideal der Kreisgestalt retten zu können, da alle Beobachtungen zu eindeutig gegen eine Kreisbewegung der Planeten um die Erde sprachen. Und so hat ihn auch die Kirche verstanden. Obwohl heute die kopernikanische Wende als Auslöser alles weiteren gilt, konnte die Kirche seine Arbeiten durchaus noch akzeptieren, da er sich bewußt auf technische Fragen konzentrierte. Das Ideal der Kreisgestalt schien wichtiger als das Axiom der Erde als Mittelpunkt der Welt. Auch für ihn galt noch: Qualitative Fragen, und dazu gehörte auch die ideale Kreisgestalt, waren einer höheren Schau der Natur vorbehalten, während die Mathematik diese als Voraussetzung zu akzeptieren und sich darauf zu beschränken hatte, die quantitativen Feinheiten herauszufinden und durchzurechnen.

Keplers Bruch mit dieser Tradition hatte sich schon in der Freiheit vorbereitet, mit der er mit den überlieferten Symbolen umgegangen war. Er hat buchstäblich "mit den Elementen spekuliert", d.h. versucht, sie frei auf immer neue Weise zu verknüpfen, bis sie annähernd mit den Beobachtungsdaten in Übereinstimmung kamen.

Die von ihm eingeschlagene Vorgehensweise hat dann innerhalb weniger Jahrzehnte die Naturwissenschaft erobert und wurde immer stärker mathematisch geprägt. Ein späteres Beispiel auf seinem Gebiet der Astronomie ist eine Entdeckung, die 1766 J.D. Titius gemacht hat. Wird der Abstand der Erde zur Sonne als Maßstab genommen, ergibt sich folgende verblüffende Regelmäßigkeit:

  regelmäßige Formel tatsächliche Entfernung
Merkur 0,4 = 0,4 0,387
Venus 0,7 = 0,4 + 0,3 * 20 0,723
Erde 1,0 = 0,4 + 0,3 * 21 1,0
Mars 1,6 = 0,4 + 0,3 * 22 1,524
Asteroiden 2,8 = 0,4 + 0,3 * 23 2,9
Jupiter 5,2 = 0,4 + 0,3 * 24 5,203
Saturn 10,0 = 0,4 + 0,3 * 25 9,546
Uranus 19,6 = 0,4 + 0,3 * 26 19,2
Neptun 38,8 = 0,4 + 0,3 * 27 30,09
Pluto 77,2 = 0,4 + 0,3 * 28 39,52

Die Asteroiden bewegen sich zwischen der Hestia-Lücke 2,5 und der Hekuba-Lücke 3,3. Dieser Ansatz hat tatsächlich schon 15 Jahre später die Entdeckung des Planeten Uranus möglich gemacht (Wilhelm Herschel 1781), indem vorausgesagt wurde, in welchem Bereich er zu suchen ist. Mit dessen Entdeckung wurde endgültig das antike System der bekannten Planeten und damit im Grunde die Basis der Astrologie und aller auf diesen Planeten aufbauenden Spekulationen durchbrochen. Nur war am Ende des 18. Jahrhunderts die Aufklärung schon zu weit fortgeschritten, um dies als einen ähnlichen "Skandal" anzusehen wie die kopernikanische Wende oder die Ellipsen-Gestalt der Planetenbahnen. Und umgekehrt hatte sich die Astrologie unter dem Erfolgsdruck der astronomischen Wissenschaften bereits zu sehr in einen Glauben verwandelt und jeden Anspruch auf eine materielle Begründung aufgegeben, um hierdurch ernsthaft erschüttert oder zu Neuerungen angeregt zu werden.

Zugleich wirft diese Regelmäßigkeit Fragen auf, die bis heute unbeantwortet sind: Wie ist der Asteroiden-Gürtel zu erklären? Ist dort möglicherweise ein Planet explodiert oder ist es aus unbekannten Gründen einem Planeten nicht möglich geworden, sich zu formieren? Wie sind die Abweichungen des Neptun und des Pluto zu erklären? Vielleicht gehören sie gar nicht in das System der Planeten. Und das führt natürlich zu der abschließenden Frage: Wie ist überhaupt dies System mit den Konstanten 0,4 und 0,3 und den 2er Potenzen zu erklären? Eine ganz andere Frage ist, welche Intuition dazu geführt hat, die Grenzen des Asteroidengebiets als Hestia- und Hekuba-Lücke zu bezeichnen. Während die Entdeckung des Uranus (und auch dieser Name ist voller intuitiver Bezüge) die alte Astrologie aushebelte, sind diese Namen voller neuer Bezüge auf mythologisches Wissen, die an die Stelle der alten Astrologie treten könnten.

Das System von Titius soll den nächsten Entwicklungsschritt zeigen, wohin die Vision von Kepler weiterführen konnte. Dort ist jeder Bezug auf allgemein anerkannte Symbole aufgegeben. Zwar sind die neu eingeführten Namen und Bezeichnungen voller Anspielungen und Intuitionen, doch wird dies jetzt eher als spielerische Erinnerung an frühere Zeiten gesehen. Qualitativen Fragen wird keine Bedeutung mehr gegeben. Das Band ist erneut zerrissen. Und damit gleichbedeutend wird jede anschauliche Erklärung aufgegeben. Regelmäßigkeiten sprechen für sich. Sie müssen nicht erklärt werden, sondern ihre Entdeckung ersetzt die Erklärung. Inzwischen verfährt die Naturwissenschaft so selbstverständlich nach dieser von Titius genutzten Methode, dass das Neue bei Kepler kaum mehr zu erkennen ist. Er stand an der Grenze, wo für einen Moment Visionen erschienen, in denen qualitative und quantitative Fragen zum Ausgleich fanden, und mit ihnen die aus der mythologischen Tradition überlieferten Vorstellungen und Symbole auf der einen Seite mit den neuen Erkenntnissen aus der genaueren Naturbeobachtung auf der anderen Seite.

