Walter Tydecks

 

3. Allmacht der Zahlen

Die Zahlen Eins bis Fünf

1924 erschien "Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles" von Julius Stenzel. Für ihn ist die Philosophie Platons in Wahrheit eine "Mathesis universalis". Platon suchte nach einer völlig neuen Deutung der ersten natürlichen Zahlen, die konträr zu der aus mutterrechtlichen Zeiten überlieferten Symbolik steht. Es wurden nicht neue Symbole für die elementaren natürlichen Zahlen gesucht, sondern den Zahlen wurde überhaupt das Symbolische in diesem überlieferten Sinn abgesprochen. Stattdessen werden sie zu Trägern der innersten Ideen, auf denen alles weitere Denken aufbaut.

Für diese Lehre finden sich allerdings nur verstreute Hinweise und spätere Bezüge. Hauptnachweis ist der 7. Brief, aber bis heute ist umstritten, ob Platon wirklich der Autor ist. Jedenfalls ist diese Lehre nirgends in ähnlich zusammenhängender Weise überliefert wie etwa die naturphilosophischen Ideen im "Timaios" oder die politischen im "Politeia". Ob er bewußt eine Geheimlehre entwerfen wollte, in die nur eine Elite einzuweihen und die vor Verfälschungen durch Dritte zu bewahren ist, oder ob er sich einfach unsicher über die Schlüssigkeit dieser Ideen war, scheint am Ende ungeklärt. Unter den Philologen und Philosophen kam es daher zu einer langen Diskussion, ob es überhaupt berechtigt ist, in der von Stenzel vertretenen Weise von einer ungeschriebenen Lehre Platons zu sprechen.

Diese Diskussion wurde zusätzlich durch ihren politischen Kontext aufgeladen. Stenzel mußte 1933 in Kiel Platz machen für Kurt Hildebrandt, als Kiel zu einer Musteruniversität des Nationalsozialismus aufgebaut werden sollte. Der aus dem George-Kreis kommende Kurt Hildebrandt sprach Klartext: "Für das, was wir heute den totalen Staat nennen, gibt es keine vollkommenere Darstellung als Platons 'Politeia'". Aber auch Stenzel wird zu einem Kreis von Professoren in der Tradition von Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff gerechnet, die in den 1920er Jahren mit Platon eine konservative Kritik an den aktuellen politischen Verhältnissen vortrugen. Nach dem 2. Weltkrieg ging die Diskussion weiter. Vertreter der Platon-Interpretation im Sinne von Stenzel war in erster Linie eine Gruppe von Philosophen in Tübingen, deren Lehrer und Förderer Wolfgang Schadewaldt war. Schadewaldt war wiederum Schüler von Heidegger und einer der überzeugtesten Nationalsozialisten. (Später ist er vor allem durch seine Sophokles-Übersetzungen bekannt geworden.)

Wie auch immer die akademische Interpretation Platons ausgehen mag, jedenfalls zeigt die Deutung durch Stenzel eine völlig eigenständige Mathematik-Vision, die von größtem Interesse ist. Ich unterstelle einmal, dass sie in den Grundzügen zutrifft und will versuchen, sie eher noch konsequenter weiter zu denken, um den Gehalt dieser Vision deutlicher zu machen. Viele Argumente sprechen dafür, dass die Konservativen sich zurecht auf Platon als einen ihrer Vordenker beziehen, und dass Platon daran gelegen war, politisch und philosophisch eine Elite anzusprechen. Das soll aber nicht davon abhalten, sich mit dieser Vision zu beschäftigen. Denn ebenso hat ja auch umgekehrt Platon keine Scheu gehabt, Gedanken von anderen Schulen aufzugreifen, die seiner politischen Richtung entgegengesetzt waren, nicht zu letzt die Pythagoreer.

Eins Punkt, Monas, Atom, das Geistige, der Akt der Erkenntnis im Sinne von Erkenntnisprung

Die Eins ist für die Griechen jedoch noch keine Zahl (und erst recht nicht die Null), weil sie für sich keine Quantität mißt. Auf der Zahlengerade ist sie der Anfangspunkt und alle anderen Zahlen sind durch den Abstand zur Eins definiert. Die Eins ist die Einheit, das Maß, an dem alles andere gemessen wird.

