Walter Tydecks

 

Kritik des Eindeutigkeitsaxioms



Über das Selbstverständnis der Mathematik hat sich seit 1940 ein Schweigen gelegt, wie es das in ihrer Geschichte noch nie gegeben hat. Abgesehen vielleicht von dem zaghaften und schnell wieder zurückgezogenen Anlauf einer mengentheoretischen Begründung versteckte sich die Mathematik so weit es irgend ging hinter ihren Anwendungsgebieten. Die Grundlagendiskussion wurde nicht ausgewertet, sondern verstummte und wird bestenfalls als historisches Ereignis referiert. Die Ansätze zu einem Dialektischen Materialismus in der Sowjetunion erstarrten und auch die Kritische Theorie konnte mit den Naturwissenschaften nicht viel anfangen. Philosophie und Mathematik zogen die Köpfe ein und wollten von gegenseitigen Impulsen nichts mehr wissen. Höchstens am Rande der offiziellen Philosophiegeschichte lebte die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der logischen Basis der Mathematik und Naturforschung weiter. Nietzsche und Heidegger hatten die kritischen Fragen von Kant aufgenommen und sind systematisch bis zu den Griechen zurückgegangen, wobei allerdings der direkte Bezug zur Mathematik immer dünner wurde. Hannah Arendt, Gotthard Günther und Klaus Heinrich arbeiteten mit jeweils sehr unterschiedlicher Zielrichtung daran weiter, wovon im folgenden ausgegangen werden soll.

Negative Unendlichkeit

Günther hat den Fluchtversuch der Mathematik in eine Begründung durch die zweiwertige formale Logik, d.h. durch das klassische Fundament der griechischen Mathematik, ernst genommen. Die Axiome dieser Logik formulieren eine strenge Seinsphilosophie, in der Sein und Natur gleichgesetzt werden. Zwischen endlichen und unendlichen Objekten, Objekten des Seins und des Bewußtseins wird kein Unterschied gemacht. Entscheidend ist daher das Eindeutigkeitsaxiom, das all diese Gleichsetzungen absichert.

Identität der Natur mit sich: A = A
Widerspruchsfreiheit der Natur: A und zugleich nicht-A ist unmöglich
Eindeutigkeit der Natur: Es gibt entweder A oder nicht-A.
Etwas Drittes ist ausgeschlossen. (tertium non datur)

Die Axiome bewähren sich zunächst für die Rechenregeln mit endlich-großen Zahlen. Zum Beispiel muß für alle Mengen, in denen widerspruchsfrei multipliziert werden soll, u.a. vorausgesetzt werden:

für alle Zahlen a, b aus der Menge gilt: a · b = b · a
es gibt eine 1, wobei für alle Zahlen a gilt: a · 1 = a

Die Rechenregeln machen nur Sinn, wenn durch die Axiome der Logik sichergestellt ist, dass die Zahlen während der Rechenoperationen eindeutig und unverändert bleiben. Dem Eindeutigkeitsaxiom in der Logik entspricht gewissermaßen als ein Anwendungsfall in der Geometrie und Physik das Axiom von der Existenz starrer Körper. Konstruktionen mit Lineal und Zirkel ergeben nur dann feste Konstruktionsregeln, wenn das Lineal überall und immer gleich bleibt. Jede Messung setzt voraus, dass die Meßsituation wiederholbar ist, dass es also eine fixierbare Meßumgebung gibt, die an jedem Ort und zu jeder Zeit aufgebaut werden kann und immer die gleichen Resultate liefert.

Aber das Unendlichkeitsaxiom stellt sich quer. Unendlichkeit kann widerspruchsfrei nur so lange vorkommen, wie sie "weit draußen" liegt, z.B. in der Vorstellung, dass immer weiter gezählt werden kann (1, 2, 3, ...). In diesen Fällen geht aber keine Größe, die mit dem Unendlichkeitssymbol bezeichnet wird, direkt in die Rechenoperationen ein. Mit "unendlich" wird nicht gerechnet.