Dynamische Modelle

Kepler spricht von Archetypen und Urbildern, wenn er die Symbole der antiken Tradition wie den Kreis, die Tierkreiszeichen usw. meint. Doch beruht die Idee seiner Weltharmonik nicht auf der Übertragung bzw. Wiederentdeckung antiker Symbole im Beobachtungsmaterial, sondern auf dem Funktionszusammenhang der im Ganzen wirkenden Weltharmonik. Nichts lag daher näher, als hier ein Modell für einen dynamischen Mechanismus zu sehen. Daher war es immer Keplers großer Traum, dies Modell wirklich bauen zu lassen und buchstäblich "zum Laufen" zu bringen. Er war voller Ideen, wie es weiter ausgestaltet werden könnte. Er wollte die Sphäre des Saturn mit Diamanten und des Jupiter mit Rubinen schmücken, eine Perle für den Mond anbringen usw. Die einzelnen Kugeln sollten mit jeweils spezifischen Flüssigkeiten gefüllt sein. In den Zahlverhältnissen der Umlaufbahnen und Umlaufgeschwindigkeiten wollte Kepler die harmonisch klingenden Intervalle darstellen, so dass dies zugleich ein Modell der Sphärenmusik ist und möglicherweise bei der Wahl geeigneter Maße wie ein Instrument klingen könnte.

Aus Kostengründen ließ sich das nie realisieren, aber es zeigt, was in Wahrheit Keplers Vision angeregt hatte: Erinnert doch sein Modell der Weltharmonik an die mechanischen Konstruktionen, die bei den meist anonym gebliebenen Bauherren der mittelalterlichen Kirchen so beliebt waren. Die ergänzten den Mechanismus der gewaltigen Turmuhren mit Mechanismen zur Darstellung des Weltgefüges. Die Dome sollten Abbild des Kosmos sein und bargen eine Fülle von intuitivem und geheimen Wissen um die Maße der Natur. In einem ganz direkten Sinn stand Kepler den "Brüderorden der Steinmetzen", die sich beim Bau der großen Kathedralen gegründet hatten, wesentlich näher als all diejenigen Freimaurer aus späteren Zeiten, die mehr den "Rotary-Clubs" des 20. Jahrhunderts ähneln.

Dynamisches Modell: Auch wenn entsprechend dem damaligen - am Mühlenbau orientierten - Stand der Technik die mechanische Wirkungsweise im Vordergrund stand, wäre es mißverständlich, von mechanischen Modellen in dem Sinne zu sprechen, wie später Laplace die Himmelsmechanik und mit ihr die Theologie auf die physikalische Mechanik und ihre Vorausberechenbarkeit reduzieren wollte. Wesentlich war dagegen, dass die Modelle sich bewegen und ihre Bewegung erhalten können. Sie sollten die Lebendigkeit der Natur nachbilden. Das ist auch die entscheidende Differenz zu Pythagoras. Viel hat Kepler von ihm lernen können und hat zweifellos die grundsätzliche Idee einer Weltharmonie von den Pythagoreern übernommen, die auf mathematischen Maßverhältnissen aufgebaut ist.

Aber Kepler hat sich zugleich einer neueren Tradition verbunden gesehen, die ihm die innere Sicherheit geben konnte, um ihn sowohl gegen die Dogmen der akademischen Tradition wie die Verführungen durch das gerade auch in Prag blühende Spekulieren der magischen Schulen zu schützen. Die handwerklichen Leistungen beim Bau der Dome und Kathedralen waren nur der Höhepunkt einer viel breiteren Bewegung, die seit der karolingischen Zeit in Europa zu einem völlig neuen Verhältnis zur Natur geführt hatten. Die wirklichen Innovationen wurden ursprünglich im kleinen erzielt und nicht in neuen Zentren. Sie kamen z.B. aus den Klöstern, wo Mönche und Nonnen neues Land urbar machten, das Wissen um Heilkräuter und Medizin systematisierten und mit neuen agrarischen Werkzeugen und Bewirtschaftungsmethoden experimentierten. Oder aus den kleinen, unabhängigen Städten, in denen Handwerker neue mechanische und chemische Produktionsmethoden entwickelten bis zu den Anfängen der Ingenieurskunst und der frühen Manufakturen. Unbelastet von der akademischen Tradition entwickelte sich hier eine eigene Naturkenntnis, gewonnen aus der genauen Beobachtung von Naturprozessen, und es entstanden die ersten, einfachen mechanischen Instrumente. Wie all die Bauern, Handwerker und Bergwerksingenieure vor ihm konnte Kepler darauf vertrauen, sich eher auf das im ersten Moment verwirrende Beobachtungsmaterial der Natur zu verlassen als auf die von der Antike überlieferten vereinfachenden qualitativen Symbole.

Noch klarer wird das vielleicht daran, welche ersten Ideen er entwickelt hat, um auch für die Astrologie eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen, sie also am Ende auf die gleiche Weise umzuwälzen wie den überlieferten Pythagoreismus. Pauli zitiert aus der "Weltharmonie", Buch 4:

"Insofern die Seele die Idee des Tierkreises oder eher von dessen Centrum in sich hat, fühlt sie auch, welcher Planet und zu welcher Zeit unter welchem Grad des Kreises weilt und mißt die Winkel der Strahlen, die sich auf der Erde treffen. Insofern sie aber aus dem Einstrahlen der göttlichen Essenz die geometrischen Figuren des Kreises und auch (durch die Vergleichung des Kreises mit bestimmten seiner Teile) die archetypischen Harmonien aufnimmt, allerdings nicht in rein geometrischer Form, sondern wie mit einem Absud leuchtender Strahlen behaftet und völlig durchtränkt, und indem sie auch schon die Messung der Winkel erkennt, beurteilt sie die einen als kongruent oder harmonisch, die anderen als inkongruent." (zitiert Jung / Pauli, S. 138f)

Diese Intuition wird verständlicher, wenn sie wiederum mit verwandten Ideen verglichen wird, die im gotischen Kirchenbau verwirklicht wurden. Auch dort wurde genau durchdacht, wie die Fenster anzuordnen sind, wie das Licht in den Raum fällt und gebrochen wird von den Pfeilern und den verschiedensten Schatteneffekten. Der Kirchenraum sollte als Symbol gestaltet werden, wie die Eindrücke der äußeren Natur gebündelt und zu bestimmten Effekten im Innenraum gestaltet werden können. Gerade so stellt sich Kepler auch das Zusammenwirken des menschlichen Körpers mit seinen Organen und der menschlichen Seele vor. Nur geht der menschliche Organismus natürlich weit über die Möglichkeiten der notwendigerweise statisch angelegten Kirchräume hinaus, die aber dafür wiederum um so besser das ruhende Ideal der zugrunde liegenden Maßverhältnisse gestalten können.