Und der Eins entspricht als Körper die Pyramide (der Tetraeder). Ihre Oberfläche besteht zwar aus 4 Dreiecken, aber sie ist der Körper mit der kleinsten Grundfläche und ihre Spitze zeigt die Verwandtschaft zur Eins. In der Ebene lassen sich alle Flächen aus Dreiecken zusammensetzen. Ein Quadrat kann z.B. durch die Diagonale in zwei Dreiecke zerlegt werden. Wird ein Dreieck unterteilt, entstehen neue Dreiecke. Insofern ist das Dreieck die kleinste geometrische Einheit und kann symbolisch für die Eins stehen. Entsprechend lassen sich im Raum alle Körper aus Tetraedern aufbauen.

Das führt natürlich zu einem ganz anderen Geometrieverständnis als in der modernen Mathematik. So wie die Griechen nur natürliche Zahlen und die aus ihnen zusammengesetzten Proportionen (die rationalen Zahlen) akzeptierten, akzeptierten sie nur aus endlichen Bausteinen zusammengesetzte Flächen und Körper. Naturwissenschaft ist für sie grundsätzlich atomistisch. Für sie stellt sich höchstens die Frage, ob und wie es gelingen kann, dass die atomaren Bausteine den Raum restlos füllen.

Aber auch das vorangegangene Raumverständnis der mutterrechtlichen Zeit ist verlassen. Dort war das Dreieck Symbol der Fruchtbarkeit und der Veränderung. Ging es um das Bauen, das Aufbauen, Raum gewinnen, dann war aus praktischen Erwägungen das Quadrat und das Quader die kleinste Einheit, weil sich mit ihr am sichersten und stabilsten bauen lässt. Es wurde nicht nach dem Prinzip der kleinsten Einheit gesucht, sondern nach qualitativen Eigenschaften.

Der Eins entspricht in der griechischen Philosophie das Element Feuer. Darüber gibt es seit Heraklit keinen Zweifel und das ist nahezu ein Axiom jeder Naturphilosophie. Daher besteht die größte Verwandtschaft zur Idee der Bewegung.

Das Prinzip der Eins setzt den radikalen Gegenpunkt zur vorangegangenen Symbolik, die erst mit der Zwei begonnen und die Frage nach der zugrundeliegenden Einheit nicht gestellt hatte. Wird etwas gezählt, muß es mindestens zwei geben. So einfach war das. Platon sieht dieses Problem auch. Aber er sucht nach der Eins als dem Maß des Zählens. Das Feuer tritt als Symbol der Bewegung an die Stelle der zwei Schlangen, Drachen oder Rößlein, die miteinander spielen. Klarer kann der Unterschied kaum ausgedrückt werden. Dies ist der erste und entscheidende Abstraktionsschritt. Nicht mehr das Miteinander, die Mitte ist das Wichtige an der Bewegung, sondern das Feurige, das Belebende, das Prinzip des Bewegens.

Zwei Das Prinzip der Zwei ist, dass die Identität gebrochen wird und etwas Neues entsteht, das aber im Grunde nur eine Wiederholung der ursprünglichen Einheit darstellt. Die Zwei unterscheidet sich von der Eins, aber in einer Weise, dass sie den ersten Schritt entlang einer Kette öffnet, wo dieser Schritt immer von neuem wiederholt werden kann. Grundmuster dieser Idee ist die Menge der natürlichen Zahlen bzw. anschaulicher die Zahlengerade, auf der die natürlichen Zahlen liegen.

Dieser Gedankenschritt von der Eins zur Zwei und auf diesem Weg weiter zu allen natürlichen Zahlen ist das Modell für jedes wissenschaftliche Schlußfolgern und mathematische Beweisen. Schlußfolgerungen und Beweise vollziehen sich entlang eines Weges ohne Verzweigungspunkte von einem Ausgangspunkt zu einem Schlußpunkt (Schluß- bzw. Beweisketten). Nur wenn auf diese strenge Art gefolgert werden kann, kann der Beweis Sicherheit und Gewißheit beanspruchen.