Dagegen wird bei überabzählbaren Mengen das Eindeutigkeitsaxiom systematisch verletzt. Denn in diesen Fällen ist das Symbol endlich, soll aber einen unendlichen Inhalt bezeichnen. Das führt immer dazu, dass der Umfang des Unendlichen nicht eindeutig beschrieben werden kann.

Die meisten griechischen Paradoxien (wie von Achilles und der Schildkröte) rühren aus diesem Widerspruch. Auch die moderne Mathematik kann sich trotz aller neuer Begriffsbildungen davon nicht befreien. Der Grenzübergang wird durch Begriffe wie epsilon-Umgebung, limes n->a oder "unendlich-nah" beschrieben. Aber zu einer vorgegebenen Zahl a kann keine einzige Zahl x bestimmt werden, die ihr unendlich-nahe ist bzw. in jeder epsilon-Umgebung von a liegt.

Dennoch werden diese Begriffe dadurch nicht inhaltsleer. Sondern umgekehrt wird diese Unmöglichkeit zur negativen (und einzig möglichen) Formulierung des Unendlichkeitsaxioms gebraucht. Genau in dieser Situation, wo gezeigt werden kann, dass es zu jeder Zahl x1 in der Nähe einer vorgegebenen Zahl a mindestens eine weitere Zahl x2 gibt, die näher bei a ist als x1, gibt es in der Nähe von a unendlich-viele Zahlen und also auch solche, die unendlich-nahe bei a sind. Anschaulich gesprochen liegen die unendlich-vielen Zahlen unendlich-dicht bei a, so dass sie nicht einzeln identifiziert und die Abstände zwischen ihnen nicht mit endlichen Werten gemessen werden können.

In der Physik gibt es für solche Fälle sehr sprechende Ausdrücke: Die Werte sind in der unendlich-nahen Umgebung von a "verschmiert", die Werte liegen in einer "Wolke", sie sind "unscharf". Wie in der Mathematik liegt beim Grenzübergang Uneindeutigkeit vor, unsichere Bestimmung der äußeren Begrenzung der Meßgenauigkeit.

Offensichtlich versagen die Begriffe von Größe und Abstand, wenn endliche und unendliche Größen direkt symbolisch miteinander verknüpft werden sollen. Der Ansatz der formalen Logik lässt sich nicht durchhalten, endliche und unendliche Größen gleich zu behandeln.

Vielmehr werden die Naturwissenschaften noch deutlich zeigen, dass aus der Sicht des Endlichen das Unendliche immer maßlos groß und aus der Sicht des Unendlichen das Endliche immer vernachlässigbar klein ist. Wenn auch mit endlichen und unendlichen Größen nicht direkt miteinander gerechnet werden kann, werden die Ideen von Maß und Strömung einen Weg zeigen, diese Spannung in einen wissenschaftlichen Ansatz zu integrieren. Das Eindeutigkeitsaxiom muß dabei aber aufgegeben werden.

Meta-Logiken und Selbstreflexion

Innerhalb der klassischen Logik ließ sich der neue Unendlichkeitsbegriff aus dem mathematischen Differentialkalkül nicht widerspruchsfrei einbauen. Die Schwierigkeit wurde jedoch lange im formalen Vorgehen der Logik gesucht und nicht in den inhaltlichen Aussagen ihrer Axiome. Ähnlich wie die Mathematik mit der Metamathematik in einem umfassenderen Axiomensystem eingebettet werden sollte, erfolgte durch die Metalogik eine Selbstüberpüfung der Logik.

Aber in der Meta-Logik wiederholen sich letzten Endes die Axiome der Logik nur und es entsteht ein unendlicher Prozeß von Meta- ... Meta-Logiken. Günther sieht das Problem darin, dass schon die Logik Sein und Bewußtsein nicht systematisch getrennt hat und daher keine Selbstreflexion kennt. Auch die höheren Logiken bleiben Logiken der Selbstidentität und vermögen daher nicht aus der Sackgasse herauszuführen.

