Walter Tydecks

 

Der Begriff Sprung in der Mathematik

Neuer Leitbegriff der Mathematik wird der Sprung. Seit Hegel ist das das eigentliche Thema zwischen Mathematik und Philosophie. Nachdem im 19. Jahrhundert die Mathematik durch ihre unglaublichen Fortschritte der Philosophie regelrecht davongeeilt war, wendete sich im 20. Jahrhundert wieder das Blatt. Auf der einen Seite hielten die mathematischen Axiomensysteme nicht, was sich die Mathematiker von ihnen versprochen hatten. Auf der anderen Seite führten die auch mit Hilfe der neuen mathematischen Erkenntnisse entwickelten Techniken in militärische, ökologische und soziale Katastrophen und Bedrohungen. Gerade in dieser Lage wäre es für die Mathematik besonders wichtig, sich auf ein sicheres Fundament berufen zu können. So aber ist es schwierig, auf die neuen kritischen Fragen der Philosophie eine überzeugende Antwort zu finden, für die im folgenden exemplarisch einige Passagen aus dem Buch "Vita activa" von Hannah Arendt stehen sollen.

Der Begriff Sprung schillert in vielen Bedeutungen. Zweifellos gab es in der Geschichte der Mathematik einen Sprung, als angefangen wurde, mit Symbolen zu rechnen, die als Zeichen für Unendliches stehen. Mit einem Mal konnten die Fragen der griechischen Mathematik völlig neu gestellt und gelöst werden. Es gab also wirklich eine neue Sichtweise, einen neuen Standort.

Innerhalb der Mathematik wird von Sprung gesprochen, wenn im Differentialkalkül ein Sprung zwischen verschiedenen Qualitäten erfolgt. Und der Begriff Sprung leitet natürlich schnell weiter in verschiedenste philosophische, religiöse und psychologische Interpretationen, wo mal der Mut zum Sprung aufgenommen und als Beweis der menschlichen Freiheit gesehen wird, und dann wieder als verantwortungsloses Aufgeben aller Bindungen und damit als Sprung in die Selbstvernichtung.

Für die symbolische Mathematik stellen sich einige grundsätzliche Fragen: Wurde mit dem Sprung eine neue Qualität der Symbole möglich? Gibt es Symbole, die aus sich heraus den Raum erzeugen, in dem sie dargestellt werden sollen, die also gewissermaßen einen "logischen Urknall" ermöglichen? Hat der einmal gelungene Sprung im Differentialkalkül die Möglichkeit eröffnet, ganz die Geometrie zu verlassen? Gibt es einen Sprung, der sogar von der Frage nach dem Weg des Sprungs befreit? Also einen Sprung, der nicht im Raum stattfindet, sondern in den Raum? Und wieso ist das überhaupt eine Befreiung? Es wäre auf jeden Fall ein Machtgewinn, indem das Unvorstellbare möglich wird, etwas nicht im Raum zu denken, sondern die Erschaffung des Raums selbst zu denken. Die Frage nach dem Ur-Sprung wäre endgültig aus dem Bereich von Mythos und Religion in die rationale Wissenschaft gelangt. Wo aber befindet sich in diesem Moment der Verstand, dem das möglich erscheint?

Für die Axiomatiker war die Frage klar. Sie sahen im Sprung und den daraus entstehenden neuen mathematischen Begriffen endlich die Möglichkeit, die Geometrie und den Raum zu verlassen. Und das war ihnen so wichtig, da sich die Angriffe der Philosophie darauf beriefen, die Mathematik habe sich unbemerkt auf Reste der geometrischen Anschauung und implizite mathematische Annahmen gestützt. Wenn es nun gelingt, die Geometrie vollständig aus tieferliegenden Axiomen abzuleiten, ist diesen Vorwürfen ein für alle Mal der Boden entzogen und die Freiheit der Mathematik gewährleistet.