Der Sprung von der Eins zur Zwei erfolgt so, dass diese Bewegung zu einer Gerade verlängert werden kann und in eine eindimensionale Bewegung ausläuft. Konsequent bedeutet das, dass Denken Zählen ist. Wenn die esoterische Lehre Platons von der Allmacht der Zahlen ausgeht, wird sie exoterisch als Allmacht des Zählens. Die auf die platonische Zwei aufbauende Dualität und Eindimensionalität des Denkens hat Zwangscharakter und sollte gerade in der Neuzeit in einem nie vorausgesehenen Maß die Wissenschaft bestimmen (Zeit des Keynsianismus und seiner Krise ). Für Platon handelt es sich hier natürlich nur um eine niedere Form des Denkens (im Sinne des Höhlengleichnisses).

Am Anfang steht eine diffuse Einheit, die analysiert werden muß. Am Ende stehen die einfachsten Atome, d.h. die charakteristischen Bestandteile, aus denen alles zusammengesetzt werden kann. Das Denken als Zählen führt zu jeweils zwei charakteristischen Zahlen: Zum einen ist die Anzahl der Denkschritte, z.B. der klassifizierenden Unterteilungen typisch, bis die gestellte Aufgabe restlos entschieden ist, und zum anderen die Anzahl der gefundenen Elemente auf der untersten Ebene, aus denen sich alles zusammensetzt, z.B. die Anzahl der Buchstaben, aus denen alle Wörter zusammengesetzt werden können. Mit vielen Beispielen will Stenzel zeigen, dass nach dieser Weise die Dialoge des Sokrates mit seinen Gesprächspartnern ablaufen. Mit seiner Fragetechnik führt er sie zur schrittweisen Untergliederung der gestellten Aufgabe und bringt sie dahin, selbst ohne Vorbildung oder Vorkenntnisse am Ende zu den richtigen Ergebnissen zu gelangen. Dass das Wissen angeboren ist und lediglich mit einer Hebammentechnik zur Welt gebracht werden muß liegt einfach daran, dass es entlang einer Bahn verläuft, die keine Alternativen und daher keine Fehler kennt. Am Ende bleibt aber das Gefühl, nichts wirklich Neues kennen gelernt zu haben.

Zweiheit, Dualität, Dyas. Die Zwei als die "erste Zahl". In der Vorlesung über das Gute erklärt Platon, dass allem zwei Prinzipien zugrunde liegen: Die Identität und die Entzweiung. Der Begriff der Entzweiung wird auch gefaßt als Groß-Kleines: Innerhalb eines Ganzen wird ein Teil unterschieden. Wenn der Unterschied des Ganzen zum Teil genau so groß ist wie das Teil selbst, handelt es sich um Halbierung. Dies erscheint unangemessen kompliziert gedacht, erklärt sich aber daraus, dass die Scheidung von der Einheit zum Zweiten so gefunden werden soll, dass eine eindimensionale Bewegung möglich ist.

Die Idee des Anderen. Das Unbegrenzte, der Raum, die Materie, das Teilnehmende, das Aufnehmende, das Leere, die Ausdehnung. Wenn die Zwei die erste Zahl ist, dann ist sie durch einen Abstand von der Eins getrennt. Dieser Abstand ist leer, und er ist die Grundform des Raums. All die anderen Begriffe ergeben sich intuitiv. Das Leere kann etwas aufnehmen, das Aufgenommene nimmt an ihm teil. Das Leere für sich betrachtet ist das Unbegrenzte. Vom Leeren aus gesehen sind die Grenzen das Andere, so wie das Leere für die Einheit, die das Begrenzte ist, das Andere ist.

Dies ist ein Beispiel für eine völlig neue, bis dahin unbekannte Art zu denken. Auf diese Weise denkt die Scholastik, die Metaphysik, aber am Ende auch jede Wissenschaft, wenn sie sich ihrer Grundlagen versichern will. Am Anfang wirkt diese Art zu denken immer befremdend. Aber es ist möglich, sich hinein zu denken, und dann wird es ganz einfach. Es wird so einfach, dass es keinen Ausweg lässt. Und genau das soll mit dem Ansatz, ein eindimensionales Denken zu verfolgen, erreicht werden.

Dies Denken bewegt sich immer entlang eines Paradoxes, da alle seine Begriffe doppeldeutig, im Grunde schizophren sind. In diesem einfachsten Fall bedeutet die Zwei sowohl das Ziel, die zweite Zahl, die Zweiheit, die sich von der Einheit unterscheidet, als auch das Prinzip des Unterscheidens selbst, den leeren Raum, der zwischen der Eins und der Zwei liegt. Das Andere kann als die erste andere Zahl verstanden werden, und das ist die Zwei, aber auch als das Andere gegenüber allen Zahlen, und das ist das Unbegrenzte. Diese Doppeldeutigkeit wird in den frühen Kommentaren zu Platon gern betont, wenn diese beiden Bedeutungen zusammengezogen werden und die Einheit als das Begrenzte und die Zweiheit als das Unbegrenzte bezeichnet wird.