Die Logik soll aus Elementaraussagen (Tatsachen-Sätzen) aufgebaut werden, deren Wahrheitswerte eindeutig bestimmt werden können. Komplexere Aussagen sollen dann aus ihnen zusammengesetzt werden. Ihre Vorgehensweise entspricht daher der Mathematik, solange diese mit endlichen Größen operiert. Die Probleme der Mathematik, wenn Symbole direkt verknüpft werden sollen, die endliche und unendliche Größen bezeichnen, werden daher entweder gar nicht erfaßt oder wiederholen sich auf die gleiche Art.

Auf der anderen Seite hat Hegel versucht, die Reflexion zum Zentrum seiner Philosophie zu machen. Hierfür übernimmt er in der "Wissenschaft der Logik" den mathematischen Unendlichkeitsbegriff aus dem Differentialkalkül. Aber er springt ganz aus der formalen Logik heraus und versucht erst gar nicht, den Reflexionsgedanken in vergleichbarer Weise zu formalisieren. Übrig bleibt nur die Eigenschaft der Trinität, der Drei-Schritt der Dialektik aus These, Anti-These und Synthese. Die Trinität erhält von Hegel jedoch eine absolute Bedeutung und wird nicht als eine Eigenschaft gesehen, die auch Gegenstand der Mathematik ist und dort von der Zahlentheorie (bzw. Zahlenmystik) studiert wird. Daher bleibt er dem Wissenschaftsprozeß äußerlich. Sein Unendlichkeitsbegriff stammt zwar aus der Mathematik, aber ähnlich wie Kant isoliert er den so gewonnenen Begriff von der Mathematik. Im Grunde sagt er der Mathematik, dass sie etwas entdeckt hat, womit sie nichts anfangen kann, und wofür es auch keine mathematische Lösung geben kann.

Dennoch zeigt Hegels Figur der Aufhebung elementar, wie es weitergehen kann. Indem sie die Spannung von These und Antithese (A und nicht-A im Eindeutigkeitsaxiom) in Richtung einer neuen Qualität aufhebt, wird im Moment der Aufhebung bewußt das Eindeutigkeitsaxiom durchbrochen und mehr naturwissenschaftlich gesprochen eine neue Dimension oder ein neuer Freiheitsgrad eröffnet.

Günther will diese Figur formalisieren und sucht daher nach mehrwertigen Logiken. Seine tastenden Versuche führen in das Gebiet der endlichen Graphentheorie mit mindestens 2 Koordinaten.

Synchronizität und Chemie

Wenn das Eindeutigkeitsaxiom der Angelpunkt der klassischen Logik und der Axiomatik der griechischen Mathematik ist, wird sich jede kritische Prüfung sinnvollerweise ganz darauf konzentrieren. Das ist nirgends so deutlich und konsequent gelungen wie in den Arbeiten von Klaus Heinrich. In der eigens dem "tertium datur", d.h. dem Eindeutigkeitsaxiom gewidmeten Vorlesung fragt er nach den religionsphilosophischen Ursprüngen dieser Logik. Seine These: Historisch wurde das Eindeutigkeitsaxiom aufgestellt, um alle vorgefundenen mythologischen Vorstellungen zu reinigen. Die frühen Götter und Naturgewalten waren noch nicht in Gut und Böse aufgeteilt. Ihnen ließen sich nicht eindeutig bestimmte Qualitäten zuordnen. Spätestens mit dem Übergang von der Naturphilosophie zur "reinen Philosophie" (Parmenides, Sokrates, Platon) setzte sich eine Aufklärung durch, die die schier unentwirrbar verknüpften Eigenschaften in reine Bestandteile zerlegen und alle verhängnisvollen Verstrickungen auftrennen wollte. Im Umfeld dieser existentiellen Krisensituation werden die Axiome der formalen Logik gedeutet:

Identitätssatz Er soll die drohende Spaltung, die drohende Nicht-Identität abwehren und statuiert einen befriedeten Zwangscharakter
Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch Angst vor dem Zerrissenwerden
Eindeutigkeitssatz Abwehr der "Doppelköpfe" (wie Parmenides aus seiner Sicht die unwissende Menge bezeichnet), der Mischungen, des realen Lebens mit Geborenwerden und Sterben.