Pauli faßt aus seiner Sicht zusammen:

"Nach Kepler ist es eine fundamentale Fähigkeit der Einzelseele, die er vis formatrix oder auch matrix formativa nennt, mit Hilfe des instinctus auf gewisse harmonische Proportionen, die speziellen rationalen Einteilungen des Kreises entsprechen, zu reagieren. In der Musik äußert sich dieses geistige Vermögen in der Empfindung des Wohlklanges (Konsonanz) bei bestimmten musikalischen Intervallen, eine Wirkung, die Kepler demnach nicht rein mechanisch erklärt. Eine ähnliche spezifische Reaktionsfähigkeit soll nun die Seele haben für die harmonischen Proportionen der Winkel, welche die von den Sternen auf die Erde eintreffenden Lichtstrahlen miteinander bilden. Hievon hat nach Kepler die Astrologie zu handeln." (Jung / Pauli, S. 136f)

Die Schatten in der Höhle Platons

Schließlich hatte sich Kepler mit jedermann angelegt. Die Katholiken verfolgten ihn, weil er seine protestantische Herkunft nicht aufgeben wollte. Die Protestanten waren mißtrauisch gegen alle Abweichung von den überlieferten Texten, da der Bruch mit der Buchautorität immer auch den Bruch mit der fürstlichen Autorität nach sich ziehen konnte. In Prag lebte Kepler in enger Verbindung mit den Wissenschaftlern, die an einer neuen Aufklärung, einer wiederbelebten Renaissance und einem Ende des sich in Wien und Paris neu formierenden Absolutismus interessiert waren. Was hätte näher gelegen, als ihn auf ihrer Seite zu sehen? Der Physiker Robert Fludd war einer der wichtigsten und intelligentesten von ihnen, zweifellos alles andere als ein dogmatischer oder orthodoxer Denker. Er fühlte sich eng der alchemistischen Tradition und zugleich der protestantischen Bewegung verbunden, die in England vor allem von John Dee (dem "englischen Faust") repräsentiert war. Er war Ideengeber der Rosenkreuzer und Freimaurer.

Gerade dank seiner umfassenden Kenntnisse und seines scharfen Verstandes sah Fludd sehr genau den anti-platonischen Zug bei Kepler und setzte hier seine Kritik an. Der trockene Astronom erwies sich als weit revolutionärer als der Philosoph, der mitbeteiligt war an den großen politischen Ränkespielen seiner Zeit. Am Ende kommt Fludd wie alle Kritiker an der neuen Naturwissenschaft auf das Höhlengleichnis von Platon zurück, wonach die stumpfe Menge und mit ihr die Mathematiker lediglich die Schatten im Innern der Höhle vermessen können, während der Weise ans Licht tritt und die reinen Ideen sieht. Pauli zitiert ausführlich die Kritik von Fludd an Kepler:

"Was jener (Kepler) in vielen Worten und langer Rede ausgedrückt hat, das habe ich kurz zusammengezogen und durch hieroglyphische, tief bedeutsame Figuren erklärt, nicht weil ich etwa Freude an Bildern habe (wie jener anderswo behauptet), sondern weil ich (als einer, von dem Kepler weiter unten anzudeuten scheint, dass er sich mit den Alchemisten und Hermetikern identifiziere), beschlossen hatte, vieles in wenigem zusammenzufassen, die extrahierte Essenz zu sammeln, die sedimentäre Substanz zu verwerfen und das Gute in das ihm angemessene Gefäß zu füllen - auf dass, kraft solcher Aufdeckung des Geheimnisses der Wissenschaft, das Verborgene offenbar werde und die innere Natur der Sache, nach Abstreifung der äußeren Gewandung, wie ein in einem Goldring eingefaßter Edelstein in einer seiner Natur am besten entsprechenden Figur eingeschlossen sei, worin sein Wesen wie in einem Spiegel und ohne den Umschweif vieler Worte mit Auge und Geist erblickt werden kann. (...)

Denn es ist Sache der gewöhnlichen Mathematiker, sich um die Schatten der Quantitäten zu kümmern, die Alchemisten und Hermetiker aber ergreifen das wahre Mark der natürlichen Körper. (...)

Von den auserwählten, in der formalen Mathematik geschulten Mathematikern wird die nackte (unverhüllte) Natur gemessen und offenbart, den falschen und fehlerhaften bleibt sie unsichtbar und verborgen. Die letzteren nämlich messen die Schatten statt der Substanz und nähren sich von nichtigen Meinungen, jene aber verwerfen den Schatten und erfassen die Substanz und erfreuen sich an der Schau der Wahrheit." (zitiert Jung / Pauli, S. 150 - 152)

Deutlicher lässt sich der Gegensatz kaum ausdrücken. Der Platonismus vertritt ein dualistisches Weltbild, das die Menschen einteilt in die auf der Sonnenseite und die auf der Nacht- oder Schattenseite. Die Mathematik ist auf beiden Seiten vertreten und daher unterschieden in "gewöhnliche Mathematik" und "auserwählte Mathematik" (woraus dann später die angewandte und die reine Mathematik wurden). Keine Frage, auf welcher Seite Fludd sich und Kepler eingeordnet hat. - Das Höhlengleichnis bei Platon ist übrigens sehr konkret gemeint: Die Höhlen sind die Bergwerksgänge, in denen zu Zeiten von Platon die Sklaven arbeiten und die Silberminen abbauen mußten. Ihre Erträge waren die wichtigste Quelle des Reichtums von Athen, noch vor den Tributen der abhängigen Kolonien und den Gewinnerlösen beim Handel.