Fast anschaulich wird das, wenn nach dem Feuer als Element der Eins die Luft als Element der Zwei folgt. Die Luft ist anschaulich die erste "Ausdehnung" des Feuers in Richtung Erde, der reinen Beweglichkeit zur Festigkeit. Geometrisch wird sie durch den Oktaeder symbolisiert. Die 4 gleichseitigen Dreiecke als Oberfläche des Tetraeders verdoppeln sich zu den 8 gleichseitigen Dreiecken auf der Oberfläche des Oktaeders. Im "Timaios" ergänzt Platon als weitere Qualitäten den Äther, den Nebel, das Dunkle. Mit diesen Eigenschaften soll das Unbegrenzte, die Leere zwischen der Eins und der Zwei beschrieben werden.

Ein Vergleich zu den früheren Symbolen der Zweiheit ist fast nicht mehr möglich. Aus der freien Beweglichkeit der zwei Lebewesen, die ständig im wechselseitigen schnellen Kontakt zueinander stehen, ist der Bewegungsablauf zwischen zwei Punkten geworden: von A zu B.

Drei Die Mathematik-Vision von Platon geht aber viel weiter, als es bisher scheinen mag. Für ihn sind die Zahlen keine sinnlichen Symbole, sondern sinnlich anschauliche Träger von Ideen und des Umgangs mit Ideen. So wie die Zwei für das logische Schließen entlang einer Gerade steht, für Beweistechniken, also für alles gesicherte Wissen, steht die Drei für Meinungen. Im Unterschied zum Schließen und Beweisen sind Meinungen gefragt an Verzweigungspunkten, wo Alternativen abgewogen werden, wo Wege verzweigen. Der verzweigende Weg, das trivium, führt aus der Linie hinaus in die zweidimensionale Fläche.

Zeichen der Drei ist die Wegverzweigung, das Y-Zeichen. Hier greift Platon ein uraltes Zeichen aus mutterrechtlichen Zeiten auf, aber mit ganz anderer Deutung. Ursprünglich war Hekate die Herrin der Dreiwege. Dort wurde über Geburt und Tod entschieden. Platon entnimmt aus dieser Situation gewissermaßen die formale Struktur und setzt sie in seinem System an die "richtige Stelle". Nun ist es nicht mehr die Mondgöttin, die längst bedrohliche, hexenhafte Züge angenommen hat, die über das Schicksal im Moment der Verzweigung gebietet, sondern die Vernunft, die im freien Austausch der Meinungen ihre eigene Autonomie und Autorität gewinnt.

Zahlentheoretisch bleibt bei den Platon-Kommentaren unklar, wie die Drei entsteht. Sie ist weder eine Verdoppelung der Eins noch der Zwei. Sie kann so gedacht werden, dass der Teil der Zwei, der zur Eins hingezählt wurde, also die Hälfte der Zwei, zur Zwei hinzugezählt wird. Oder sie wird so gedacht, dass in diesem Fall das Ganze dreimal so groß ist wie sein Teil (d.h. die 3 entsteht aus der Proportion 3:1). Oder es wird sogar angenommen, dass alle Zahlen bis 10 völlig unabhängig voneinander entstehen.

Die Schwierigkeit entsteht daher, dass unklar bleibt, ob linear auf der Zahlengerade, d.h. auf dem Wege 1 - 2 - 3 vorangeschritten werden soll, oder entsprechend der Stufenfolge der Potenzen 1 - 2 - 4. In diesem Fall verschwindet die 3 geradezu. Oft wird daher auch einfach angenommen, dass es zwischen der 1 und der 4 gewissermaßen ein gemeinsames Zwischenreich gibt, das Linien und Flächen enthält. Dies Zwischenreich wird der Seele zugeordnet, die zwischen Geist und Körper steht.

