Walter Tydecks

 

Freie Mathematik, frei von Anschauung

In der Mathematikgeschichte galten die elementaren Grundbegriffe wie Punkt, Eins, Raum und Zahl als so selbstverständlich, dass ihre Eigenschaften implizit unterstellt wurden, bis endlich Kant anfing, sie zum Gegenstand eigener Überlegungen zu machen. Danach gab es keinen Weg mehr zurück. Nie wieder konnte ein Axiomensystem entworfen werden wie bei den Griechen, dass sich der Endgültigkeit seiner Grundbegriffe völlig sicher war.

Dennoch kam es zum beiderseitigen Mißverständnis. Kant hat sich zwar für die weitere Entwicklung der Mathematik unschätzbare Verdienste erworben, indem er herausarbeitete, was jahrtausendelang unausgesprochen geblieben war und daher nie bewußter Gegenstand der Mathematik werden konnte. Anstatt aber nun die Mathematiker zu ermuntern, hier neu aufzusetzen, fixierte er seine Erkenntnisse als philosophische Begriffe, die nach seinem Verständnis außerhalb der Mathematik stehen. Und dadurch erschien umgekehrt die Überwindung der alten Grundlagen und der vertrauten Anschauung im ersten Moment als Befreiung von den einengenden Zwängen der Kantischen Philosophie und wurde entsprechend gefeiert. Die "freie Mathematik" wurde ausgerufen, die sich nicht mehr von der Anschauung leiten lassen will und jede Bevormundung durch die Philosophie abschüttelt. Zwischen 1870 und 1920 ist dies in aller Deutlichkeit durch die Axiomatiker Dedekind, Cantor und Russell formuliert worden.

Dedekind gab Auskunft über die Motive seiner Arbeit:

"Bei dem Begriffe der Annäherung einer veränderlichen Größe an einen festen Grenzwert und namentlich bei dem Beweise des Satzes, dass jede Größe, welche beständig, aber nicht über alle Grenzen wächst, sich gewiß einem Grenzwert nähern muß, nahm ich meine Zuflucht zu geometrischen Evidenzen. Auch jetzt halte ich ein solches Heranziehen geometrischer Anschauung bei dem ersten Unterrichte in der Differentialrechnung vom didaktischen Standpunkte aus für außerordentlich nützlich, ja unentbehrlich, wenn man nicht gar zu viel Zeit verlieren will. Aber dass diese Art der Einführung in die Differentialrechnung keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit machen kann, wird wohl niemand leugnen. Für mich war damals dies Gefühl der Unbefriedigung ein so überwältigendes, dass ich den festen Entschluß faßte, so lange nachzudenken, bis ich eine rein arithmetische und völlig strenge Begründung der Prinzipien der Infinitesimalanalysis gefunden haben würde." (zitiert nach Becker, s. 224f)

Anschauung gilt als Unwissenschaftlichkeit und eine Mathematik, die sich auf die Anschauung beruft, hat sich von der Philosophie sagen lassen müssen, dass sie deren Hilfe zum Verständnis bedarf. In dem Maß, wie sie sich von der Anschauung löst, löst sie sich auch von der Philosophie. Anschauung und Philosophie werden in diesem Sinne fast synonym zu Empirismus und Dogmatismus: Berufung auf die Anschauung erscheint als hilfloses Ertrinken in der Unendlichkeit des Materials, Berufung auf die Philosophie als Erstarrung in unpraktischen Regeln.

Stattdessen vertraut der Mathematiker nur noch seiner eigenen Vernunft und den von ihm selbst festgelegten Definitionen und Regeln und fühlt sich endlich frei:

"Einmal dürfen wir die ganzen Zahlen insofern für wirklich ansehen, als sie auf Grund von Definitionen in unserem Verstande einen ganz bestimmten Platz einnehmen. (...) Dann kann aber auch den Zahlen insofern Wirklichkeit zugeschrieben werden, als sie für einen Ausdruck oder ein Abbild von Vorgängen und Beziehungen in der dem Intellekt gegenüberstehenden Außenwelt gehalten werden müssen, als ferner die verschiedenen Zahlenklassen usw. Repräsentanten von Mächtigkeiten sind, die in der körperlichen und geistigen Natur tatsächlich vorkommen. (...) Dieser Zusammenhang beider Realitäten hat seinen eigentlichen Grund in der Einheit des Alls, zu welchem wir selbst mitgehören. - Der Hinweis auf diesen Zusammenhang hat nun hier den Zweck, eine mir sehr wichtig scheinende Konsequenz für die Mathematik daraus herzuleiten, dass nämlich letztere bei der Ausbildung ihres Ideenmaterials einzig und allein auf die immanente Realität ihrer Begriffe Rücksicht zu nehmen und daher keinerlei Verbindlichkeit hat, sie auch nach ihrer transienten Realität zu prüfen. Wegen dieser ausgezeichneten Stellung (...) verdient sie ganz besonders den Namen der freien Mathematik, eine Bezeichnung, welcher ich, wenn ich die Wahl hätte, den Vorzug vor der üblich gewordenen 'reinen' Mathematik geben würde. Die Mathematik ist in ihrer Entwicklung völlig frei und nur an die selbstredende Rücksicht gebunden, dass ihre Begriffe sowohl in sich widerspruchslos sind, als auch in festen durch Definitionen geordneten Beziehungen zu den vorher gebildeten, bereits vorhandenen und bewährten Begriffen stehen." (Georg Cantor, zitiert nach Becker, s. 296f)

Ohne den Begriff Symbol zu gebrauchen, sieht Cantor sehr klar, dass die Zahlen und Zahlklassen innerhalb der Mathematik "Ausdruck", "Abbild" und "Repräsentanten" der Außenwelt sind. Um so erstaunlicher ist dann der unvermittelte Sprung, wo er mit dem bloßen Hinweis auf die "Einheit des Alls" der Mathematik eine "ausgezeichnete Stellung" verleiht und sie damit gegen Fragen nach ihrer "transienten Realität" immun macht.

Diesen Fragen kann konsequent nur ausgewichen werden, wenn die Zeichen der Mathematik nicht als Symbole angesehen, sondern unmittelbar mit den Objekten der Wirklichkeit identifiziert werden. Das war das Grundverständnis der griechischen Mathematik und am liebsten würde Cantor in diese heile Welt zurück, wo die Objekte der Mathematik noch in keiner Spannung von Sein und Bewußtsein standen. In einem letzten Aufbäumen will er sich der Einsicht verschließen, dass die Mathematik sich in eine symbolische Mathematik gewandelt hat und will im Sinne einer "Einheit des Alls" die neuen Zahlen und Zahlenklassen retten als Objekte der Mathematik, die wie in der griechischen Mathematik eine unmittelbare Identität zwischen Mathematik und Natur garantieren. Selten ist so eindeutig das Motiv der Bemühungen um ein neues Axiomensystem ausgesprochen worden. Innerhalb des Axiomensystems und mit den Axiomen soll frei operiert werden, und die Axiome sollen nach außen frei machen von allen kritischen Fragen.

Wenig später faßte Russell die Kritik an Kant neu zusammen. Während Cantor und Dedekind von der philosophischen Tradition nicht direkt wahrgenommen wurden, stand Russell in Diskussion mit Wittgenstein und der Wiener Schule. Mit seinen Arbeiten beeinflußten die neuen mathematischen Erkenntnisse nun direkt die weitere Philosophiegeschichte.

"Kein Appell an den gesunden Menschenverstand oder an die Anschauung, sondern nur strenge deduktive Logik soll in der Mathematik vorkommen, nachdem einmal die Prämissen aufgestellt worden sind. Kant bemerkte, dass die Geometer seiner Zeit ihre Sätze nicht rein logisch beweisen konnten, sondern auf die Figur hinweisen mußten. Er stellte daher die Theorie auf, nach der der Schluß nie streng logisch erfolgt, sondern immer von der sogenannten 'Anschauung' unterstützt werden muß. Die moderne mathematische Richtung mit ihrem wachsenden Streben nach Strenge steht zu dieser Kantschen Theorie im Gegensatz. Was zu Kants Zeiten in der Mathematik nicht bewiesen werden konnte, das kannte man nicht - z.B. das Parallelenaxiom. In der Mathematik und durch mathematische Methoden kann nur das erkannt werden, was sich rein logisch ableiten lässt. Was sonst noch zur menschlichen Kenntnis gehört, muß anders ermittelt werden, empirisch, durch die Sinne oder durch irgendwelche Erfahrung, aber nicht apriori." (Russell, 'Einführung in die mathematische Philosophie', s. 146f)