Während sich Fludd auf die "Schau der Wahrheit" beruft, hält er Kepler mal vor, dass er nur die Schatten messe, und dann, dass er "viele Worte und lange Rede" nötig habe. Eine sachliche Auseinandersetzung mit dem umfassenden Modell sei es der Weltharmonik, sei es zur Erklärung der Astrologie, hält Fludd gar nicht erst für notwendig.

Wird diese Kontroverse aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts gelesen, kann leicht ein falscher Eindruck entstehen. Denn inzwischen hat sich die Naturwissenschaft dahin entwickelt, nur noch quantitative Messungen durchzuführen und deren zahlenmäßige Gesetze herauszufinden. Titius war als ein Beispiel in dieser Richtung genannt. Wer mit diesem gegenwärtigen Zustand der Naturwissenschaft unzufrieden ist, mag dann eher Fludd zuneigen.

So ist es ausgerechnet Wolfgang Pauli ergangen, aus dessen Beitrag "Der Einfluß archetypischer Vorstellungen auf die Bildung der naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler" alle diese Zitate übernommen sind. Er ist voller Sympathie für Kepler und hofft, bei ihm Antworten auf seine Fragen und Zweifel zu bekommen. Im Begriff des Archetypus sah er die von ihm sehnlich gewünschte tiefere Einheit zwischen Physik und Psychologie. Und doch schwenkt er an der entscheidenden Stelle auf die Seite von Fludd um:

"Wenn auch auf Kosten der Bewußtheit der quantitativen Seite der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten, versuchen die 'hieroglyphischen' Figuren Fludds eine Einheit des inneren Erlebens des 'Beobachters' (wie wir heute sagen würden) mit dem äußeren Naturlauf und damit eine Ganzheit der Naturbetrachtung festzuhalten, die früher in der Idee der Analogie des Mikrokosmos zum Makrokosmos enthalten war, die jedoch bei Kepler bereits zu fehlen scheint und im Weltbild der klassischen Naturwissenschaft verlorengegangen ist." (Jung / Pauli, S. 162)

Damit wird die neue Vision von Kepler wieder rückgängig gemacht. Wie ist zu verstehen, wenn Kepler "Ganzheit der Naturbetrachtung" und die "Idee der Analogie des Mikrokosmos zum Makrokosmos" abgesprochen werden? Insbesondere diese letztere Analogie war die Leitidee der Rosenkreuzer. Die entscheidende Frage ist, worin diese Analogie gesehen wird. Fludd sah sie in den "hieroglyphischen, tief bedeutsamen Figuren" und griff damit zentrale Ideen der Renaissance wieder auf. Kepler dagegen sah Kräfte, die aufeinander wirken. Auf der einen Seite etwa die "vis formatrix", und auf der anderen Seite Kräfte in der umgebenden Natur. Zwischen beiden kommt es zu einem Funktionszusammenhang. Hier entstehen Bewegungsfiguren, die auf dem Wirken beider Kräfte beruhen und in der Lage sind, eine jeweils spezifische eigene Gestalt anzunehmen. Die Ellipsenbahn der Planeten ist wirklich das beste Beispiel. Hier wiederholt sich nicht einfach überall die gleiche Figur (der Kreis), wodurch eine gemeinsame Analogie hergestellt wird. Sondern die Gestalt der Ellipsenbahn wird hervorgebracht durch das Zusammenwirken beider Kräfte: der Schwerkraft des Zentralgestirns und der Schwerkraft des Planeten. Und dies ist sicher noch eins der einfachsten Beispiele. Weit komplexer wird es sein, die anderen Bewegungen zu beschreiben, die aus dem Zusammenwirken der inneren Bewegungskräfte des Menschen und der äußeren Bewegungskräfte in der Natur entstehen.

Keplers Ansatz drängt zur Zusammenarbeit mit den überall "auf den Gassen" entstehenden Naturerkenntnissen, während Fludd sich der akademischen Tradition verpflichtet fühlt, die bis auf Platon zurückgeht. Es ist daher auch kein Zufall, dass Fludd den Platonismus der Renaissance-Philosophen wiederbeleben möchte, während Kepler sich eher auf Kusanus beruft. Kusanus, dessen Hauptwerke um 1450 geschrieben wurden, hatte wieder zu erinnern gewagt: "Die Weisheit bedarf keiner gelehrten Zurüstungen; sie ruft auf den Straßen." Aber er fand in der Renaissance keinen Widerhall, zu eng waren die Wissenschaftler und Künstler an die Höfe der Adligen in Norditalien und Rom gebunden und vermochten sich nicht davon zu befreien. Nur Leonardo da Vinci war eine Ausnahme, und erst einige Generationen später wagten Bruno und Kepler, sich offen auf Kusanus zu beziehen. Sein Philosophieren erinnert in manchen Zügen an die "Weisheit Salomos", und das scheint mir der andere wesentliche Bezugspunkt für Kepler zu sein neben Pythagoras, dessen Ideen er aufgriff und völlig umwandelte. Salomo: Wenn nicht in erster Linie der prunkvolle Herrscher gesehen wird, sondern der Weise und Bauherr des Tempels, dann unterstützt dies nochmals die Annahme, wie stark Kepler sich in seiner Vision von den Meisterwerken der mittelalterlichen Dome und Kathedralen hat leiten lassen, die ihr großes Vorbild immer in Hiram sahen, der im Auftrag Salomos den Tempel von Jerusalem gebaut hatte.