Mit der weiteren Differenzierung folgt der Luft nun das Wasser. Ihm wird der Ikosaeder zugeordnet. Aus der Oberfläche des Oktaeder mit 8 gleichseitigen Dreiecken entsteht eine neue Oberfläche mit 20 gleichseitigen Dreiecken. Ein Konstruktionsprozeß, der vom Oktaeder zum Ikosaeder führt, ist kaum mehr anschaulich. Aber es wird streng der Weg eingehalten, so lange als möglich Körper mit der einfachsten Basisfläche, dem Dreieck, zu konstruieren. So wird fast anschaulich, warum die Zwei und die Drei als Zwischenreich gelten zwischen den wesentlich einfacheren Figuren der Pyramide und des Würfels, der dann als viertes Element folgen wird.

Wenn die Eins für die Idee der Bewegung und die Zwei für die Idee des Anderen steht, kann wohl die 3 für die Idee der Identität stehen. Identität nicht im Sinne der Einheit, sondern im Sinne des Zusammenhängenden. Zahlentheoretisch enthält die 3 die 1 und die 2 (3 = 1 + 2), also das Eine und das Andere. Die Idee des Zusammenhängenden wird aber noch stärker durch das Element des Wassers nahegelegt. Als die auffallendste qualitative Eigenschaft des Wassers wurde immer angesehen, wie es etwas Zusammenhängendes darstellt. Dies wurde auch in ganz anderen Kulturen wie der chinesischen so empfunden.

Die Eigenschaft des Zusammenhängenden ist im Grunde auch gar nicht so entfernt von der früheren Vorstellung, wo etwa der Dämmerzustand als dritter Zustand einen Übergang und damit einen kontinuierlichen Zusammenhang zwischen Hell und Dunkel stiftet.

Die Pythagoreer gebrauchten nach Auskunft durch Aristoteles für die Fläche einen Ausdruck, der auch Haut und Farbe bedeutet. Auch hier sind die Dimensionen der Fläche und des Raums nicht scharf geschieden. Die Haut ist die Oberfläche von Lebewesen, die sich im Raum bewegen, und die Farbe entsteht in der Wechselwirkung von Lichtquellen und Reflexionsflächen im Raum.

Vier Nach dem Erkenntnissprung (Eins), dem Beweis (Zwei) und der Meinung (Drei) folgt die Wahrnehmung (Vier). Die Wahrnehmung erfaßt das Körperliche und bewegt sich im dreidimensionalen Raum des Tastbaren. Der Weg (die Neuplatoniker werden sagen "Abstieg") vom Geist über die Seele zum Körper ist vollendet.

Die Verfeinerung des Feuers über Luft und Wasser findet ihren Abschluß in der Erde. Den regelmäßigen Körpern mit einer aus Dreiecken zusammengesetzten Oberfläche steht nun der Würfel gegenüber, dessen Oberfläche aus 6 Quadraten besteht. Den Ideen der Bewegung, des Anderen und des Zusammenhängenden folgt die Idee der Beständigkeit.

Oft ungeklärt ist die Äußerung von Aristoteles, Platon sehe die Vierheit auch beim Pferd, beim Menschen und bei Kallias, was ungereimt sei. Sicher lassen sich viele Deutungsmöglichkeiten anführen. Aber Aristoteles wollte einfach darauf hinweisen, wie Platon immer wieder seine reine Geisteslehre dann doch mit Beispielen aus früheren Vorstellungen verdeutlichen wollte und dadurch Gefahr lief, dass seine Lehre beliebig und in die verschiedensten Richtungen deutbar wurde. Genau das ist später auch geschehen. Vielleicht war das aber auch nur eine Methode, unter dem Schein einer ungereimten Lehre den esoterischen Inhalt zu verstecken und nur Eingeweihten zugänglich zu machen.

Fünf Die Fünf könnte die Idee der Idee sein, wenn Platon im "Sophistes" die 5 Ideen des Sein, der Identität, des Anderen, der Beständigkeit und der Bewegung besonders hervorhebt. Diese Ideen enthalten sich alle gegenseitig. Vier von ihnen sind bereits entwickelt: Bewegung, Anderes, Identität und Beständigkeit. Nun kommt zusammenfassend das Sein hinzu. Sein ist hier gemeint als das Innere, das zu Beschützende und von innen Kraft Gebende.