Aber ist es überhaupt möglich, Symbole außerhalb von Raum und Zeit zu denken? Ist es möglich, sie innerhalb von Raum und Zeit zu denken? Welchen räumlichen Platz könnte z. B. die Zahl 4 haben? Sie liegt in einer klaren räumlichen Anschauung wie alle Zahlen auf der Zahlengerade. Und wo liegt die Zahlengerade? Allgemeiner: Welchen Raum nimmt der mathematische Raum ein? Genau auf diese Fragen stieß bereits Kant, als er die "Welt der Mathematik" und das "System der Natur" einander gegenüberstellte. Es ist die Frage, wie die Gegenstände der Mathematik und der Natur miteinander korrespondieren.

Das Rätsel der Symbole ist, dass sie die Schnittstelle bilden, wo sich die Objekte der Mathematik und der Natur ineinander verwandeln, ohne dadurch miteinander identisch zu werden. Schnell zeigt sich, dass es kein Zufall ist, dass die symbolische Mathematik entstand, als die Mathematik mit Symbolen des Unendlichen zu rechnen anfing.

Denn mit den Symbolen wird die Unendlichkeit doppelt angesprochen. Zum einen kann mit Symbolen das Unendliche dargestellt werden. Zum anderen sind die Symbole selbst unendlich und paradox, so dass ihre Eigenschaften klarer hervortraten, als mit dem Unendlichen zu rechnen begonnen wurde. Der Sprung von Endlichkeit zu Unendlichkeit ist auch innerhalb des Symbols gesetzt, indem das gleiche Symbol mal innerhalb der Welt der Mathematik als eine einzelne Größe, als ein einzelner Gegenstand angesehen wird, mit dem gerechnet werden kann, und dann wieder stellvertretend für die Gesamtheit aller Objekte im System der Natur, die durch das Symbol dargestellt werden sollen.

Mit dem Symbol ist immer die Vorstellung verbunden, dass es jederzeit den Sprung aus der Mathematik in die Natur verwirklichen soll. Wo in der Mathematik mit einem Symbol operiert wird, erscheint das Symbol als ein einzelner, endlicher Gegenstand, und es garantiert dadurch in diesem Moment die Gültigkeit des Eindeutigkeitsaxioms. Gleichzeitig soll aber das Ergebnis "allgemein-gültig" sein, d.h., es soll in unendlich vielen Anwendungen seine Gültigkeit bewahren. Das kann nur gehen, wenn in einem Sprung in die Wirklichkeit die begrenzte Bedeutung des Symbols als Zeichen innerhalb des vorgegebenen mathematischen Kalküls oder Axiomensystems negiert wird, zugleich aber die Ergebnisse der mathematischen Rechnung erhalten bleiben. Das Symbol wird also als "bloßes Symbol" negiert und bleibt doch insofern erhalten, als es sich in einen der unendlich vielen Anwendungsfälle der Wirklichkeit wandelt, für die die Eigenschaften gelten sollen, die für das Symbol innerhalb der Mathematik errechnet worden waren.

Allerdings handelt es sich hier nicht um eine Aufhebung, wenn mit Aufhebung ein linearer Prozeß der Höherentwicklung gemeint ist. Wenn der vom Symbol vermittelte Sprung aus der Mathematik in die Natur als Bewegung vom Höherem zu Niedrigerem gedacht wird, wobei als das "Höhere" ohne jede Wertung der höhere Abstraktionsgrad gemeint sein soll, führt er genau so gut von der Leere zur Fülle. Auch das wußte Kant. Ein symbolischer Geldschein verhilft zu keinerlei Reichtum, aber ohne die allgemein akzeptierte symbolische Kraft von Geldscheinen wäre der wirkliche Reichtum der bürgerlichen Wirtschaft auch nicht möglich.

Weit schwerer zu verstehen ist der Sprung in der anderen Richtung von der Natur in die Mathematik. Um ein mathematisches Symbol zu finden, ist von der Natur auszugehen. Die dort betrachteten realen Objekte müssen ihrerseits erhalten und negiert werden, wenn sie in Symbole verwandelt werden. Denn das Symbol ist etwas Neues, das als "bloßes Symbol" in der Natur nicht vorkommt, aber wesentliche Eigenschaften der Objekte erhält. Zugleich vernichtet es die Unendlichkeit der Natur, indem es sie auf endliche Symbole reduziert. Aber die Unendlichkeit soll mit dem Symbol in der Weise vernichtet werden, dass sie im Rücklauf wiederhergestellt werden kann. Die Dialektik des Symbols ist also nicht in einer einseitigen Richtung zu sehen, so wie Hegel etwa den Widerspruch von Quantität und Qualität im Maß aufhebt, sondern in der doppelseitigen Bewegung, dass Gegenstände aus der Natur so in Symbolen dargestellt werden, dass mit den Symbolen gerechnet werden kann und dann die Rechenergebnisse wieder auf die Gegenstände der Natur projiziert werden können.