Wie wurde Keplers Vision in den Zeiten des Faschismus aktuell?

Die Jugendlichkeit der germanischen Seele und ihre Intuition

Paulis Sicht auf Kepler hatte mit C.G. Jung zu tun. In den 1930er Jahren hatte er sich wegen seiner Ängste und Gefühlskälte von ihm eine psychoanalytische Behandlung vermitteln lassen, woraus sich eine weitergehende Zusammenarbeit ergab. Sie führte schließlich 1952 zur gemeinsamen Veröffentlichung des Buches "Naturerklärung und Psyche", für das Pauli seinen Beitrag über Kepler schrieb. Ungewollt hatte Pauli der Sache nach das Mißverständnis auf den Punkt gebracht: In Kepler wurde gesehen, was in Wahrheit die Position der Renaissance einschließlich ihrer Randfiguren bis Johann Faust und ihrer Nachfahren wie Fludd gewesen war.

Wie konnte es zu diesem Mißverständnis kommen? Durch seine Arbeit über die Traumsymbolik war Schubert der psychoanalytischen Bewegung bekannt, und so lag es sicher nahe, auch die Schrift über die Nachtseiten der Naturwissenschaft zu lesen und darüber auf Kepler zu stoßen. Aber was hat Kepler mit der Psychoanalyse zu tun? Drei Entwicklungen mußten zusammen kommen: Die offene Frage des Verhältnisses von Psychologie und Mythologie, der Führungsstreit innerhalb der psychoanalytischen Bewegung und dessen Überlagerung durch den Gegensatz Juden contra Arier zur Zeit der Herausbildung des Faschismus. Anfangs hatte Freud Jung mit offenen Armen aufgenommen und gehofft, Jung könne "die Psychoanalyse aus der drohenden jüdischen Insularität ... erlösen" (Yerushalmi, S. 70). Jedoch kam es schnell zu Mißverständnissen und schließlich 1912 zur direkten Konfrontation, als beide das ungeklärte Verhältnis von Psychologie und Mythologie (bzw. Religion) angehen wollten. Freud folgte eher der materialistischen Strömung des 19. Jahrhunderts, der er sich seit seinen Studententagen verbunden fühlte. Mehr oder weniger im Sinne von Ludwig Feuerbach sah er in der Religion die individualpsychologischen Probleme und typischen Konflikte der Kernfamilie gewissermaßen "im Großen" widergespiegelt. Fast eine Generation jünger als Freud stand Jung der aufklärungskritischen Strömung näher, die etwa durch Bachofen und Nietzsche vertreten wurde. Entsprechend sah er in der Mythologie und ihren Symbolen und Archetypen die kollektive, jeder Rationalität vorausgehende Grundlage, mit der jeder einzelne in seinem Leben konfrontiert wird.

Es hätte zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung kommen können, doch hatten sich die Fronten sehr schnell verhärtet, zumal der wissenschaftliche Konflikt mit zahlreichen persönlichen Verwicklungen bis hin zu Ehebruch und Selbstmord verknüpft war. An die Jüdin Sabina Spielrein, die gerade dabei war, sich aus einer Affäre mit Jung zu lösen, schrieb Freud 1913, er fühle sich jetzt "von jedem Rest von Vorliebe fürs Ariertum genesen" (Carotenuto, S. 124). Jung wiederum vergrub sich in intensive Studien der Geschichte der Alchemie und Gnosis.

Im gleichen Jahr 1913 veröffentliche Freud "Totem und Tabu", die erste Arbeit über das Verhältnis von Psychologie und Religion. Der Freud sehr wohlgesonnene Biograph Gay muß eingestehen:

"Eine Synthese aus Vorgeschichte, Biologie und Psychoanalyse herzustellen, bedeutete für Freud, dass er seinem 'Erben' und Rivalen zuvorkam und ihn übertraf: Die Essays, die in Totem und Tabu zusammengefaßt waren, stellten Waffen in Freuds Wettstreit mit Jung dar. Freud zeigte in seinen eigenen Kämpfen einen Aspekt der ödipalen Kämpfe, der oft zu kurz kommt - die Bemühungen des Vaters, den Sohn zu übertreffen." (Gay "Freud", S. 369)

Ein Jahr später folgte 1914 Silberers "Probleme der Mystik und ihrer Symbolik". Silberer gehörte zum engeren Kreis um Freud. (Gay erwähnt allerdings nicht, dass er 1923 nach einem Streit mit Freud Selbstmord beging, was nochmals belegt, wie unerbittlich innerhalb des psychoanalytischen Zirkels miteinander umgegangen wurde.) In seiner Schrift geht er von einem Text der Rosenkreuzer aus und versucht alchemistisches und psychoanalytisches Denken miteinander in Übereinklang zu bringen. Mit dieser Arbeit hat er jedoch eher Jung als Freud beeinflußt. Die Blickrichtung war eindeutig auf die Rosenkreuzer und damit die platonistische Tradition ausgerichtet, zu der auch Fludd gehört. Kepler war vorerst kein Thema, aber seine Zeit war von großem Interesse geworden.

Dann wurde dieser Konflikt, der innerhalb der psychoanalytischen Bewegung entstanden war, eingeholt und dramatisch überlagert von den politischen Ereignissen. In Italien und Deutschland erstarkten die faschistischen Bewegungen. Dies war keineswegs nur eine Massenbewegung, die in Saalschlachten und auf der Straße ausgetragen wurde, sondern der Faschismus wurde zum Kristallisationspunkt für alle Unzufriedenheit in den intellektuellen Kreisen, die schon 1914 von der Kriegsbegeisterung mitgerissen waren, sich nach 1917 erst recht von der westlichen Zivilisation abwandten und nun von einer neuen "konservativen Revolution" träumten. Von zentraler Bedeutung wurde wiederum die Frage nach Mythologie und Psyche, wie sie etwa Alfred Baeumler in seinem wegweisenden Vorwort zur Herausgabe von Werken Bachofens 1926 aufgeworfen hatte. Jetzt wurde systematisch nach einer deutschen Vergangenheit gesucht, und Luther, Dürer, Rembrandt, Kepler, Leibniz, Kant, Hamann, Herder, Goethe, Beethoven, Hölderlin, Schelling und die Romantiker wurden ohne jeden Unterschied und ohne jede tiefere Kenntnisnahme ihrer Ideen und politischen Stellungnahmen zu Meilensteinen eines deutschen Weges erklärt.