Mit den Zahlen 1 - 2 - 3 - 4 werden die Dimensionen Punkt - Linie - Fläche - Raum erschlossen. Für die Griechen war es keine Frage, dass es keine weiteren Dimensionen im Sinne der Geometrie gibt. Während die Pythagoreer bei der Vier Halt machten, will Platon auch die Fünf erschließen. Daher ergänzt er die Reihe der Dimensionen um die Farbe. Er differenziert den pythagoreeischen Ausdruck für die Fläche und setzt die Farbe als eine eigene zusätzliche Dimension.

In der Reihenfolge der mathematischen Wissenschaften in Politeia (VII, 522 - 531) folgen Arithmetik - Geometrie - Stereometrie - Astronomie - Harmonielehre. Die Harmonielehre beschreibt die Eigenschaften des Kosmos, die Sphärenmusik und ihre Gesetzmäßigkeiten. Farbe und Klangfarbe gehören zusammen. Und es ist nur konsequent, hier den letzten regelmäßigen Körper zu ergänzen, den Dodekaeder. Seine Oberfläche besteht aus 12 gleichseitigen Fünfecken und diese 12 bezeichnet die 12 Sternzeichen.

Die Fünf gilt nicht mehr als irrational, behält aber den Charakter des Transzendenten. Sie ist nicht geheim und es ist nicht nötig, sie geheim zu halten. Aber alles, was geheim ist im Sinne von überirdisch, unbegreiflich, spirituell, gehört zur Fünf. Insofern ist sie das Geheimnis, und das ist die wahre Idee des Seins.

Platons Lehre ist eine "mathesis universalis", und aufgebaut auf der Eins ist sie eine Zahlentheorie des Denkens. Damit hat sich die Philosophie natürlich nie abfinden können und hat ihrerseits immer neue Philosophien der Arithmetik geschaffen. Aber auch die Mathematiker wurden nicht recht froh über die Ehre, die Platon ihnen angetan hatte. Er war ihnen zu mythologisch, und vor allem alles das, was zur Fünf gesagt ist, mochten sie nicht akzeptieren. Am Beginn der hier besprochenen Mathematik-Visionen stehen die "Grundlagen der Arithmetik" von Frege und nichts scheint ihm törichter als "schmelzbare Ereignisse, eine blaue Vorstellung, ein salziger Begriff, ein zähes Urteil". Am Ende ist sein Versuch, die Arithmetik und nach ihrem Vorbild die Mathematik "rein wissenschaftlich" widerspruchsfrei zu begründen, gescheitert. Eine Mathematik ohne das Geheimnis, ohne Vision, im Sinne Platons ohne die Fünf, erwies sich als unmöglich. Und dieses Scheitern gehört ebenso zur Vorgeschichte der Mathematik-Visionen in der Zeit des Faschismus wie die phänomenologischen Betrachtungen Husserls.

Von den natürlichen zu den transzendenten Zahlen

Einer der überzeugtesten Nationalsozialisten unter den Mathematikern war Max Steck. "Das Hauptproblem der Mathematik", so der Titel seiner 1941 und 1943 aufgelegten Broschüre, ist der axiomatische Aufbau der Mathematik. Hier unterscheidet er vergleichbar den beiden Stilarten mathematischen Schaffens nach Bieberbach zwei "Linien":

Sicher braucht nicht ausgeführt zu werden, wo überall diese beiden Linien unstimmig sind. Den Brennpunkt in der "deutschen Linie" bildet Proklos, einer der wichtigsten Vertreter der neuplatonischen Schule. Er lebte 412-485, kam aus Syrien und war Direktor der Akademie in Athen. Gründer der Neuplatoniker war Ammonias Sakka, der bis 241 lebte und sich vom Christentum zum Heidentum abgewandt hatte. Die Neuplatoniker waren die letzten philosophische Strömung, die sich in Europa zum Heidentum bekannte. Daher hatte Proklos nicht nur großen Einfluss auf Nikolas von Kues, Kepler, Leibniz, Hegel und Heidegger, sondern auch auf die seit der Romantik neuentstehenden Strömungen, die sich wieder auf das Heidentum besinnen wollten. Max Steck gab 1945 die deutsche Übersetzung seines mathematischen Hauptwerks, den Euklid-Kommentar heraus, die heute leider nur noch in kleinen Auszügen in Oskar Beckers "Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung" erhältlich ist.

Gegensatz von natürlichen und transzendenten Zahlen aus Gerade und Kreis. Den natürlichen Zahlen steht gegenüber π.

Literaturhinweise


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