Die dialektischen Tücken der Symbole gehen aber noch weiter. Symbole können die Aufgabe, die Natur so darzustellen, dass gerechnet werden kann, nur dann erfüllen, wenn sie im Ganzen zwischen dem System der Natur und der Welt der Mathematik vermitteln. Es würde also z.B. nichts bringen, lauter Gegenstände aus der Natur in der Form von Piktogrammen zu symbolisieren. Das kann in einzelnen Naturwissenschaften ein erster Schritt sein. So werden z.B. in der Chemie alle chemischen Elemente duch Buchstabenkombinationen wie "H" für Wasserstoff, "Pb" für Blei usw. symbolisiert. Wenn dann aber mit ihnen gerechnet werden soll, gehen auch diese Reste an Beziehungen zu konkreten Gegenständen in der Natur verloren. In einer mathematischen Gleichung tauchen nur noch Symbole wie "1", "2", "3" oder "x" und "y" auf, und die Ergebnisse (z.B. aus der linearen Algebra) sollen dann sowohl in der Chemie und dort für alle Elemente wie in allen anderen Wissenschaften gelten.

Symbole können nicht wie ein unbekannter Kontinent entdeckt oder als Lösung einer Rechnung gefunden werden, sondern müssen intuitiv erfaßt werden. Ihre Kenntnis hat insofern stark den Charakter einer Offenbarung. Durch den Anteil an Unbekanntem enthält jedes Symbol ein Geheimnis. Niemand kann wirklich wissen, was es noch verbirgt. Mit den Begriffen Offenbarung und Geheimnis wird sehr genau das bezeichnet, woran sich der Verstand stößt. Denn schon bei der Frage, was eigentlich Intuition ist, stößt er auf einen blinden Fleck, wo unklar ist, ob er im Moment der Intuition noch die Initiative hat oder nicht.

Wenn Symbole intuitiv eingeführt werden, steht immer eine unmittelbar anschauliche Vorstellung am Anfang. Insofern sind alle Symbole "erdgebunden". Aber im Moment der Symbolbildung kommt es zu einem Sprung, wo das Symbol für unendlich mehr stehen soll als das, was gerade wahrgenommen wurde und den Auslöser für die Idee gab, hier ein Symbol zu sehen. In dem Moment, wo die Eingebung erfolgt, ein Symbol vor sich zu haben, wird der Erdstandpunkt verlassen und die gesamte "Welt der Mathematik" zum Gegenstand. Das kann ein eigenartiges Hochgefühl, eine Art Rausch auslösen, da im Moment der Symbolbildung oder des Verstehens eines Symbols der Einzelne das überwältigende Gefühl hat, außer sich zu sein. Insofern wird es fast ein psychologisches Phänomen, das z.B. von C.G. Jung und W. Pauli diskutiert wurde, als die naturwissenschaftlichen Symbole mit den von Jung eingeführten Archetypen in Verbindung gebracht werden sollten.

Die Symbolbildung war seit der Renaissance das Werk einer ganzen Epoche, die mit der Entdeckung und den Möglichkeiten des Rechnens und Anwendens von Symbolen außer sich geriet. Nicht nur die Axiomatiker waren begeistert, dass sie nun endlich die Geometrie verlassen konnten und ihnen nie mehr einer sagen würde, zwischen den Zeilen ihrer Axiomensysteme hätten sich implizite Annahmen (oder gar Vorurteile) eingenistet.

Vielleicht ohne dass sie sich dessen bewußt waren, nahmen sie teil an einer gewaltigen Zeitströmung, die sich auf dem Gebiet der Philosophie am klarsten bei Hegel aussprach, aber genau so gut in der Industrialisierung und ihrer Maschinengläubigkeit, bei Marx, dem Materialismus des 19. Jahrhunderts und überhaupt allen Spielarten des grenzenlosen Optimismus. In Hegels Philosophie wird aus dem Sprung die Aufhebung, der sich keine Grenze widersetzen kann, bis selbst der Widerspruch von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Quantität und Qualität im Maß aufgehoben ist.