So wird verständlich, warum Kepler für Jung aufgewertet wurde, zumal er ohnehin in Keplers Gebrauch des Begriffs "Archetyp" eine Bestätigung der eigenen Position sehen konnte. Der Sache nach scheint er nie auf die tiefe Differenz zwischen Kepler und den Rosenkreuzern gestoßen zu sein. Die erst nach 1945 von Pauli geschriebene Arbeit über Kepler stellte diese Differenz zweifellos unerwartet fest. In dem intensiven Briefwechsel zwischen Pauli und Kepler in diesen Jahren ist dies jedoch nie ein Thema und wurde offenbar von beiden nicht besonders wichtig genommen.

1933 - 34 schien Jung die Zeit reif zur Abrechnung mit Freud:

"Abgesehen von gewissen schöpferischen Individuen ist der Durchschnittsjude schon viel zu bewußt und differenziert, um noch mit den Spannungen einer ungeborenen Zukunft schwanger zu gehen. Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische; das ist der Vorteil und der Nachteil einer dem Barbarischen noch nicht völlig entfremdeten Jugendlichkeit. Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewesen, dass sie jüdische Kategorien, die nicht einmal für alle Juden verbindlich sind, unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte. Damit hat sie nämlich das kostbarste Geheimnis des germanischen Menschen, seinen schöpferisch ahnungsvollen Seelengrund, als kindlich-banalen Sumpf erklärt, während meine warnende Stimme durch Jahrzehnte des Antisemitismus verdächtigt wurde. Diese Verdächtigung ist von Freud ausgegangen. Er kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus, auf den eine ganze Welt mit erstaunten Augen blickt, eines Besseren gelehrt?" (zitiert nach Yerushalmi, S. 80f)

Ohne Frage galt entsprechend den Vorträgen von Schubert Kepler als ein Kronzeuge für die "Jugendlichkeit" des Arischen. Inhalte spielten da nur noch eine nebensächliche Rolle. Dass Kepler von seinen Zeitgenossen zurecht in Gegensatz zu Platon gebracht wurde, der nun mit der neuen Vorstellung einer besonders innigen Verbindung des Griechischen und Deutschen im Rahmen eines indogermanischen Weltbildes aufgewertet wurde, wurde ebenso wenig zur Kenntnis genommen wie der Einfluß der über das Judentum vermittelten orientalischen Weisheit auf die mittelalterlichen Baumeister und mindestens indirekt auch auf Kepler.

Aber wie stellen sich Jung und ihm folgend Pauli Intuition vor? Intuition ist für sie ein psychischer Vorgang, wenn in einer Art Dämmerzustand (möglicherweise wirklich im Traum) das Beobachtungsmaterial verschwimmt und aus dem Innern kollektive Archetypen aufsteigen wie die Quaternität, der Kreis oder die Mandala, bis in einem Gedankenblitz, in einer rauschhaften Überwältigung dem Wissenschaftler ein neuer Zusammenhang klar wird, den bisher keiner gesehen hat. Das ist prinzipiell ein irrationaler, subjektiver Prozeß, der zum Geburtshelfer einer neuen, höheren rationalen Erkenntnis in der Naturwissenschaft führt. Auf diesem Weg mag noch Keplers Vision der Weltharmonik entstanden sein, auf die Ellipsenbahn der Planeten hätte er so jedoch nie kommen können, da die Ellipse im Gegensatz zum Kreis nicht zum Bestand des kollektiven Unbewußten gerechnet wird.

Konsequent zu Ende gedacht löst sich solche Intuition von allen historischen und wissenschaftlichen Bezügen und Hintergründen und wechselt von der Nacht- zur Sonnenseite der "wahren Schau" des Wesentlichen. Ihr kann nur insofern nachgeholfen werden, als der Wissenschaftler bewußt den Schatz an Archetypen aus immer mehr Kulturen kennenlernt, sich also auch z.B. für fernöstliche Traditionen interessiert, und dadurch dem Sprung der Intuition mehr mögliche "Nahrung" gibt. Genau so wurde dann auch mehr oder weniger bewußt Jung folgend in den Meditationszentren an der kalifornischen Küste verfahren, wo amerikanische Physiker nach einem Ausweg aus der Krise der modernen Physik suchen.

Diese Intuition ist wesentlich subjektiv und irrational. Sie steht in der Tradition des Ästhetischen seit Gracian, in der ebenfalls die Momente des Irrationalen im schöpferischen Akt bzw. beim nachvollziehenden Verständnis einer Eingebung beschrieben werden (ars inveniendi, logica probabilia, Witz, esprit, Geist, Aufmerksamkeit, Geschmack). Es ist kein Zufall, dass Baeumler ursprünglich 1912 mit einer Arbeit über diese Frage begonnen hat, lange bevor er sich der konservativen bzw. nationalsozialistischen Revolution anschloß. Denn wenn einmal Irrationalität und Subjektivität allein entscheidend für Intuition und Kreativität gelten, liegt der Kurzschluß zum Voluntarismus und neuen Heroismus in der Politik nahe, und damit zur Bereitschaft, Politikern mit irrationalen Führerqualitäten zu folgen.