Entsprechende Formulierungen sind fast wörtlich auch bei Wittgenstein und anderen Vertretern des Wiener Kreises zu finden. Aber im Grunde ist der Kurzschluß schon zu spüren: Zwar wird jetzt die Anschauung der euklidischen Geometrie und der natürlichen Zahlen verlassen. Nur was rückt an ihre Stelle: die "logische Strenge". Schon dieser Ausdruck hat etwas Paradoxes: Es genügt nicht, logisch vorzugehen, sondern das logische Vorgehen muß streng eingehalten werden. Was ist diese Strenge? Das logische Vorgehen ist die Methode der Mathematik, die Strenge eine erste Aussage über die Logik. Kants Begrenzung der Naturwissenschaft wird abgelehnt. Statt dessen flüchtet sich die Mathematik nun offen in die zweistellige formale Logik, und verlangt von ihr, dass sie erstens die Beweistechnik der Mathematik bestimmt und zweitens sich selbst streng an ihre eigenen Prämissen hält.

Konsequent ging Hilbert diesen letzten Schritt, dass nicht nur die Objekte der Theorie (die mathematischen Axiome) widerspruchsfrei sein müssen, sondern ihre Vorgehensweise selber. Objekt und Methode werden den gleichen Maßstäben unterworfen und treten in einen wechselseitigen Prozeß der Selbstreflexion.

"Wir müssen aber einen entsprechenden Standpunkt gewinnen, indem wir uns auf eine höhere Stufe der Betrachtung begeben, von der aus die Axiome, Formeln und Beweise der mathematischen Theorie selbst Gegenstand einer inhaltlichen Untersuchung sind. Dazu müssen aber zunächst die üblichen inhaltlichen Überlegungen der mathematischen Theorie durch Formeln und Regeln ersetzt werden, d.h. es muß eine strenge Formalisierung der ganzen mathematischen Theorien einschließlich ihrer Beweise durchgeführt werden." (Hilbert, s. 165)

Über die Mathematik wölbt sich die Metamathematik. Das führt direkt in das Paradox der Selbstreferenz: Wenn Sprache und Metasprache einander verschlingen, geht kein Weg mehr vorbei an Aussagen von der Art "alles, was ich sage, ist falsch". Goedel hat diese einfache Aussage, die anfangs nur wie ein harmloser Scherz klingt, ganz im Sinne des Programms von Hilbert in die gewünschte abstrakte Verallgemeinerung gebracht und konnte dann zeigen, dass eine widerspruchsfreie Begründung der Mathematik nie gelingt.

Das hat zwar den unmittelbaren Intentionen Hilberts einen großen Dämpfer versetzt. Aber die allgemeinere Tendenz der freien Mathematik ist dadurch eher noch verstärkt worden: Autonomie von Anschauung und Philosophie, indem in den Augen der Mathematiker mit dem Programm von Hilbert der letzte ernst zu nehmende Versuch einer logischen oder allgemeiner philosophischen Begründung der Mathematik gescheitert war. Grundsatzfragen schienen nur in Grundsatzkrisen zu führen.

Die eigentliche Arbeit geht daher am besten so weiter, als wäre nichts gewesen, kümmert sich nicht länger um die Grundlagen und beruft sich darauf, dass alles 'funktioniert'. Wenn aber nicht mehr alles funktioniert, sträuben sich die offizielle Mathematik und Naturwissenschaft mit Händen und Füßen gegen diese Einsicht. Seit den 1970er Jahren wurden die Unmöglichkeit der Beherrschung der neuen Großtechnologien und die Sackgasse der allumfassenden Weltformeln und Spekulationen über den Anfang der Welt unübersehbar. Nicht ohne Grund nahm aber die Diskussion um diese Fragen sofort den Charakter eines religiösen oder eben philosophischen Richtungsstreits an, da bei 'Nicht-Funktionieren' die letzte verbliebene Säule des gesamten Gebäudes in Frage gestellt ist. Wenn sie wankt, kann die Mathematik einer neuen philosophischen Klärung ihrer Grundbegriffe, einer kritischen Überprüfung der von ihr verwendeten Symbole nicht mehr aus dem Wege gehen. Aber auch die Philosophie muß aus dem gemütlichen Schlaf erwachen, in den sie seit 100 Jahren versunken ist und sich ganz auf die Erfolge der Naturwissenschaft verlassen hat.

Literaturhinweise

1982 - 1984

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