Mit äußerster Konseqenz leitet er die Grundeigenschaften des Raums aus der Natur des Begriffs ab und gibt so ein Vorbild, wie ein logischer Urknall aussehen kann. Konkret folgert er die Dreidimensionalität des Raums aus der Trinität des Begriffs (der sich in der Figur von These, Anti-These und Synthese entfaltet). "Die Notwendigkeit, dass der Raum gerade drei Dimensionen hat, zu deduzieren, ist an die Geometrie nicht zu fordern, insofern sie nicht eine philosophische Wissenschaft ist und ihren Gegenstand, den Raum mit seinen allgemeinen Bestimmungen, voraussetzen darf. Aber auch sonst wird an das Aufzeigen dieser Notwendigkeit nicht gedacht. Sie beruht auf der Natur des Begriffs, dessen Bestimmungen aber in dieser ersten Form des Außereinander, in der abstrakten Quantität, ganz nur oberflächlich und ein völlig leerer Unterschied sind." (Hegel, Naturphilosophie, Werke Bd. 9, s. 44)

(Sicherlich ist der Einwand nicht unbegründet, dass in Wahrheit der Dreischritt der Dialektik auf das Dogma der christlichen Trinität und insbesondere des Heiligen Geistes als ihres dritten Elements zurückgeht. Aber entgegen allen Vorwürfen des Idealismus war es für Hegel von zentraler Bedeutung, sich von der religiösen Tradition loszumachen und diese Ideen in Ergebnissen der Mathematik und Naturwissenschaft selbständig begründen zu können. Hierauf baut bereits in seiner Philosophie der überwältigende Optimismus, den Marx und Engels keineswegs gegen seine Intention durchsetzen mußten. Das Paradox liegt in seinem Konzept der Methode, die einerseits mit Ergebnissen der Naturwissenschaft und Mathematik begründet werden soll, dann aber andererseits der einzige Weg sein soll, um den Gegenstand von Mathematik und Naturwissenschaft zu erklären. Oder anders gesagt: Einerseits will er sich unter Berufung auf die Mathematik und die Naturwissenschaft von der Religion emanzipieren, andererseits nimmt die von ihm postulierte Vorrangstellung der philosophischen Methode gegenüber der Mathematik und Naturwissenschaft selbst religiöse Züge an.)

Der einmal geglückte Sprung öffnete den Horizont für den seither anhaltenden unglaublichen Fortschritt von Technik und Wissenschaft. Utopie gilt nicht mehr als Heilserwartung, sondern als Meilenstein in einem konkreten historischen Projekt. Wenn der Mensch einmal in Gedanken in die Unendlichkeit springen kann, was kann ihn dann hindern, auch in Wirklichkeit von der Erde in den Himmel zu springen? - Gerade unter Physikern tendieren viele dahin, regelrecht "Gott zu spielen". Glaubten erst die Mathematiker, die Entstehung ihres Raums aus den Axiomen ableiten zu können, glauben nun die Physiker, die Entstehung des wirklichen Raums nachkonstruieren zu können (Theorie vom Urknall). Hier wird endgültig das Rechnen mit Symbolen mit der Schöpfung der Gesamtheit der realen Dinge gleichgesetzt, die mit den Symbolen dargestellt werden. Die "Welt der Mathematik" gilt unmittelbar als das "System der Natur".

Marx band zusammen, was bei Hegel im Reich der ideellen Möglichkeiten, in England mit dem Aufbau ganzer Industrielandschaften und ihren ungeahnten Produktivkräften und bei den frühen Sozialisten als zwischenmenschliche Utopie in der Tradition eines aufgeklärten Christentums entstanden war. Mit seiner Kritik an Hegel wollte er die dort angelegten Fortschrittsimpulse entfesseln, und er war überzeugt, mit dem Übergang in das Reich der Wirklichkeit zugleich das Tor in das Reich der Freiheit aufzustoßen.