Rothackers Schichten der Persönlichkeit und die objektiven Mächte

Aber es wäre zu einfach, die unter dem Faschismus erfolgreichen Philosophen auf dies Muster von Subjektivität und Irrationalität festlegen zu wollen. Erich Rothacker (1888 - 1965) war nicht nur Professor der Philosophie in Bonn, sondern auch Leiter des Psychologischen Instituts. Wie Baeumler schloß er sich schon vor 1933 der NS-Bewegung an und gehörte zu der intellektuellen Elite, die Rosenberg um sich sammelte. In den 1930er Jahren entstand sein Hauptwerk "Die Schichten der Persönlichkeit", dessen wesentlich erweiterte Fassung 1941 erschien, ein Jahr, nachdem er zur Heerespsychologie in Berlin gewechselt war.

Aus der engen Zusammenarbeit mit Baeumler in den 1920er Jahren kannte er genauestens die Diskussionen seit der Romantik über Mythologie und Irrationalität. Zugleich fühlte er sich wie Jaspers und Heidegger der Jugendbewegung zugehörig. Mit ihnen lehnte er die hohl und überheblich gewordene Attitüde der humanistischen Gelehrten ab, wie sie bereits Nietzsche in seinen "Unzeitgemäßen Betrachtungen" bloßgestellt hatte (und bemerkte sehr wohl, als Heidegger später seine Haltung änderte und einen fast priesterlichen, "fundamental-ontologischen" Ton anschlug). Sein Schüler Perpeet sah 1966 anläßlich der posthumen Herausgabe seiner letzten Schrift "Zur Genealogie des menschlichen Bewußtseins" hier das Grundmotiv seines Philosophierens:

"Es konzentriert sich auf jenes Bewußtsein, welches nicht wenige Klassiker der Philosophie einschätzten als das Bewußtsein der 'Vielen', der im Wachzustand Schlafenden und der schlafend Wachenden (Heraklit), der Wegunkundigen (Parmenides), der Höhlenbewohner (Platon), des Vulgus (Newton), des 'gemeinen Verstandes' (Fichte), des angeblich gesunden und doch nur kranken Menschenverstandes (Hegel). Aus diesem zäh tradierten Wertgegensatz wird es nun herausgeholt." (Perpeet in Rothacker, Genealogie, S. XI)

Rothacker sieht sich insofern eindeutig auf der Seite von Kepler. Wenn er auch als seine Vorbilder eher die Philosophen Hamann und Leibniz erwähnt, nimmt er doch genau die Position in Schutz, die Fludd bei seiner Kritik an Kepler angegriffen hatte.

Die erste Konsequenz ist ein überraschend klarer Schreibstil, den ich in dieser Weise nur sehr selten bei anderen Autoren wiedergefunden habe. Nichts ist zu spüren von der Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit der sonst üblichen akademischen Literatur, und es fehlen auch der heroische Klang der Schriften von Baeumler und das bisweilen orakelhaft Dunkle Heideggers. Eindeutig stehen das Interesse an der Fortbildung seiner Schüler und Leser und an Fortschritten in den Sachfragen im Vordergrund. Nirgends wird das so deutlich wie in der Schrift, die er 1944 unter dem Titel "Die Kriegswichtigkeit der Philosophie" veröffentlicht hat. Wer hier ein politisches Bekenntnis für den Nationalsozialismus kurz vor seinem Untergang, Durchhalteparolen o.ä. erwartet, wird überrascht. Würde das Wort "Kriegswichtigkeit" ersetzt durch "ökonomische Wirtschaftlichkeit", "praktischer Nutzen" oder so ähnlich, könnte diese Schrift noch heute als ein gelungenes Plädoyer für ein größeres Philosophie-Budget und mehr Philosophie-Stellen unter den Bedingungen ökonomischer Sparzwänge dienen. In einem überaus sachlichen Ton hebt sie ganz auf die Anwendbarkeit der Philosophie ab, durch Vorgabe neuer Denkwege den technologischen Wissenschaften das Geschäft zu erleichtern, so dass es denen besser gelingt, neue Technologien zu entwickeln, die 1944 nach ihrer "Kriegswichtigkeit" bemessen wurden.

Die Vorgehensweise der "Schichten der Persönlichkeit" erinnert auch inhaltlich stark an Kepler. So wie Kepler die Astrologie in ein rational erklärbares dynamisches Modell umwandeln wollte, in dem die physikalische Wirkungsweise der von den Planeten ausgehenden Lichstrahlen auf die dem Menschen innewohnende "vis formatrix" beschrieben wird, wird mit den "Schichten der Persönlichkeit" systematisch versucht, entsprechend allen Sinnen des Leibes und der Seele die Wirkung der Natur auf den Menschen identifizieren und schließlich auch messen zu können. Was Kepler gegenüber der Astrologie vorhatte, möchte Rothacker umfassender leisten für alle "dunkeln, nächtlichen, mütterlichen Schichten unseres Wesens", die von der Romantik entdeckt und nach seiner Meinung dank Klages und Jung "des ausschließlich tierhaft-animalisch-triebhaften Charakters" entkleidet wurden (Rothacker, Persönlichkeit, S. 74). Dies Projekt ist kaum über seine ersten Anfänge hinausgekommen. Auch die bereits erwähnten musiktheoretischen Arbeiten von Danckert sind in diesem Umfeld entstanden (an der Stelle Musik im Rosenberg-Institut).