Die Qualitäten werden radikal zu Quantitäten verkürzt. Die Stellen, wo sie neu hervorbrechen könnten, sollen durch das Eindeutigkeitsaxiom verschlossen werden. Da es sich um einen nur mit religiösen Kategorien faßbaren Vorgang handelt, geht es im Grunde um elementare Machtfragen. Das Verständnis hierfür ist so wichtig, da unweigerlich jeder Versuch, die symbolische Mathematik anders als durch das Eindeutigkeitsaxiom zu begründen, auf diese Entscheidung zurückkommen und eine neue Lösung finden muß. Um zu sehen, wie direkt mit dem Eindeutigkeitsaxiom Machtfragen berührt sind, braucht nur mit Heinrich gefragt zu werden, wo die Vorstellung der "Notwendigkeit" (der "Strenge") des logischen Folgerns ihren historischen Ursprung hat: In den Gesetzmäßigkeiten und der Schicksalsnotwendigkeit der tabellarischen Stammbäume (dem Geschlechterfluch). Wenn mit dem begrifflichen Denken versucht wird, die alte Mythologie zu überwinden, soll das ein Befreiungsschlag gegen die Mächte der Vorfahren und der Verstrickung in ihr Schicksal sein. Aber alle diese Versuche sind schon deswegen zum Scheitern verurteilt, da sie in der "logischen Strenge" das alte Erbe weiter mit sich tragen.

Das soll hier an der Synchronizität und der Chemie verdeutlicht werden: Wenn es keine Synchronizität gibt, wird die Macht einer ganzen priesterähnlichen Schicht gebrochen, deren Wirkung auf der Auslegung synchroner Ereignisse beruhte (Wahrsager, Magier, Hexen). Umgekehrt wurde mit den chemischen Techniken der Scheidung die Legitimationsbasis für eine neue Macht geschaffen, die sich auf wiederholbare Experimente, Isolierung einzelner eindeutig bestimmbarer Prozesse, eindeutige Protokollierung bis zur mathematisch präzisen Beschreibung und praktischen Anwendbarkeit beruft. Die Ursprünge von Chemie und Schmiedekunst führen in die Zeit, als am Beginn des Eisenzeitalters auch alle Religionen und Machtstrukturen völlig umgewälzt wurden.

Das magische, vorwissenschaftliche Denken kennt Zeitsprünge und Synchronizität: Bestimmte Ereignisse kündigen sich durch vorlaufende Zeichen an bzw. kehren wieder (z.B. als deja-vu-Erlebnisse). Die Zeichen vor und nach dem eigentlichen Ereignis (z.B. einer besonders guten Ernte oder einem Todesfall) stehen dabei in keinem kausalen Zusammenhang: Weder verursachen sie das Ereignis noch sind sie eine Wirkung davon. Vielmehr ist es ähnlich wie bei den unendlich-dichten, "verschmierten" Punkten nicht möglich, das Ereignis eindeutig zeitlich zu fixieren. Der Hellseher sieht im Grunde das Ereignis nicht voraus, sondern er nimmt wahr, dass es sich bereits ereignet. Es gibt für ihn daher auch kein Mittel, das Ereignis irgendwie abzuwenden.

Synchronizität bedeutet, dass weiter das Ereignis nicht nur zeitlich, sondern auch in einem gegebenen Zeitmoment räumlich auseinanderfällt und an mehreren Stellen zugleich auftritt. Wer Synchronizität wahrnehmen kann, sieht an einem Ort ein Zeichen, und weiß, dass an einem anderen Ort ein für ihn nicht direkt wahrnehmbares Ereignis geschieht. Oder er wird mit mehreren Zeichen konfrontiert und weiß, dass sie innerlich zusammengehören. Wieder ist wichtig zu verstehen, dass zwischen diesen Zeichen kein Kausalzusammenhang besteht. Es ist also z.B. nicht gemeint, einen Donner zu hören und zugleich den Blitz zu sehen, sondern z.B. eine Blume zu sehen und in dem Moment zu wissen, wie es einem entfernt lebenden nahen Bekannten geht.