Spätestens, wo selbst Marx ausdrücklich von "Reichen" spricht, war trotz aller materialistischer Religionskritik unübersehbar, dass es um die religiöse Dimension der aktuellen Ereignisse ging. Von der Religion her argumentiert jedoch von Anfang an völlig entgegengesetzt Kierkegaard, der scharf die Maßlosigkeit und Vermessenheit der Hegelschen Philosophie zurückwies. In den 1844 erschienenen "Philosophischen Brocken" geht er direkt auf den Begriff Sprung. Mit ihm ist der Anspruch verbunden, dass der Verstand Transzendenz nicht nur negativ als Jenseitiges denken, sondern den Sprung selbst vollführen kann. In Kierkegaards Sicht führt der Sprung aber nur zum Anstoß und für ihn stellt sich eher die Frage, warum das Denken trotz aller Mißerfolge immer wieder den Sprung wagt.

"Und so ist es auch des Verstandes höchste Leidenschaft, den Anstoß zu wollen, obgleich der Anstoß auf die eine oder andere Art sein Untergang werden muß. Dies ist also das höchste Paradox des Denkens, etwas zu entdecken, was es selbst nicht denken kann." (Kierkegaard, Philosophische Brocken, S.36) "Aber Konsequenzen, die auf dies Paradox gebaut sind, sind ja, menschlich gesprochen, auf dem Abgrund erbaut, und der Totalgehalt der Konsequenzen, der dem Einzelnen nur unter der Übereinkunft übergeben wird, dass er kraft eines Paradoxes geschehe, ist ja nicht hinzunehmen wie ein unberührbares Gut, da das Ganze schwebend ist." (ebd., S. 89)

Im Grunde gibt Kierkegaard den Vorwurf (und vielleicht die Arroganz) der Philosophie gegenüber der Mathematik an diese zurück. So wie die Philosophen überzeugt waren, die Mathematiker hätten etwas entdeckt, was sie nicht "denken" können und wozu es der Philosophie bedarf, stellt Kierkegaard ihnen die Frage, ob sie nicht selber etwas in der Mathematik entdeckt haben wollen, was sie dann auch nicht "denken" können. Das lässt sich beliebig konkretisieren: So ist an Marx die Frage zu stellen, ob er nicht mit dem Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit, der nach und mit den Gesetzen der Notwendigkeit erfolgen soll, etwas Paradoxes entdeckt hat, was sich dann doch nicht denken und verwirklichen lässt. Oder die Physik des 20. Jahrhunderts: Ständig entdeckt sie in der Natur Eigenschaften und Teilchen, die sich nicht finden, nachweisen und protokollieren lassen. Ganz zu schweigen von den Paradoxen der Logik.

Diese Gegenposition ist natürlich zunächst ebenso abstrakt und daher "fraglich" wie der von Hegel begründete Optimismus. Aber zweifellos hat Kierkegaard richtig gesehen, wie mit der neuen Begeisterung über das absolute Wissen bei Hegel, über die absolute Kraftentwicklung durch neue Maschinen, die absolute Wende in der Geschichte durch den Marxismus und schließlich die absolute Freiheit in der Mathematik keineswegs die Religion überwunden war, sondern nur ein neues religiöses Denken entstand. Und gerade weil es sich dessen nicht bewußt war, droht ein gewaltiger Umschlag.

Kierkegaard stand ziemlich am Anfang dieser Entwicklung und es ist bestimmt kein Nachteil, dass er sich so konsequent wie möglich auf religiöse Begriffe beschränkt. Woher kommen die Symbole und die Macht des Unendlichen, mit denen operiert werden soll? Im ersten Rausch ist der Verstand der Überzeugung, hier habe sich seine eigene absolute Kraft gezeigt. Erst in der weiteren Entwicklung treten auf allen Gebieten die inneren Paradoxa auf, der Verstand erleidet den "Anstoß" und nachdem er einmal den Boden unter den Füßen aufgegeben hat, wird es schwer, ihn wieder zurückzugewinnen.