Wenigstens ein Zitat soll zeigen, was Rothacker meint:

"Unsere Lungen können sich an freie Bergluft gewöhnt haben, unsere Ohren an das Geräusch eines Brunnens, unsere Augen (in relativ leiblicher Schicht) an eine gewisse Weite, die 'Augen' unserer 'Seele' an das Hingleiten an bestimmten Berglinien, deren Fluß uns im selben Maße Symbol bestimmter Stimmungen und Kristallationspunkt bestimmter Gefühle geworden ist wie dies sonst für melodiöse und rhythmische Tonfolgen gilt. (...) An den Zauber vieler Edelsteine und schließlich wieder der Farben, an die vital und auch magisch betonte Wirkung bestimmter Bewegungsgestalten; denn auf Bewegungen noch mehr als auf Formen und selbst auf Stoffe bleibt das Lebewesen primär eingestellt. (...) Es gibt ein passives Sich-in-Schwingung-versetzen-lassen, ein Sich-einfügen in einen Rhythmus, ein Mit-gehen, ein Sich-hingeben, ein Sich-ergehen ohne Widerstand (der möglich wäre), ein - Sympathisieren mit einem umfassenderen Rhythmus." (Rothacker, Persönlichkeit, S. 47, 49, 55)

Mit den zahlreichen Anklängen an den Jugendstil mag das etwas kitschig klingen und ist auch nicht unbedingt typisch für den überwiegend eher wissenschaftlich gehaltenen Stil. Hier geht es um seine Vorgehensweise. Ausgangspunkt sind ihm alle alltäglichen Erfahrungen und die dort spontan entstehenden Vorlieben, Gefühle der Begeisterung, Rührung und auch negativ Grauen oder Angst. Ihnen liegt immer eine Wechselwirkung mit der umgebenden Natur zugrunde, und der geht Rothacker systematisch nach. Er ist davon überzeugt, dass sie einen naturwissenschaftlich erklärbaren Gehalt hat, für den es dann auch eine Möglichkeit der quantitativen Messung und Bestimmung gibt. Daher baut er die Schichten der Persönlichkeit entsprechend der Tradition der Naturphilosophie auf: von einer Geopsyche über eine pflanzliche Schicht, eine animalische und vitale, zur seelischen, zur ich-haften und schließlich zur integrierten Persönlichkeit. Dort geht die Psychologie über zur Philosophie des Bewußtseins und schließlich zur Völkerpsychologie. Bezüge zu C.G. Jung werden oft genug betont, wirkliche Vorbilder waren ihm aber den Zitaten nach zur urteilen viel maßgebender Ludwig Klages und Max Scheler.

Was in den 1938 und 1941 erschienenen Ausgaben der "Schichten der Persönlichkeit" anders formuliert war und später geändert wurde, weiß ich nicht. Noch 1952 enthält aber der Abschnitt "Völkerpsychologie" folgendes Sammelsurium von Vorurteilen:

"Dagegen stellt die Passivität der Slawen und besonders der Orientalen kompliziertere Probleme. Von Infantilität (in dem hier verwandten typologischen Sinne) oder gar von 'Herz' kann mindestens beim orientalischen Habitus keine Rede sein. Es liegen hier nicht jugendliche, sondern ausgesprochen späte, ausgereifte, durchkultivierte Formen eines Lebensgefühls vor, das, kurz gesagt, 'sich', d.h. seinen selbstanerkannten Persönlichkeitskern, mit anderen Schichten der Gesamtpersönlichkeit identifiziert als mit der modern-europäisch-amerikanischen Ichschicht des individualisierten Willens und des prometheisch selbstvertrauenden Intellekts." (Rothacker, Persönlichkeit, S. 81)

Kaum hat Rothacker den demütigenden Gegensatz von Höhlenbewohnern und Erleuchteten, Gewöhnlichen und Edlen abgeworfen, konstruiert er ihn neu mit anderer Gewichtung: Aktive gegen Passive, Willensstarke gegen Schwächlinge, Jugendliche gegen "ausgesprochen Späte" und begründet dies in seinem an der Natur orientierten Schichtenmodell mit einer Rassenlehre. Unverkennbar macht sich die Wut auf die Arroganz der selbsternannten Erleuchteten und Edlen, die sonst geradezu perfekt verdrängt und zurückgehalten werden konnte, nun doch Luft im Widerwillen gegen einen äußeren Gegner, der in den Slawen und Orientalen gesehen wird.

Der Hinweis auf Prometheus geht weiter als es klingen mag. Scheint die Philosophie Rothackers zunächst nahezu durchgängig eine reine Diesseitsphilosophie zu sein, die nicht einmal mehr die Frage nach der Religion stellt, kehren die Götter doch unter dem Titel "objektiver 'Mächte'" wieder. Ausdrücklich folgt er W.F. Otto und teilt dessen "besonders vertieftes Gefühl dafür, dass Aphrodite und andere griechische Gottheiten objektive 'Mächte' seien und nicht 'Projektionen' einer subjektiven Innerlichkeit." Hier werden auch die "Götter Germaniens" erwähnt (nach einem Buchtitel von H. Naumann), mit "Odin als der Wesenskern der Gefolgschaft, Thor als der Geist der Dorfgemeinde" (Rothacker, Genealogie, S. 169).

Es geht nicht darum, dass Rothacker seine religiösen Gefühle in griechischen und germanischen Göttern ausgedrückt sieht statt im Gott des Judentums oder Christentums, sondern dass er sie als "objektive 'Mächte'" erklärt mit dem darin verborgenen Anspruch, erst mit ihnen die reife Persönlichkeit erreicht zu haben und sich insofern allen anderen überlegen fühlen zu können. Der Auserwähltheitsanspruch des Judentums wird einfach übernommen und nun gegen sie gewendet. Und noch tiefer ist es das dahinter stehende Verständnis von "Objektivität", wodurch er seine Anschauung totalitär überhebt.

Hier sehe ich den Punkt, wo er sich von Kepler unterscheidet. Während er mit Kepler dessen Vorstellung eines Mensch und Natur übergreifenden Funktionszusammenhangs teilt, der sich naturwissenschaftlich messen und mathematisch darstellen lässt, treten bei ihm die "objektiven 'Mächte'" an die Stelle, wo Kepler von Weltharmonie ausgeht. Philosophiegeschichtlich gesehen tritt Rothacker insofern nicht in die Nachfolge von Kepler, sondern von Hegel und dessen in der Rechtsphilosophie am klarsten ausgesprochenen Prinzip, wonach das Wirkliche das Vernünftige ist. Daher erwies sich die Philosophie von Rothacker auch so ungeheuer anpassungsfähig und konnte nach 1945 in der nun westlich orientierten Bundesrepublik Deutschland bruchlos an maßgeblicher Position fortgeführt werden.

Literaturhinweise


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