Das Wissen um vor-, nach- und mitlaufende Zeichen führt zu Identitätskrisen und konnte daher meist nur von bestimmten Personen ausgehalten werden. Und auch denen ist das nur möglich bei Einhaltung verschiedenster Vorsichtsmaßnahmen. Daraus kann Machtmißbrauch und Scharlatanerie entstehen und im Gegenzug wird es vom Nicht-Eingeweihten als bedrohliche Macht empfunden, über die Gesetze der Kausalität und damit über alle Naturgesetze hinweg andere beeinflussen (verhexen) zu können. Es gibt kein technisch erzeugtes Machtmittel dagegen. Noch vor der Konstruktion immer besserer Waffen soll daher das Eindeutigkeitsaxiom der Aufklärung diese Macht bannen.

Die labyrinthisch verschlungene Zeit wird auf eine eindimensionale Achse reduziert. Das Zerrissenwerden in mehrere Zeiten (Zeit der Eltern, der Erziehung, der aktuellen Beschäftigung, des Alterns etc.) wird ebenso abgewehrt wie alle Möglichkeiten und Sprünge, die die Zeit in ihrer ganzen Fülle offenhalten könnte. Übrig bleibt die nackte, einfache Zeit als Ordnungsprinzip.

Nach Möglichkeit wird die Zeit ganz negiert und logische Systeme entstehen, die im Grunde zeitlos sind. Punkt und Eins kennen keine Umgebung, keine Vergangenheit und Zukunft. Die Welt wird als Konstellation aus starren Bestandteilen (Atomen) gedacht. (Moderne Para-Wissenschaft wie die Astrologie bleibt im Ausdeuten solcher festen, ewig-gleichen Konstellationen stehen und leugnet ebenfalls die Chancen unberechenbarer Sprünge und subjektiver Möglichkeiten.)

Die Naturwissenschaften und das in ihnen enthaltene Wissen um die Natur sollen aus Geometrie abgeleitet werden. Im Grunde waren die Wissenschaftstheoretiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch konsequenter, indem sie ausgehend von den Wünschen der Mathematik die Fundierung ohne Umwege direkt in der Logik suchten.

Als Naturwissenschaft bleibt eigentlich nur die Mechanik übrig. Alle anderen müssen ihren Gegenstandsbereich so einschränken, dass ausschließlich die mechanische Seite gesehen wird.

Aber Grundlage und Vorbild der aufklärenden Philosophie war die Chemie. Bis in die Neuzeit stand sie am Anfang jeder Naturphilosophie. Ihr gelang ganz handfest und nicht nur im Bereich der Ideen, die Naturgegenstände so in ihre Bestandteile zu scheiden, dass die einzelnen Qualitäten separiert und rein für sich dargestellt werden konnten. Im Ergebnis entstanden Systeme von Grundelementen, mit denen alle Qualitäten geordnet und aus denen alle Produkte hergestellt werden sollen. Analyse und Synthese nehmen ihren anschaulichen Anfang in der Chemie.

Seit Empedokles dominierte die Vorstellung der 4 Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft. Oft wird vergessen, dass Platon im "Timaios" seine geometrische Kosmologie auf diesen Elementen aufgebaut hat: Erde = Würfel, Wasser = Ikosaeder, Feuer = Tetraeder und Luft = Oktaeder.

Im Unterschied zur Mathematik arbeitet die Chemie direkt mit natürlichen Stoffen. Während nach vorherrschender Meinung die Mathematik ihre Symbole ausschließlich nach internen Erfordernissen der Rechenmethoden gestaltet (z.B. Einführung des Dezimalsystems), stehen die chemischen Symbole unverkennbar für natürliche Elemente. Und während die mathematischen Gleichungen eine zeitlose Identität ausdrücken ('2 + 2 ist 4' und nicht: 'aus 2 + 2 wird 4'), stehen die chemischen Gleichungen für einen zeitlichen Prozeß mit bestimmten Rahmenbedingungen (Wärmezufuhr, Gärzeiten, Schütteln, Kneten, etc.).