Das soll nicht heißen, die Geschichte wieder zurückzudrehen, sondern sich bewußter zu machen, was bei der Entstehung von Symbolen geschieht. Wenn es dabei immer einen Anteil von Offenbarung gibt, einen Anteil, der nur mit religiösen Vorstellungen wahrgenommen werden kann, hat das auf jeden Fall zwei Folgen: Mit diesen Symbolen ist vorsichtig zu arbeiten, und sie sind immer neu nach den in ihnen enthaltenen Geheimnissen zu befragen. Genau entgegengesetzt zu der Befürchtung der Axiomatiker ist die Entdeckung impliziter Annahmen und noch unverstandener Strukturen keine Schwäche, sondern im Gegenteil der Weg für die weiteren grundlegenden Erkenntnisse. Darauf soll im nächsten Abschnitt weiter eingegangen werden.

Kierkegaard sah eine echte Gefahr und einiges davon hat sich inzwischen verwirklicht. Ein Jahrhundert nach ihm hat Arendt seine Kritik unter dem Eindruck der politischen und sozialen Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu aufgenommen.

"Schon in diesen bereits atemberaubenden Anfängen der modernen Mathematik (bei Newton, w.t.) war das erstaunliche menschliche Vermögen entdeckt, vermöge einer abstrakten Symbolsprache sich der Dimensionen und Horizonte zu bemächtigen, die für alle früheren Zeiten Grenzphänomene waren, von denen man sich bestenfalls im Begriff der Negation und Negativität eine Vorstellung machen konnte." (Ahrendt, Vita activa, S. 259)

Und weiter, den Gedankengang bei Arendt genau umkehrend:

"Dies wird vielleicht am deutlichsten in der Entwicklung der für den Gang der neuen Wissenschaften wichtigsten Methode, der Ausarbeitung algebraischer Möglichkeiten, durch die es der Mathematik gelang, sich von den Fesseln räumlicher Vorstellungen zu befreien, nämlich von der Geo-metrie, die, wie der Name bereits anzeigt, von Maßstäben und Berechnungen abhängig bleibt, die nur für Erdverhältnisse Gültigkeit haben. Die moderne Mathematik hat den Menschen von den Fesseln erdgebundener Erfahrung befreit und damit das menschliche Erkenntnisvermögen von den Fesseln der Endlichkeit.

Entscheidend hierbei ist nicht, dass man noch zu Beginn der Neuzeit mit Platon annahm, dass die Strukturen des Universums mathematisch erfaßbar sind, und auch nicht, dass man eine Generation später mit Descartes eine gesicherte Erkenntnis nur da für möglich hielt, wo der Verstand sich im Felde seiner eigenen Erkenntnisformen und Begriffe bewegt. Ausschlaggebend war die durchaus unplatonische, algebraische Behandlung der Geometrie, in der sich bereits das neuzeitliche Ideal ausspricht, von irdisch gegebenen Sinnesdaten zu abstrahieren und sie auf mathematische Formeln zu reduzieren. Ohne eine solche, räumlich nicht mehr gebundene Symbolsprache hätte Newton nicht vermocht, Astronomie und Physik in eine einzige Wissenschaft zusammenzufassen." (Ahrendt, Vita activa, S. 258f)

Ausgehend von den Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann sie wesentlich genauer auf die Anfänge der modernen Wissenschaft zurückblicken. Im Gegensatz zu den meisten Philosophen hat sie auch keine Scheu zu versuchen, sich in das Denken und die inneren Gefühle der Wissenschaftler hinein zu versetzen. Diese Haltung teilt sie mit Kierkegaard.

Dann aber geht sie viel zu weit und glaubt den Wissenschaftlern zu sehr aufs Wort, als sei es ihnen wirklich gelungen, sich mit einer neuen Symbolsprache des Unendlichen zu "bemächtigen", die Geometrie (und damit den Erdstandpunkt) zu verlassen und in das Reich der reinen Algebra zu gelangen. Hatten anfangs die großen Erfolge zur maßlosen Selbstüberschätzung geführt, zeigt sich hier im anderen Extrem die Gefahr, aus den großen Katastrophen nochmals die Selbstüberschätzung zu bestätigen. Der Ausweg wäre dann nur die Endkatastrophe oder der freiwillige Verzicht auf das weitere Arbeiten mit den einmal gewonnenen Symbolsystemen, was bestenfalls einer Elite das Überleben garantieren würde.

Literaturhinweise

© tydecks.info 2002