Die Chemie lebt von der Spannung von Atomen und Elementen oder in neuerer Erkenntnis von Molekülen und Zuständen. Die Elemente wie Wasser oder Luft sind Strömungen "unendlich vieler" Moleküle. Der chemische Prozeß kann einerseits lokal beschrieben werden als chemische Formel der hauptsächlich beteiligten Moleküle, andererseits global als Zustandsveränderung des Elements (indem z.B. das Wasser verdampft, bestimmte Stoffe auskristallisiert werden u.ä.). Heute wird unter Chemie in der Regel nur die lokale Beschreibung verstanden, indem es gelingt, das für eine bestimmte Eigenschaft jeweils maßgebliche Molekül mit seinen Reaktionsmöglichkeiten zu bestimmen (z.B. das Molekül der Indigofärbung, des Kakaogeschmacks, einer Krankheit usw.). Auf dieser Ebene gelingt der Chemie am ehesten eine mathematische Beschreibung durch Summenformeln, Strichformeln, Strukturdiagramme, räumliche Modelle. Und auf dieser Ebene gilt das Eindeutigkeitsaxiom, da die Formeln jeweils endlich viele atomare Bestandteile eindeutig verknüpfen.

Aber im wirklichen chemischen Prozeß vollzieht sich die lokale Summenformel niemals rein, nicht einmal unter Laborbedingungen. In der Gesamtheit der Moleküle entstehen neue Wechselwirkungen, die in der lokalen Summenformel unberücksichtigt bleiben. Die Moleküle ordnen sich z.B. entsprechend ihrer inneren Ladungsverteilung. Äußere Einflüsse wie Licht, Wärme oder mechanische Bewegungen kommen hinzu. Statistisch nicht mehr berechenbar kleine Verunreinigungen können den gesamten Prozeß entscheidend beeinflussen (hierauf beruhen etwa die Verdünnungsgrade der Homöopathie). Insgesamt geht in der globalen Beschreibung die lokale Eindeutigkeit verloren.

Der globale Prozeß führt zu kontinuierlichen Strömungen mit charakteristischen Zustandsänderungen, die in Farbverläufen, Geschmacksverschiebungen, Kristallisationen etc. deutlich werden. Aber hier gibt es qualitative Sprünge (z.B. von fest zu flüssig), wodurch bestimmte Spektrallinien in den kontinuierlichen Spektren hervorgehoben werden. Das führt zu dem Ansatz, dass auf der globalen Ebene die Gesetze der Zustände und ihrer Eigenschaften ebenso eindeutig gelten wie auf der lokalen Ebene die Gesetze der Atome. Aber das wirkliche Wechselverhältnis bleibt zunächst offen und kann nicht eindeutig geklärt werden, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass es im lokalen Bereich der Atome zu Resonanzverstärkungen kommt, die sich dann doch störend auf den globalen Bereich auswirken.

Was den globalen Prozeß vom lokalen unterscheidet, ist das Zusammenwirken aller beteiligten Prozeßlinien. Die lokale Betrachtung zieht eine einzelne Reaktionslinie heraus, isoliert sie von ihrer Umgebung und vermag sie somit rein und eindeutig darzustellen. Für die globale Betrachtung ist dagegen die Synchronizität, der innere Zusammenhang der ganzen Strömung wichtig. In jeder Strömung gibt es auch Wirbel quer zur Zeitachse mit vor- und nachlaufenden Effekten.

Die Chemie rundet in einer anschaulichen Art und Weise die Kritik am Eindeutigkeitsaxiom ab. Und sie liefert über die Idee der dialektischen Aufhebung bei Hegel hinaus neues Material für die Weiterentwicklung der Mathematik. Solange Hegels Idee einer Mathematik der Natur bloß auf Beispiele der Mechanik gegründet war, fiel sie immer wieder zurück in die traditionelle Größenlehre.

Literaturhinweise

© tydecks.info 2002